Rote Farbe

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Deutschland, 06. Januar 2050

Zed zog eine schwere Metalltür auf und ließ mich an sich vorbei eintreten. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber sicher nicht das Außmaß der Zerstörung. Von außen sah das ganze nämlich sehr intakt aus.
Schon die weite Halle vor uns konnte man nicht ohne Schwierigkeiten durchqueren. Metallteile, Kabel und Röhre waren von der Decke gefallen und bedeckten nun den Boden.
Zed ging voraus und ich folgte ihm. Wir durchquerten die Halle und traten duch einen Bogen in einen Gang. Langgestreckt führte er uns auf die andere Seite des Wasserspeichers. Die Luft wurde feuchter.
Am Ende des Ganges traten wir auf eine Art Balkon. Das Metallgitter unter unseren Füßen ächzte protestierend und beim Anblick in die Tiefe wurde mit schwindelig.
Einige Meter unter uns lag still und schwarz die Wasseroberfläche. Turbinen und Stege ragten hier und da heraus.
Wir wandten uns nach links, folgten einem Steg, der an der Wand des Beckens entlang verlief. Fast auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Tür.
Wir betraten einen kleinen Raum. Ein Schreibtisch und mehrere Monitore bedeckten die Wand neben der Tür, ein zerkratztes Sofa stand auf der anderen Seite. Das hier musste eine Art Kontrollraum sein, doch nun waren die Monitore schwarz.
Auf dem Sofa machte ich einige Decken aus und erstaunt vernahm ich ein leises Brummen, das von einem kleinen Kühlschrank in der Ecke herrührte. Wenige Sachen, die sicher alle Zed gehörten, lagen im Raum verteilt. Bevor ich mir aber eines der merkwürdigen Gerätschaften näher ansehen konnte, stopfte Zed sie in einen Rucksack und bedachte mich mit einem finsteren Blick. "Fass das nicht an."
"Ach und gucken ist auch verboten?", grummelte ich leise.
"Ja, allerdings."
Arschgeige. Vom Angucken ging das Zeug ja wohl sicher nicht kaputt.
Zed deutete auf eine weiße Tür, die mir bisher entgangen war. "Da ist ein Bad, gibt nur kaltes Wasser. Hier." Er hielt mir ein Handtuch und einen dicken langen Pulli hin. "Was besseres kann ich dir im Moment nicht bieten."
Gott, hatte der mal wieder eine scheiß Laune. Konnte ich etwa was dafür?
Ich schnappte mir die Sachen und verschwand in dem kleinen Bad. Der Take Down hatte nichts an der Qualität der Sanitäreinrichtungen verändert. Der Raum war sauber und auch das Wasser, das aus dem Duschkopf schoss.
Ich schloss die Tür ab, zog meinen Parker aus und hängte ihn auf einen Kleiderbügel. Pulli und Hose folgten.
Auf dem Waschbeckenrand fand ich ein Duschgel und Männershampo. Ich nahm beides und wusch mich so schnell es ging unter dem kalten Strahl. Anschließend rubbelte ich meine Haut mit dem Handtuch ab, bis sie rot war und versuchte so viel Wasser wie möglich aus meinen zotteligen Strähnen zu saugen.
BH und Unterhose zog ich gezwungener Maßen wieder an. Nicht optimal, aber ohne Unterwäsche würde ich diesen Raum unter keinen Umständen verlassen. Man wusste ja nie.
Im Fall des Falles schützt dich das bisschen Stoff auch nicht.
Ach halt doch die Klappe, du scheiß Gedankenstimme.
Der schwarze Kapuzenpulli reichte mir bis zur Mitte der Oberschänkel. Ich fuhr leicht über den Stoff meiner Hose und stellte fest, dass er immer noch klitschnass war. Dann musste es eben so gehen.
Als ich in den Überwachungsraum zurückkehrte, saß Zed an einem Schreibtisch und ein Monitor vor ihm leuchtete. "Ich dachte, hier ist alles tot.", stellte ich fest.
"Hab nen kleinen Generator zum Laufen gebracht.", erläuterte Zed und warf mir einen kurzen Blick zu.
Als ich neugierig einen Blick über seine Schulter warf, öffnete er schnell ein anderes Fenster. Offensichtlich sollte ich auch hier etwas nicht sehen. In dem Internetbrwoser, den er geöffnet hatte, war nur ein Tab offen. Die Seite eines Nachrichtensenders. Meine Augen flogen über den Text.
"Das Beben hat inzwischen die Grenzen des NdV und der Südeuropäischen Republik überquert. Es ist unerklärlich, wie ein so starkes Beben den gesamten Kontinet Europa fast zeitgleich erschüttern konnte. Zusammen mit dem Sturm kam es zu unübersehbaren Schäden.", laß ich leise. "Teile der Hochspannungsleitungen sind betroffen und schneiden ganze Regionen von Strom und Netz ab. Eine Kriesensitzung wurde einberufen, aber selbst der Katastrophenschutz scheint überfordert."
"Es wird sich ausbreiten, nicht wahr?", fragte ich Zed leise. "Genau wie der Take Down."
"Ja, das ist anzunehmen."
"Ich raff das alles nicht. Sowas ist unmöglich. Naja, dachte ich zumindest. Wie, Zed? Wie?"
Er schwieg und frustiriert wandte ich mich ab. "Du kannst mich nicht ewig im Dunkeln lassen. Ich bin nicht blöd, weißt du? Ich denke mir meinen Teil. Warum fängt es mit Windrädern an und geht mit einer Naturkatastrophe weiter? Das passt doch nicht zusammen."
"Zeig mir deinen Arm, ich will sehen, wie es heilt."
Das war jetzt nicht sein Ernst, oder? Er ignorierte was ich sagte, wollte einfach ablenken!
"Nein! Antworte. Mir. Endlich!", ich betonte jedes Wort und das letzte schrie ich. Ich hatte es satt. Ich saß hüfttief in dieser Scheiße mit drin, ich wollte endlich meine Antworten!
Zed war aufgestanden und bemühte sich sichtlich um Selbstbeherrschung. "Du kannst das nicht verstehen."
"Versuch es doch!", keifte ich zurück.
"Hör auf, Kassandra, ich warne dich! Du bist ein Kind, du kannst das nicht verstehen!"
Die ganzen aufgestauten Emotionen brachen jetzt als Wut aus mir heraus. "Leck mich! Du hast gesagt du gibst mir Antworten! Du hast gesagt, dass du mir hilfst, aber du tutst nichts davon, NICHTS! Du lässt mich doch absichtlich im Dunkeln, dir ist es doch scheiß egal, ich bin dir nur lästig!"
"Stimmt, ja das bist du!", er schrie jetzt auch.
"Hätt dich doch ein scheiß Baum erschlagen!" Warum war ich überhaupt hier? Ich sollte nach Hause, ich sollte Millie und Phil suchen. Ich stürmte zur Tür, aber er packte mich blitzschnell.
"Du bleibst!"
"Lass mich los, du Wichser! Ich bin dir lästig, aber gehen darf ich auch nicht. Ich lass mich nicht von dir für irgendeinen Scheiß benutzen. Du hast mich doch nur aus Eigennutzen mitgenommen!" Mit meiner freien Hand schlug ich zu. Ich hatte noch nie jemanden geschlagen, zumindest nicht so. Meine Knöchel schmerzten verrückt, aber die Befriedigung, das Blut aus Zeds Nase laufen zu sehen, machte das allemal wett.
Er stieß mich so heftig zurück, dass ich auf dem Arsch landete und mit dem Kopf auf der Armlehne des Sofas aufschlug. Mir wurde kurz schwarz vor Augen, aber das bisschen Polsterung hatte wohl das gröbste verhindert.
Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen verschwand Zed im Badezimmer. Zeit für mich zu gehen. Nur dumm, dass ich ohne Hose und Schuhe da stand. Toll, wirklich toll.
Also entschloss ich mich lieber ein bisschen zu stöbern, während Zed über dem Waschbecken hing.
Ich öffnete am Computer das Fenster, das Zed zuvor vor mir versteckt hatte. Sah aus wie irgendein Kommunikationskanal. Nur das ich weder die Zahlen noch Wörter verstand. Da benutzte wohl jemand eine Verschlüsselung, war ja alles suuuper geheim.
Dafür fand ich eine Tabelle, die für mich aussah, wie die Auswertungstabelle von Radioaktivitätsmessungen. Sie war mit Gravar-Energie betitelt.
Ich öffnete eine angehängte Datei. Sah aus wie ein Sattelitenbild. Es zeigte unsere Region und war wohl vor ein paar Tagen entstanden. Das Bild war schwarzweiß und Felckenweise sah man rote Flächen. Ich beugte mich vor. Genau dort, wo die Windräder gestanden hatten, waren die Flecken dunkelrot. Dort, wo die Farbe helle und die Fläche länglich war mussten die Reste der Windräder liegen. Ich zoomte mit dem Mausrad näher ran. Tatsächlich. Und ein Stück weiter drüben war noch ein kleiner Fleck. Er war so dunkelrot, dass er schon fast schwarz wirkte. Genau an der Stelle hatte der Flügel gesteckt und auf dem Bild war er auch immernoch da.
Ich fand noch eine weitere Datei. Sie enthielt mehrere Bilder - Zeitrafferaufnahmen - die je ein anderen Teil der Erde zeigten. Verscheidene Satteliten mussten sie zeitgleich aufgenommen haben.
Ich spielte die Aufnhame ab. Es begann dort, wo ich unsere Region vermutete. Die roten Flecken waren schon da. Es sah aus, als hätte man einen Stein in einen See geworfen. Kreisförmig tauchten immer neue Flecken auf, es breitete sich auf der ganzen Erde aus. Der völlige Take Down. Jeder rote Punkt ist ein umgestürztes Windrad.
Ein Icon ploppte am Bildschirmrand auf. Zed hatte wohl eine neue Nachricht in seinem super geheimnen Chatroom bekommen. Ungeniert klickte ich darauf. "NA S.304 Live."
'Live' war das einzige Wort, das ich verstand. Was der Rest sollte - keine Ahnung. Mit der Nachricht war ein Video angekommen (anscheinend Live). Es war wieder eine Sattelitenaufnahme der Erde. Ein dunkelroter Fleck in der Mitte, dort wo Frankreich war. Von Frankreich aus war die gesamte eurpäische Landmasse hellrot gefärbt, nur ganz außen lief ein dunkler roter Ring langsam weiter und weiter von dem Mittelpunkt fort.
Er überzog Afrika und Asien, ließ hellrote Schlieren zurück und verschwand, wenn er das Meer berührte. Aber sobald sich wieder eine Landmasse erhob, tauchte er wieder auf.
"Verdammt, Kassandra, du kannst es auch einfach nicht lassen!" Erschrocken fuhr ich herum. Zed stand im Türrahmen zum Bad und funkelte mich böse an. Aus seiner Nase lief kein Blut mehr. Schade eigentlich.
"Tja, wenn du mir halt nichts sagst!", meckerte ich.
Zed packte den Stuhl auf dem ich saß an der Lehne und zog mich vom Schreibtisch weg.
"Das ist das Erdbeben.", stellte ich fest und ignorierte seinen bösen Blick auf den Bildschirm deutend. "Schon merkwürdig, dass sich das in konzentrischen Kreisen ausbreitet. Was ist Gravar-Energie?"
"Man, Kassandra!", beschwerte sich der Mann und ließ sich auf einen anderen Stuhl fallen. "Nerv mich nicht." Er heftete den Blick auf die Karte und murmelte zu sich. "Es geht von Frankreich aus... Warum nicht mehr von hier? Warum fängt es hier an und geht dann dort weiter?"
"Na, ist doch logisch. Wir haben die größten. Also hatten.", korrigierte ich mich.
Entgeistert starrte Zed mich an. "Die größten?"
"Windräder.", klärte ich ihn auf und zog meinen Stuhl wieder an den Tisch. "Klar, Windräder auf dem Wasser sind viel größer, aber schau doch: Das rote - die Gravar-Energie? - breitet sich mit dem Erdbeben nur auf dem Land aus. Ja, umgestürzt sind die Windräder im Meer auch, aber das war glaube ich nur Nebeneffekt. Denn hier stehen die größten Landwindräder der Welt. Standen, meinte ich." Dieser Gedanke war mir gerade durch den Kopf geschossen und ich hoffte imständig nicht kompletten Unsinn zu reden.
Zed starrte mich immer noch an. "Du hast recht."
"Wo kommt diese Gravar-Engergie eigentlich her?", ich nutzte seine Verwunderung.
"Aus dem Weltall."
"Bitte was?"
Zed seufzte. "Warte kurz." Er öffnete den Chat und schrieb eine Nachricht. Nur schien das Programm sie zu verschlüsseln, denn bevor er sie abschickte konnte ich sie lesen. "Check die Stärke der Gravar-Energie vor dem Take Down. Augenmerk Windräder. Vergleich mit Mars."
Ich fragte besser erst garnicht.
Er drückte auf einen Schalter und der Bildschirm erlosch, dann erst wandte er sich mir zu. "Das ist nicht leicht zu erklären und noch schwerer zu verstehen.", begann er. "Ich habe fast ein Jahrzehnt darüber geforscht, hatte Zugang zu Forschungsergebnissen aus Jahrhunderten und verstehe es immer noch nicht. Gravar exestiert schon seit Jahrtausenden. Wir konnten archäologische Funde testen und einigen konnte Kontakt mit Gravar nachgewiesen werden."
"Wie das?", unterbach ich ihn.
"Es ist ein Gerät, dass vor zwanzig Jahren entwickelt wurde. Ähnlich wie ein Geigerzähler. Es ist in unseren Satelliten eingebaut und überträgt die Messergebnisse mit roter Farbe um Gravar besser erkennbar zu machen. Von einem Gegenstand, der einmal damit in Kontakt kam, lässt es sich noch nach Jahrtausenden nachweisen."
"Und woher willst du wissen wann etwas damit in Kontakt kam?" Für mich klang das alles sehr spekulativ.
"Kannst du nicht einfach der Wissenschaft vertrauen?"
"Nein."
"Durch bestimmte Analysen lässt sich das ungefähr im Labor feststellen. Besonders viel Gravar wurde an antiken Bauwerken gefunden. Die Pyramiden, Mayatempel, bei den Inkas oder an Obelisken. An so gut wie allem, das man sich heute nicht erklären kann. Damit meine ich: Wie haben es die Menschen im altern Ägypten ohne Maschinen geschafft solche riesigen Pyramiden zu bauen? Aus heutiger Sicht völlig unmöglich.
Und dann war es plötzlich so gut wie weg. Damals begann die Antike. Der Mensch begann sich weiterzuentwicheln und von alten Glaubensrichtungen zu entfernen. Überall dort wo Zivilisation auftauchte, verschwand das Gravar."
Ein Gedanke hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. "Seit wann gibt es Gravar? Gab es das schon vor der Menschheit?"
Zed legte den Kopf schief und ich glaubte so etwas wie Anerkennung in seinen Augen zu sehen. Ja dumm war ich halt doch nicht. Nur weil ich blond war.
"Gravar wurde immer nur gefunden, wenn es auch Menschen gab."
"Also kommt es vom Menschen?" Ich war jetzt schon verwirrt, mein Kopf rauchte.
"Nein. Man könnte eher sagen, der Mensch kommt vom Gravar. Schau, du weißt wie sich der Mensch angeblich aus dem Affen entwickelt hat? Aber jetzt stell dir die Frage, ist es Zufall, dass diese merkwürdige unbekannte Energie auf dem Planeten Erde auftaucht und plötzlich entwickelt sich der Mensch?"
"Das ist mir zu viel wenn und falls und Spekulation und Übersinnliches." Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Plötzlich fühlte ich mich so müde, so unendlich müde...
Ich bekam mit, die Zed sich wieder seinem Bildschirm zuwandte, aber dieses mal öffnete ich die Augen nicht. Ich hatte nur kurz mein Gehirn ausruhen wollen, aber das nächste, das ich mitbekam war, dass Zed mich vom Stuhl auf das Sofa legte und mit einer kratzigen Decke zudeckte. Dann viel ich wieder in wirre Träume, in denen es von Außerirdischen, Pyramiden, Männern mit gebrochenem Genick und roter Farbe nur so wimmelte.

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt