Deutschland, 27 Februar 2050
„Wieso schläft sie denn noch? Wacht sie wieder auf?"
„Keine Sorge, sie wird wieder aufwachen."
„Mami ist auch nicht wieder aufgewacht."
„Alles ist gut, Süße. Sie wacht wieder auf. Sie kommt zurück zu uns." die Stimme wurde leiser, näherte sich mir. „Bitte, bitte komm zurück zu mir."
Wo war ich? Woher kam diese Stimme. Ich wollte die Augen öffnen, aber ich hatte kein Gefühl für meinen Körper. Ich fühlte mich völlig taub. Ich hatte Angst, eine alles ausfüllende Angst. Ich wollte etwas sehen, etwas fühlen!
„Schau mal, Ginger. Wieso weint sie?"
Weinte ich? Jetzt konnte ich wirklich heiße Tränen auf meinen Wangen fühlen. Erleichterung durchflutete mich. Es war ein Gefühl, das mir zeigte, dass ich noch existierte, dass mein Körper noch existierte.
Eine sanfte Berührung auf meiner Wange fing meine Tränen auf.
„Kassie? Kleines, komm zurück zu mir."
Ginger. Er war hier, er war bei mir. Erneut versuchte ich meine Augen zu öffnen. Es war furchtbar anstrengend. Es fühlte sich an, wie das schwerste, was ich je in meinem Leben schaffen musste.
Als das Licht meine Augen traf, musste ich heftig blinzeln. Es war nicht hell, aber es reichte um meine Augen zu reizen.
„Kassie!", riefen zwei paar Stimmen. Aber ich schaffte es noch nicht mich zu orientieren. Woher kamen die Stimmen?
Endlich konnte ich scharf stellen. Das erste was ich sah, war ein paar graue Augen, dunkle Haare, die ein blasses Gesicht einrahmten.
„G-Ginger?", brachte ich krächzend heraus. Meine Stimme fühlte sich komisch an. Als hätte ich verlernt, wie man sie gebrauchte.
„Oh Gott, Kassie! Kassie!" Er zog mich hoch in seinen Arm und augenblicklich strömte jedes Gefühl in meinen Körper zurück. Ich stöhnte auf.
„Entschuldige, ich wollte dir nicht weh tun!"
„S-schon gut.", stammelte ich und versuchte mich an einem Lächeln. Ich wollte nicht, dass er mich los ließ. Ich wollte, dass er mich für immer hielt. Ich fühlte mich so sicher in seinem Arm.
Mein Blick wanderte weiter und traf auf ein paar verängstigter blauer Augen. „Bist du okay?", fragte Alli ängstlich. Ich lächelte und streckte die Hand aus um durch ihr blondes Haar zu fahren, das inzwischen sehr zottelig war.
„Alles ist gut. Ich lass dich doch nicht einfach alleine, das weißt du doch."
Ein vorsichtiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie rückte ein Stück näher um sich sehr behutsam an meine Brust zu schmiegen. Ich legte einen Arm um sie, sah hoch zu Ginger. Er lächelte, fuhr durch mein Haar.
Einen Moment saßen wir nur so da, ich genoss das Gefühl, die beiden so nah bei mir zu haben. Zu wissen, dass ich noch lebte. Meine Gedanken fuhren immer noch Achterbahn, ich schaffte es nicht sie darauf zu fokussieren, was passiert war. Aber die Erinnerung würde kommen, ich war mir sicher. Und sie würde auch nicht unbedingt schön sein.
Diesen einen Moment wollte ich genießen.„Lässt du uns einen Moment allein, Süße?", fragte Ginger an Alli gewandt. „Geh doch zu Zed rüber, was meinst du?"
Sie nickte eifrig und schnappte sich Pug, der neben ihr auf dem Boden gelegen hatte. „Wir zaubern ihm ein Lächeln ins Gesicht!", verkündete sie und hüpfte davon. Sie hatte ihre Fröhlichkeit nicht verloren und das machte mich unheimlich glücklich.
Als sie außer Hörweite sah, setzte ich mich auf um Ginger ins Gesicht sehen zu können. Das erste was mir auf fiel, war, das etwas fehlte. „Was ist mit deinen Tattoos?" Irritiert fuhr ich über seinen nackten Arm, seinen Nacken. Die meisten Stellen seiner Haut waren immer mit kleineren und größeren Tattoos übersäht gewesen. Zeichen und Runen, die ich nicht verstand, von denen ich aber inzwischen wusste, dass sie im die Möglichkeit boten auf all seine Erinnerungen zuzugreifen.
Jetzt waren sie weg, seine Haut war völlig rein.
Er legte den Kopf schief, schob meine Hand zurück. „Vielleicht sollten wir uns erst darüber unterhalten, was passiert ist. An was du dich erinnerst."
Ich seufzte und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen um mir ein paar Minuten zu erkaufen. Wir waren zurück in dem Büroraum, in dem wir unser Nachtlager aufgeschlagen hatten. Zed und Alli waren auf der anderen Seite des Raumes, aber von Poke und Inger keine Spur.
„Ich weiß noch, dass wir Alli gesucht haben.", begann ich langsam. Ginger ließ mir die Zeit, die ich brauchte, hetzte mich nicht.
„Ich hatte schon in zwei Stockwerken nach ihr gesucht, glaube ich. Aber ich konnte sie nicht finden. Ich hatte solche Angst, sie könnte abgestürzt sein. Oder es hätte immer noch passieren können, während wir alle auf der Suche waren. Deswegen habe ich Meyro um Hilfe gebeten."
„Wie genau sollte er die helfen?", hakte Ginger sanft nach.
„Gravar, also auch er und damit auch ich, ist in der Lage das Leben zu spüren. Ich hab so nach ihr gesucht. Das ist ein bisschen kompliziert. Was zählt, ist, dass ich sie spüren konnte. Über mir. Und da war noch etwas... jemand." Ich brach ab. Das Gesicht eine Mannes mit verfilzten Haaren schoss mir in den Kopf.
„Wieso bist du nicht einfach nach unten gekommen und hast uns geholt." Ginger klang mehr besorgt als verärgert. Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Ich hab nicht daran gedacht. Alles was ich denken konnte war, dass sie ganz alleine dort oben war. Und dass jemand Fremdes bei ihr war."
„Du bist hoch gegangen.", fuhr Ginger für mich fort, als ich einige Minuten lang nicht gesprochen hatte, nur ins Leere gestarrt hatte.
„Ja. Ich bin hoch gegangen." Ich schloss die Augen, versuchte die Bilder zu verarbeiten, die mir durch den Kopf schossen. „Sie war da. Mit diesem Mann. Und er hatte eine Waffe dabei. Er hat versucht sie dazu zu bringen ihm etwas über uns zu verraten."
„Ich schätze er wollte uns umringen um unsere Vorräte zu stehlen."
„Vielleicht. Vielleicht wollte er sie auch einfach nur stehlen. Aber irgendwie... Eskalierte es dann. Ich musste Alli doch irgendwie in Sicherheit bringen. Ich hatte gehofft, wenn ich ihn nur anfassen könnte, hätte ich ihn mit Meyros Hilfe außer Gefecht setzten köönnen."
„Aber du kamst nicht an ihn heran?", Ginger fuhr beruhigend mit seinen Fingern über meinen Handrücken. Erst da bemerkte ich, dass mein Atem begann schwerer zu gehen.
„Doch, das konnte ich.", meine Stimme war schriller geworden, panischer. Ich wollte nicht dorthin zurück, in diesen Raum und zu diesen Erinnerungen. „Aber es hat nicht gereicht. Ich hatte nicht mehr die Kraft. Und dann wollte er sie erschießen. Oh Gott, er wollte sie umbringen. Oh Gott!"
„Aber er hat es nicht getan, alles ist gut. Er hat nicht geschossen.", versuchte Ginger mich zu beruhigen.
„Du verstehst es nicht! Er hat geschossen. Ich weiß nicht was es war. Meine Angst oder meine Wut, Meyro meinte einmal, meine Gefühle beeinflussen ihn und seine Macht. Ich könnte sie dadurch kontrollieren und nutzen. Genau das hab ich getan. Ich kann dir nicht sagen wie, ich versteh das alles ja selbst kaum. Aber ich konnte die Kugel verlangsamen, sie aufhalten und dann..." Ich brach ab. Bruchstückhaft kamen Erinnerungen in mir hoch. Das Gravar, das Rot aus meinen Händen tropfte. Das Rot, das den Mann einschloss und seine Schreie, als es ihn erreichten. Und danach? Ich erinnerte mich noch weggekippt zu sein. War Ginger da?
„Was ist dann passiert?", wollte ich wissen.
Ginger zögerte. „Ich glaube, du bist gestorben, du warst schon fast auf der anderen Seite.
Mir blieb die Luft weg. War das wirklich passiert? Hatte ich soviel von Meyros Macht gebraucht?
Und überhaupt- Meyro?, fragte ich still in meinem Inneren. Irgendetwas war anders. Irgendetwas fühlte sich anders an.
„Ich wusste nicht ob es funktioniert, aber ich habe alles was ich hatte, versucht dir zu geben."
„Das Lymra?", fragte ich erstaunt. Er nickte. „Aber ich weiß nicht, wie das alles dich noch verändert hat." Er klang so verzweifelt.
„Was meinst du?"
Er zog eine meiner Haarsträhnen über meine Schulter, zwirbelte sie zwischen den Fingern und hielt sie so hoch, dass ich sie gut sehen konnte. Sie hatte die tiefe dunkle Farbe von Blut. Erschrocken zuckte ich zurück, schüttelte mein Haar nach vorne um es genau betrachten zu können.
„Es ist passiert als du dort lagst. In der roten Pfütze."
Ich erinnerte mich daran, wie das Gravar meine Haare durchtränkt hatte, ein Teil meines Gesichtes, meine linkte Körperhälfte.
„Das Gravar hat dich gezeichnet. Und ich, ich vermutlich auch." Ginger klang so gequält. „Möchtest du es sehen?"
Zaghaft nickte ich und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen. Er führte mich in einen der angrenzenden Räume, ein ehemaliges Bad, an dessen Wand große, teils zerbrochene Spiegel hingen.
Mir stockte der Atem bei meinem Anblick. Feine schwarze Linien überzogen meine linke Gesichtshälfte, wanderten meinen Hals hinab und verschwanden unter meinem T-Shirt. Ich zog es hoch um ihnen mit den Augen folgen zu können. Sie wanderten über meine Haut, überall dort, wo ich mit dem Rot in Kontakt gekommen sein musste. Bei genauem hinsehen, erkannte ich, dass es nicht einfach Linien waren, sondern sehr feine Schriftzeichen, die ich nicht lesen konnte. Als ich mich nah an den Spiegel beugte und mir selbst in die Augen sah, bemerkte ich erst die kleinen lila Sprenkel, die meine Iris nun zierten. Sie sahen ähnlich aus, wie die Linien, die ich durch Gingers Augen hatte laufen sehen.
„Das Gravar hat die Zeichen gemalt, aber ich habe sie dir gegeben." Ich verstand nicht wovon Ginger sprach. „Ich hab alles auf dich übertragen. Das Lymra. Meine Erinnerungen. Sie stecken in diesen Zeichen auf deiner Haut."
„Warte mal, wenn du meinst du hast alles auf mich übertragen...?", hieß es das, was ich vermutete.
„Ja, vermutlich bin ich nicht mehr unsterblich."
Erschrocken sah ich ihn an. „A-aber warum?"
Es war das erste mal, dass er nicht gequält aussah, sonder völlig mit sich im Reinen. „Ein einsames, ewiges Leben war ein geringer Preis für dein Leben."
Ich schmiegte mich an seine Brust. War ich wirklich gestorben?
„Ich glaube, ich war da. Beim Lymra. Da war eine riesige Höhle und sie war von diesem hellen Kristall durchzogen..."
„Ich dachte im ersten Moment, es könnte nicht funktionieren. Es sah so aus, als wolle das Lymra dich nicht heilen."
Ich zögerte. Da war noch etwas, eine Erinnerung aus der Höhle... „Meyro?"
Er ist dort gewesen. Und mit einem Mal wusste ich, wo das komische Gefühl in meinem Inneren her kam. Ich fühlte mich, als würde ein Teil von mir fehlen. „Er ist weg, Ginger. Meyro ist nicht mehr da."Innerhalb einer Stunde hatte sich schon wieder so viel geändert, unser Leben hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht. Nicht nur, dass das Gravar aus meinem Inneren verschwunden war und Meyro mit ihm. Ginger war nicht mehr unsterblich, hatte die Fähigkeiten verloren, die das Lymra ihm verliehen hatte. Was ich jedoch am schrecklichsten fand, war, dass er damit auch die Möglichkeit verloren hatte, sich an seine Vergangenheit zu erinnern. Er sagte mir, dass er wusste woher er kam, wer er tief in seinen Wurzeln war, dass er sich auch an Bruchstücke seiner vielen Leben erinnerte und spüren konnte, dass seine erlernten Fähigkeiten ihn nicht verlassen hatten. Aber er konnte sich das Gesicht seiner Eltern oder seines Bruders nie wieder lebendig in Erinnerung rufen. Er war jetzt einfach ein Mensch (mit dem Unterschied, dass sein Blut blau war), der altern und sterben würde.
Ich erfuhr, dass ich zwei Tage ohnmächtig gewesen war. Ginger erklärte mir, dass es die Zeit gewesen war, in der mein Geist auf der Suche nach meinem Körper gewesen war. Starb man, während man mit dem Lymra verbunden war, so ging dein Geist völlig darin auf, während es deinen Körper heilte. Den Weg zurück zu finden lag jedoch an dir selbst.
Ich erinnerte mich wieder daran, dass ich durch dunkle Tunnel geirrt war, ich erinnerte mich an die Höhle. Ginger erzählte mir, dass es wie ein Labyrinth war. Und man musste den weißen See finden um zurück zu kehren. Nach Jahr tausenden hatte er zuletzt nur ein paar Wimpernschläge gebraucht um den Weg zu finden.
Mit den Stunden kamen sämtliche meiner Erinnerungen zurück und ich erinnerte mich mich auch daran, dass Meyro dort gewesen war. An das, was er mir erzählt hatte. Er hatte mich verlassen, damit ich zurückkehren konnte. Und er hatte sich dazu entschlossen uns zu helfen und nicht seiner Rasse.„Der nächste Sturm wird eine Eiszeit sein. Und wie es scheint haben wir nicht viel Zeit. Meyro sagte mir, dass wir los müssen, sobald das Wasser gefroren ist. Wir müssen zurück an den Anfang und die Höhle finden."
Wir alle saßen in unserem Büroraum. Poke hatte sich auf einem Schreibtisch nieder gelassen, Inger lehnte ein Stück entfernt an der Wand. Zed saß auf dem Boden, die Knie überschlagen und hatten den Kopf leicht schief gelegt, während er mir lauschte. Ginger saß auf einem Stuhl direkt daneben. Ich saß so, dass ich alle ansehen konnte, Alli zwischen meinen Beinen. Sie starrte angestrengt zu mir auf und versuchte alles zu verstehen, wovon ich sprach.
„Dann lagen wir mit unserer Vermutung richtig.", stellte Zed fest. „Es hängt mit dem Ort an dem die Windräder standen zusammen. Das Lymra muss dort zu finden sein."
„Ganz sicher ist es dort zu finden.", mischte Poke sich ein. „Inger und ich haben eine Weile darüber geredet. Wir haben von einem geheimen Forschungsprojekt der Regierung gehört. Mehr darüber zu erfahren gehörte nicht zu Duce Acanos Aufgabe. Wir sollte die Forschungseinrichtung nur geheim halten."
Plötzlich ging mir ein Licht auf. „Darum der ganze Wirbel? Als es begann, meine ich und die ganze Umgebung um die Windräder gesperrt wurde."
Poke nickte und warf Inger einen kurzen Blick zu. Dem schien es nicht so leicht zu fallen alle Geheiminsse preis zu geben, denn er schwieg verbissen. Also seufzte Poke und fuhr fort. „Wir mussten davon ausgehen, dass es ein Angriff auf die Forschungseinrichtung war."
„Aber warum denn, es waren doch die Windräder, die zerstört wurden...", warf Zed kritisch ein.
„Genau darum. Eines der Windräder wurde genau über dem Eingang gebaut. Eine perfekte Tarnung. Und nach allem was wir wissen wurde dort eine unerschöpfliche Energiequelle gefunden."
Ginger nickte. „Hätte man herausgefunden, wie man Energie aus dem Lymra ziehen kann, hätte man die Energie nutzen können, ohne die Quelle sofort offen zu legen. Sicher sollte es so aussehen, als stamme der gewonnene Strom von den Windrädern. In Zeiten politischer Unruhen sicher keine schlechte Idee."
Dunkel konnte ich mich daran erinnern, wie die Windräder gebaut worden waren. Es musste jetzt vielleicht zehn oder zwölf Jahre her sein. Ich konnte nicht älter als acht gewesen sein. Jeden Tag mit dem Bus in die Schule hatte ich beobachten können, wie die Stahlungetüme wuchsen und wuchsen. „Wenn die Menschen jetzt aber schon so lange an dem Lymra forschen, wieso dann erst jetzt die Apokalyspe?"
Ginger richtete sich ein Stück auf.
„Auf meinem Planeten hat es auch nicht sofort begonnen. Wir nutzen die Kraft des Lymras schon seit Jahrtausenden, bevor das Gravar meine Welt zerstörte."
„Gab es einen Auslöser? Einen Grund für das Gravar so plötzlich anzugreifen?", wollte Zed wissen. Ginger seufzte tief.
„Es wird wohl Zeit meine Geschichte zu Ende zu erzählen, bevor ich alles vergessen habe.
„Es war am Tag des Sonnenfestes, des letzten Tages im Jahr im Kalender der Créeten..."
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2050 - Rule one
Science-Fiction- Schwer atmend hielt ich in einer Querstraße zu seiner Wohung an und keuchte: "Da ist es." Zed beugte sich vor (kein Stück aus der Puste übrigens) und zog sogleich den Kopf wieder zurück. "Oh shit!" "Was?!" Ich sah jetzt meinerseits um die Ecke und...