Frankreich, 12 Januar 2050
Ich hatte die Tage damit verbracht den Bewohnern von Wyndenauer bei ihren Aufräumarbeiten zu helfen. Nichts ungewöhnliches war mehr passiert und man brachte wieder Normalität in den Alltag. Die Arbeiten hatte mir mehr als gut getan. Sie hatten mich von meinen ständigen Ängsten und Erinnerungen abgelenkt. Aber heute würde der Tag sein, an dem ich mich zumindest mit einem Teil meiner schmerzlichen Erinnerungen würde auseinandersetzten müssen.
Heute Abend würden wir meine Mutter beerdigen.
"Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen solle?" Mein Vater benahm sich wie eine Glucke. Ich konnte ihn ja verstehen. Er hatte Angst auch mich zu verlieren und da ich mich geweigert hatte ihm zu erzählen was mir passiert war und warum ein General hinter mir her war, ließ er mich ungern aus den Augen. Aber Pete hatte angeboten mich mit in die Stadt zu nehmen. Ich konnte meine Mutter nicht in meinen alten Jeans zu Grabe tragen.
"Ganz sicher." Ich atmete tief durch. Ich mussten ihn beruhigen. "Ich bleibe bei Pete."
"Und es war wirklich ruhig in letzter Zeit. Wir haben das Schlimmste hinter uns, Frank. Ich pass schon auf dein Mädchen auf."
Papa gab sich geschlagen und endlich konnte ich in Petes gelbes Auto steigen und kurz darauf fuhren wir die selbe Straße zurück, auf der Papa und ich vor wenigen Tagen angekommen waren. Die einzige Straße, die aus Wyndenau hinausführte.
"Wann warst du das letzte mal in Straßburg?", fragte ich neugierig. Und auch um die Stille im Wagen zu brechen.
Pete lachte auf. "Ich bin kein verrückter Einsiedler."
Ups. "Jaa...", lenkte ich ein. "Aber ihr Wyndenauer seid doch... Mhm." Verdammt, Fettnäpfen.
"Weltfremd?"
Pete lachte auf meine Worte hin erneut. "Ja, das ist wohl war. Aber manche von uns studieren auch oder arbeiten in der Stadt."
Natürlich. In Wyndenau gab es ja schließlich keine Schule und strohdumm waren die Leute da auch nicht.
"Also wann?"
Pete dachte kurz nach. "Das ist schon eine Weile her... Letzte Woche, war das. Am Montag war ich einkaufen. Ich hab mir freigenommen für einen schönen Stadtbummel und na ja, nachdem das alles dann passierte, war es besser zuhause zu bleiben."
Das alles. Wie sollten die Leute auch etwas nennen, dass realistisch gesehen unmöglich war? Also taten sie das, was sie meiner Meinung nach ziemlich gut konnten. Sie ignorierten es, taten es ab, machten weiter.
Wir erreichten Straßburg sehr schnell. Ich mochte die Stadt nicht. Sie war mir zu groß, laut und langweilig. Die meisten Gebäude waren Fertigbauten. Keine Straße unterschied sich von der anderen. Der Stadt fehlte die Persönlichkeit, die sie in der Vergangenheit zweifellos gehabt hatte. Aber die Bevölkerungszahl war gestiegen (Während dem Krieg waren viele Menschen aus den Kriesengebieten geflohen) und man hatte Platz gebraucht. Es war billiger alte, heruntergekommene Viertel abzureißen und Fertigbauten zu errichten, in denen mehr Menschen wohnen konnten, als die Alten Gebäude zu renovieren.
Pete folgte dem Seitenarm des Rheins und brachte uns in die Zentralstadt. Die Auswirkungen des Beben war nach wie vor zu sehen, aber die Menschen wuselten wie Ameisen über die Straßen. Geschäfte waren wieder geöffnet und Menschen gingen ihrem Tagewerk nach.
Pete parkte in einem hohen Parkhaus und wir stiegen aus. Auf der Straße wandte ich mich an ihn. "Das ist toll, dass du meinen Vater beruhigt hast, aber du hast nicht wirklich vor mir überall hinzu folgen, oder?" Ich konnte keinen gebrauchen, der mir wie ein Hund an den Versen hing.
Pete lachte sein typisches kurzes Pete-Lachen und schüttelte den Kopf. "Nein, Kassie. Ich glaub mit achtzehn bist du alt genug um alleine durch die Läden zu laufen. Ich kann dich schwer wie früher auf meinen Schultern herumtragen."
Ich lächelte bei dieser Erinnerung. Als kleines Kind hatte ich die Eintönigkeit der Stadt entweder nicht gesehen oder sie hatte damals noch nicht existiert, denn die Ausflüge mit Pete und Léon zusammen waren immer das größte gewesen.
"Außerdem habe ich Mariann versprochen alles zu holen, was sie noch für heute Abend braucht." Ich nickte.
"Dann sehen wir uns in... zwei Stunden wieder hier?"
"Punkt eins, sonst schick ich einen Suchtrupp los.", scherzte Pete und entfernte sich dann mit federnden Schritten.
Ich orientierte mich und ging dann in die entgegengesetzte Richtung. Nicht alle Läden hatte geöffnet, darum musste ich lange suchen bis ich ein Geschäft fand, dass Kleider verkaufte. Traurig erinnerte ich mich an das rote Kleid, dass ich an Silvester getragen hatte. Es lag irgendwo verschüttet hundert Kilometer von mir entfernt.
Eine Verkäuferin mit einem Lächeln kam auf mich zu. Ich fand, sie sah noch immer etwas angespannt aus. Wie alle.
"Kann ich Ihnen helfen? Suchen sie ein Kleid für einen bestimmten Anlass."
"Für eine Beerdigung."
Sie schaffte es das Lächeln aufrecht zuerhalten und zugleich ein 'Mein Beileid' hervorzubringen. Ich legte meinen Kopf leicht schief und fragte mich ob das Lächeln echt war, oder ob sie es aufgemalt hatte. Unter der ganzen Schminke könnte sie genauso gut eine Affengrimasse schneiden.
"Hier drüben haben wir wunderschöne Kleider." Sie führte mich zu einem Ständer mit schwarzen Kleidern. Mit Spitzen und Blumenmustern, aber alle waren sie schwarz. Musste man schwarz an einer Beerdigung tragen?
Ich hörte nicht hin, als sie mir (immer noch mit diesem Lächeln) die Vorzüge der einzelnen Kleider aufzählte. Mein Blick schweifte durch den Laden und blieb an einem Sonnenblumengelben Stückstoff hängen. Gelb war Mamas Lieblingsfarbe gewesen. Und sollte man in diesen düsteren Zeiten nicht ein bisschen Farbe in die Welt tragen?
Ich ließ die Frau und ihr Lächeln stehen und strebte auf den Ständer mit dem Kleid zu. Kaum dass ich es in der Hand hatte wusste ich, dass ich es kaufen würde. Es ging mit bis zum Knie und war von einem luftigen fließenden Stoff. Ich würde vielleicht frieren (immerhin war Winter), aber das störte mich nicht. Schwarze Linien bildeten ein Muster auf dem Rock.
"Gelb?" Die Verkäuferin war mir gefolgte und klang geradezu entsetzt. Das Lächeln war weg. Gott sei dank, ich hatte schon Angst, es wäre festgeklebt!
"Ja. Gibt es hier Umkleiden?" Sie nickte und zeigte angesäuert in die hintere Ecke des Ladens.
Ich zog das Kleid an. Es passte perfekt. Mit den breiten Trägern bedeckte es meine Schultern, ließ aber meine Arme frei. Es war etwas höher geschlossen, aber ich wollte ja nicht auf eine Party gehen, sondern meiner Mutter die letzte Ehre erweisen.
Das einzige Problem war mein linker Arm.
Die feinen schwarzen Muster waren immer noch da. Sie bewegten sich zwar nicht mehr, würden aber jede Menge Frage aufwerfen. Ich fuhr über meinen Arm. Er kribbelte leicht.
Die Graufärbung war kaum noch zu sehen. Im Schummerlicht heute Abend würde sie nicht auffallen. Der Rock meines Kleides hatte ebenfalls ein Muster. Ich konnte sagen, ich hätte mir das Muster auf die Haut gemalt. Als Accessoire sozusagen. Ja so würde ich es machen.
Ich betrachtete die Muster eingehender. Was bedeuteten sie?
Teile von ihnen sahen aus wie Zeichen, die durch die kleinen verschnörkelten Linien verbunden waren. Geschwungene Schnörkel und schwarfe Kanten. Sie mussten wichtig sein. Aber wie konnte ich herausfinden wofür sie dienten?
"Madame? Sind sie fertig?" Die Frau vor der Kabine riss mich aus meinen Gedanken.
"Ja, einen Moment bitte!" So schnell ich konnte schlüpfte ich wieder in meine eigenen Sachen und versteckte meinen Arm sorgfältig unter dem langen Ärmel meines Pullovers.
Ohne die Frau weiter zu beachten (ich Lächeln war wieder da) bezahlte ich das Kleid und verließ den Laden so schnell es ging. Es war mir plötzlich fiel zu eng und heiß dort drinnen gewesen.
Was tat ich nur? Ich kaufte ein Kleid. Ein Kleid!
Wo doch so viele Dinge wichtiger gewesen wären! Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, als ich die Straße hinunter lief. Ich stand vor einer Hysterie, einer Panikattacke. Alles was ich so gut verdrängt hatte, war wieder da.
"Nein, nein, nein." Ich presste meine Finger gegen meine Stirn und versuchte meinen Atem zu kontrollieren. Aber es ging nicht.
In meiner Panik achtete ich nicht wohin ich ging und erst als ein Auto hupte und mich eine Hand zurückriss, merkte ich, dass ich auf dem besten Weg gewesen war mich umzubringen.
"Eh -fais attention où tu mets les pieds!" Ein Junge hatte mich von der Straßenkante weggezogen und redete jetzt auf schnellem Französisch auf mich ein.
Ja, meine Mutter war Französin und ja, ich hatte Französisch drei Jahre lang in der Schule gelernt - dennoch muss ich peinlicher Weise zugeben, dass ich kein Wort von dem verstand, was der Junge redete. Nur den Sinn dahinter. Sicher sagte er mir ich solle besser aufpassen und -"Gaffeur!" - er nannte mich einen Trampel.
"Ähm, sorry, danke, ja, ich pass... auf?" Ich steckte immer noch halb in meiner Panikattacke und war etwas außer Puste.
"Tu est Allemande.", stellte er fest.
"Gott, ja, Deutsche." Musste ja unglaublich schwer festzustellen sein, so wie ich redete.
"Na dann, versuch mal ein bisschen runter zu kommen.", meinte er spöttisch.
Ach toll, der Superheld konnte auch noch Deutsch reden. Aktzentfrei, wenn ich anmerken darf.
"Ja ist... nicht so leicht."
"Okay, komm." Er zog mich zu einer Bank und ich ließ mich erleichtert darauf fallen und schloss für einen Moment die Augen. Einfach nur atmen, eigentlich eine meiner leichtesten Übungen. Atmen und runterkommen, atmen und runterkommen, atmen und -
"Sich von einem Bus überfahren zu lassen ist ja nicht besonders schlau."
Der Kerl stand immer noch da und starrte mich an.
"Ja das war keine Absicht." Ich starrte ihn jetzt meinersteits an. Er war jung, ich schätzte, dass er nicht viel älter sein konnte als ich. Er hatte braunes Haar, das, sehr ungewöhnlich für die Mode von heute, ziemlich lang war. Er hatte es im Nacken zu einem Zopf gebunden. Seine Augen waren ungewöhnlich hell und grau und ich hatte das Gefühl, dass sie mich röntgen.
"Ach was. Dann rennst du immer mit geschlossenen Augen durch die Gegend?"
"Nein.", knurrte ich. Verdammt, warum traf ich in letzter Zeit dauernd auf so nervige Typen?
Er lachte auf. "Hat's geklappt?"
"Was?", fragte ich perplex.
"Na dich abzulenken. Damit du nicht mehr so Panik schiebst."
Ich schloss die Augen und stöhnte leise. "Ja, es hat geklappt."
"Na dann."
Ich stand demonstrativ auf um davon zu schreiten, aber mein Kreislauf machte mir einen Strich durch die Rechnung.
"Vorsicht!" Er packte mich am Arm und bewahrte mich davor einer alten Lady vor den Rolator zu fallen. "Die Dinger können auch ganz schön gefährlich sein, wenn man von ihnen überrollt wird.", scherzte er.
"Danke.", sagte ich sarkastisch.
"Hast ja nicht so besonders viel Humor.", stellte er fest. "Und Standfestigkeit auch nicht, besser ich begleite dich, wo musst du hin?"
"Wirklich nicht nötig!", versuchte ich einzulenken, aber er war schon losgelaufen und hatte mich mit sich gezogen.
"Ach, kein Problem. Am Ende kommt die Oma noch zurück um dich wirklich mit ihrem Rolator zu killen und dann braucht Ihr doch einen edlen Ritter, nicht wahr holde Dame?" Ich verdrehte die Augen, aber das Grinsen konnte ich mir nicht ganz verkneifen.
"Na also. Wohin geht's?"
Ich zeigte die Straße hinunter Richtung Parkhaus.
"Und erfahr ich den Namen meines edlen Ritter?", fragte ich nach ein paar Metern.
Er grinste und machte eine übertriebene Vorbeugung während dem Gehen. "Ginger, wenn's beliebt. Und Ihr, holde Maid?"
"Kassie, und hold bin ich bestimmt nicht."
Er lachte wieder. "Was treibst du so, außer dich umzubringen?"
"Ach, hab bloß ein Kleid gekauft."
"Ein Kleid? Im Winter? Na du bist noch verrückter, als ich dachte." Er lachte wieder, aber dieses Mal konnte ich das Lachen nicht ertragen.
"Es ist für die Beerdigung von meiner Mutter!", schnappte ich und beschleunigte meine Schritte. Ginger holte mich nach wenigen Sekunden wieder ein und berührte leicht meinen Arm.
"Entschuldige. Es tut mir wirklich Leid. Ich weiß, dass die Menschen das sagen um ihr Beileid auszudrücken - und auch, dass sie verstehen wie du dich fühlst. Aber - hey - ich meine das ernst. Ich weiß genau wie sich das anfühlt."
Tränen traten mir in die Augen. Mit einem Mal fühlte ich mich wie ein kleines Kind. Und da war der ganze Schmerz wieder.
"Friss es nicht rein, komm." Er zog mich in seine Arme und - verdammt - ich kannte ihn nicht. Aber es tat gut mich auszuheulen. So richtig.
"H-hört es irgendwann a-auf so weh zu t-tun?", fragte ich, mich in seine Jacke krallend.
Ich hörte wie er seufzte und leicht das Kinn auf meinen Kopf legte.
"Nein. Der Schmerz wird nur... erträglicher."
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2050 - Rule one
Science Fiction- Schwer atmend hielt ich in einer Querstraße zu seiner Wohung an und keuchte: "Da ist es." Zed beugte sich vor (kein Stück aus der Puste übrigens) und zog sogleich den Kopf wieder zurück. "Oh shit!" "Was?!" Ich sah jetzt meinerseits um die Ecke und...