Der verschwundene Flügel

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Deutschland, 04 Januar 2050

"Du musst dir das ansehen, das ist mega krass!" Ich hielt mit der einen Hand mein Smartphone ans Ohr und mit der anderen Loenys Halsband.
"Ich kann mir das garnicht vorstellen.", antwortete Millie auf der anderen Seite des Telefons. "Ich hol Phil ab, dann kommen wir."
Wir verabschiedeten uns und ich schob das Handy in die Hosentasche. Loeny winselte und bellte gleich darauf los, den Blick starr auf den Wald gerichtet.
Der Grund war nicht schwer zu erahnen. In einiger Entfernung ragte der abgebrochene Windradflügel hoch in die Luft auf.
Ich brauchte Lou zum Schweigen und Lauschte in die Stille.
Ich hörte leises Brummen von Hubschraubern und selten das Rauschen eines Autos, doch es war erschreckend ruhig. Und dann viel mir auf wieso.
Kein Vogel zwitscherte, nichteinmal die Krähen, die sonst nie aus unserem Gemüsebeet zu bekommen waren, waren fort. Auch sonst machte ich kein Tier aus. Mir schien es, als hätten sogar die Bäume das Wispern ihrer Blätter aufgegeben.
Ich konnte Mama durchs Küchenfenster sehen. Sie hantierte nervös mit dem Abwasch herum. Strähnen ihres Haares, die das selbe Blond wie meine hatten, fielen ihr immer wieder ins Gesicht.
Papa hatte gestern abends noch einmal angerufen. Er konnte nicht nach Hause kommen, da sämtliche Straßen, die hier her führten, gesperrt waren. Nur nach einer strengen Personenkontrolle kam man hier rein oder raus. Ein Gefühl der Beklemmung kroch in mir hoch.
Wir konnten hier nicht weg, waren gewissermaßen eingesperrt.
Die Regierung hatte noch keine Erklärung abgegeben, Polizisten sagten, sie müssten verhindern, dass Terroristen hinein- oder hinausgelangen.
Das war damals ihre Erklärung des Take Downs.

Ich verabschiedete mich von Mama, als Millie und Phil ankamen und wir stiegen den Berg hinauf. Loeny sprang neben uns her. In diesem Moment schien sie unbeschwert, doch ihr Schwanz wedelte nicht fröhlich wie sonst.
Millie keuchte und strich ihre roten Mähne zurück und Phil lachte. "Komm, so steil ist es auch wieder nicht!" Ich grinste, als Millie ihn spaßeshalber auf den Arm schlug.
Dann sah sie nach oben. "Ich kann es garnicht sehen."
"Hier stehn die Bäume im Weg.", meinte ich nur und zeigte nach Westen. "Da drüben ist es irgendwo."
Längst hatten wir die Baumgrenze erreicht und hier versperrten die Baumkronen jede Sicht auf den Himmel und die Umgebung.
Dennoch führte ich meine Freunde zielstrebig die Straße hinauf und bog bald in den Wald ab. Ich kannte mich hier besser als irgendwo sonst.
Millie bescherte sich leise.
"Wir müssen nicht hingehen.", meinte ich fast genervt.
"Aber das wär mega cool!", warf Phil ein und Millie stöhnte. "Ich will es ja auch sehen."
Also marschierten wir weiter und keiner beklagte sich mehr.
"Da vorne!" Endlich konnte man zwischen den Bäumen etwas Weißes aufblitzen sehen.
Loeny knurrte plötzlich. Sie war ein Stück weiter gelaufen als wir, ihr Fell sträubte sich wild und sie fixierte etwas.
"Lou...?" Ich näherte mich ihr vorsichtig, konnte aber nichts Ungewöhnliches sehen. Naja, bis auf den abgebrochenen Flügel halt.
Plötzlich fiebt die Hündin laut auf, klemmte den Schwanz so weit es ging zwischen die Beine und rannte durch den Wald zurück.
Baff sah ich ihr nach. "Loeny! Sie ist doch sonst immer mutig?"
Millie funmelte nervös an ihrem Pulli herum. "Hat sich halt erschreckt. Willst du ihr nach?"
Ich schüttelte den Kopf. Sorgen machte ich mir keine, sie kannte den Weg und würde Heim laufen.
Langsam gingen wir weiter auf den Flügel zu und dann standen wir nurnoch knapp huntert Meter davor.
Ich schätzte er hatte sich fast ein Drittel tief in die Erde gebort. Leicht schief reckte sich das metallenen Gehäuse in die Luft. Einige abgebrochene Teile lagen darum herum und oben konnte ich die Bruchstelle ausmachen. Kabel und Metallstreben baunelten dort.
Weit und breit konnten wir niemanden entdecken.
"Sieht aus, als wären die Bullen noch nicht hier gewesen.", meinte Phil betont lässig und schländerte näher heran. Wir Mädchen folgten ihm vorsichtig.
Langsam schritten wir um den Flügel herum. An dieser Stelle war er bestimmt fünfzehn Meter breit.
Phil stellte sich mit ausgebreiteten Armen davor. "Komm mach ein Foto!", forderte er mich auf.
"Spinnst du?", fragte Millie entgeistert. Ich konnte mir schon denken, warum davon ein Bild wollte. Auf Hashtagram würde er sicher mega fiele Likes und Kommis bekommen.
"Na für Hashtagram!", bestätigte er sogleich meine Annahme. Ich tat ihm den Gefallen und trat dann näher heran. Ein komisches Gefühl befiel mich, ich fuhr mir mit der Hand über die Arme um es zu vertreiben.
Neugierig streckte ich die Hand aus und legte sie auf das Metall.
Der Flügel war eiskalt und glatt. Langsam fuhr ich daran entlang.
"Aua!", ein Schmerzensschrei entfuhr mir und ich wich einen Schritt zurück, mir die Hand haltend.
"Was? Was ist passiert?!", Millie war sofort an meiner Seite.
"Das Teil hat mir nen Stromschlag oder so verpasst." Meine Hand fühlte sich taub an und ein Kribbeln kroch meinen Unterarm hinauf.
"Oh man. Besser wir verschwinden wieder." Millie zog die Schultern hoch. "War doch ne doofe Idee."
Ich stimmte ihr zu und auch Phil nickte, also machten wir uns auf den Rückweg. Mehrmals drehte ich mich um, denn ich fühlte mich beobachtet, doch nie war jemand da.
Leicht beklemmt fühlte ich mich, aber je weiter wir uns entfernten, desto entspannter wurden wir alle drei wieder.

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt