Flucht

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Frankreich, 13. Januar 2050

Ich hängte meine Jacke über die Lehne der Bank und ließ mich auf sie fallen. "Puuh, schön heute." Tatsächlich war der Tag wolkenlos, die Sonne wärmte mein Gesicht.
Ich lächelte versonnen und versuchte nicht in Richtung meines Vater zu gucken. Aber er ließ nicht mehr ablenken.
"Kassie bitte. Ich habe dich bisher in Ruhe gelassen, weil wir beide ein paar harte Tage hatten. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass du mit mir redest!"
"Es ist ja nicht so schlimm.", währte ich ab und öffnete genervt meine Augen.
"Es klang aber genau so. Kassie, der Mann hat von Mord geredet! Du bist ein gutes Mädchen, und ich denke nicht, dass ich diese Frage stellen muss; dennoch: hast du jemanden umgebracht?"
Ich starrte meinen Vater perplex an. "Nein! Natürlich nicht."
"Gut. Ich wusste es. Aber ich musste es aus deinem Mund hören, Kassie-Maus." Er strich mir über das Haar und setzte sich neben mich. Einen Moment blickte er hinaus auf den See und schien seine ganze Umgebung in sich einzusaugen. Das klare Wasser, der Laubteppich und das Gras, die kleinen Tiere, die hierhin und dorthin huschten.
Dann sprach er wieder. "Ich möchte dir helfen. Aber dafür muss ich wissen, worum es geht."
Ich hätte es ihm sagen können, natürlich. Sicher hätte er mir auf die eine oder andere Weise helfen können. Aber Tatsache war, dass ich meinen Vater nicht mit heinziehen wollte. Obwohl ich hier im Nirgendwo war und weit und breit keine Gefahrt schien, wusste ich, dass sie da war. Ich hing in dieser ganzen Scheiße drin.
Und ich hatte Angst.
Diese Regierungstypen machten mir eine Riesenangst. Sie rannten mit Waffen durch die Gegend und wie ich selbst schon erfahren hatte, gingen sie nicht gerade zimperlich mit einem um.
Dazu kam noch mein Wissen um das, was hier passierte. Oder eher mein Nicht-Wissen. Denn all zu viel hatte ich ja auch von Zed noch nicht erfahren.
Ich wollte nicht, dass mein Vater in die Schusslinie geriet, wollte nicht, dass er Ängst ausstehen musste. Um mein Leben und auch um seins.
Ich glaube, ich hielt damals auch den Mund, weil ich es einfach nicht fertigbrachte zu erzählen, dass ich bei den Morden an vier Menschen einfach tatenlos zugesehen hatte. Und dass der Pullover des Mörders immer noch dort oben in meinem Zimmer hing.
"Das ist nur so ein doofes Missverständnis." Ich musste etwas sagen. Aber besser, nicht die ganze Wahrheit. "Phil hat ein Handyvideo gemacht, als wir an der Sperre waren. Er hat sich mit diesem Soldaten gestritten und wollte ihn provozieren. Er wollte der Welt zeigen, dass das was sie dort tun verfassungswidrig war. Der Soldat hat ihn, ähm, geschlagen... und wir sind abgehauen. Phil hat das Video hochgeladen und das hat der Regierung wohl nicht so gepasst."
Papa starrte mich an. "Das war dumm."
"Das war nicht meine Idee.", verteidigte ich mich.
"Und die Sache mit dem Mord?"
"Der Soldat wurde später tot aufgefunden - aber wir waren ja schon lange weg!"
"Okay.", Papa holte tief Luft. "Ich will nicht glauben, dass du mich anlügst. Aber ich weiß, dass das nicht alles sein kann."
Er sah mich so erwartungsvoll und enttäuscht an, dass mir die Tränen kamen. Mühsam hielt ich sie zurück.
Papa war immer stolz auf mich gewesen. Ich war ein liebes Mädchen und habe immer alles richtig gemacht. Und auf einmal musste ich mich vor der Regierung verstecken und verschwieg ihm etwas. Er glaubte, dass ich ihm nicht mehr vertraute. Er vertraute mir nicht mehr. Ich wusste es, noch bevor er es sagte.
Ich ertrug das nicht. So schnell ich konnte stand ich auf wandte mich von ihm ab.
"Kassie, bitte sieh mich an! Sprich mit mir!"
"Nein! Es ist alles gesagt, lass mich damit in Ruhe!"
Er fasste mich am Arm, doch ich riss mich los. "Kassie! Benimm die erwachsen. Ich muss dir vertrauen können!"
"Dann tu es doch einfach!"
"Ich kann nicht. Gott, deine Mutter war diejenige, die mit deinen Zickereien zurecht kam! Ich hab es gerade schwer Kassie. Ich muss mich auf dich verlassen können."
"Falls es dir nicht aufgefallen ist: Ich hab es auch nicht gerade einfach! Und ich bin erwachsen. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!", ich schrie, obwohl ich nicht sauer auf ihn war. Ich war auf mich selbst sauer.
"Du bist vielleicht achtzehn, aber sicher nicht erwachsen!"
"Ich kann machen was ich will, dich geht das einen Scheißdreck an!"
"Ach ja? Auch herumlaufen und Leute umbringen und anlügen?!" Mein Vater hatte ein ziemlich böses Gesicht.
"Ich hab nichts getan!", schrie ich zurück. Der Streit wurde mir zuviel und ich tat das, in dem ich wohl ziemlich gut war.
Ich haute ab. So schnell ich konnte lief ich das Ufer entlang und zur Straße hoch. Mein Vater rief mir hinterher, aber ich ignorierte ihn. Ich wollte ihn heute nicht mehr sehen, es ging nicht.
Das Problem, wenn man in einem winzigen Kaff lebte, ist nur, dass man sich einfach nicht aus dem Weg gehen konnte. Darum nahm ich die günstige Gelegenheit Madame Durand und ihren Blumentransporter zu stoppen und sie zu bitten mich in die Stadt mitzunehmen.

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt