Nichts als Erinnerungen

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Deutschland, 07 Januar 2050 -

Mein erster Gedanke beim Aufwachen galt Millie. Ich hatte im Traum ihren Schrei gehört.
Mein zweiter Gedanke galt meiner eigenen Dummheit. Mag ja sein, dass hier was krasses lief, dass verrückte Regierungstypen hinter mir her waren, aber war es wirklich eine bessere Idee mit einem Killer mitzugehen, als nach Hause?
Sicher war mein Vater inzwischen wieder da und einfach zu verschwinden konnte ich meinen Eltern nicht antun.
Blieb ich bei Zed, konnte ich mehr über alles herausfinden, aber was wusste ich über ihn? Und was für ein Spiel trieb er?
Dass er mich nicht aus Nächstenliebe beschützte war mir längst klar.
Anscheinend war das Glück mir hold, denn als ich langsam die Augen öffnete und den Raum scannte, sah ich den Mann schlafend auf dem Boden. Eine Isomatte diente ihm als Unterlage.
So leise ich konnte kroch ich unter der Decke hervor und schlich ins Badezimmer.
Meine Hose war nur noch leicht feucht, der Pulli trocken. Ich zog mich an und stellte fest, dass mein Parka klitschnass war. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich, stattdessen Zeds Pulli überzuziehen.
Beim Rausschleichen ließ ich die Türen offen, um ihn nicht durch ein Geräusch zu wecken.
Ich lief über das Wasserbecken, durchquerte den Gang und fand die Tür nach draußen - danke, guter Orientierungssinn!
Der Morgen war ungewöhnlich klar. Klar und still. Im Wald herrschte wieder diese unheimliche Stille. Aber Tiere flohen wohl vor einen Erdbeben.
Dieses Mal lief ich nicht über Trampelpfade quer durch die Wildnis, sondern folgte dem gekiesten Waldweg, der am Windrad vorbeiführte. Ich wusste, dass er um den Berg herum bis in mein Dorf führte.
Es musste schon recht spät sein, denn die Sonne beleuchtete mir den Weg und im Januar ging sie frühestens um sieben Uhr auf. Ich schätzte, dass ich in zwei Stunden daheim sein könnte.
Dann wurde es auch dringend nötig, denn mein Magen machte schon jetzt Geräusche, die mich stark an das Beben erinnerten.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass die Vögel gesungen hätten. Und nicht überall das Ausmaß der Zerstörung zu erkennen gewesen wäre.
Denn dann wäre noch alles normal... ich würde mich mit Millie und Phil treffen, würde mit Loeny spazieren gehen und - Gott - ich wünschte ich hätte Hausaufgaben. Ich wünschte das wären meine größten Probleme!
So aber wich ich riesen Ästen aus und kletterte sogar über eine umgestürzte Fichte. Hatte ich ein Schiss, dass mir so ein schief hängender Baum auf dem Kopf fiel!

Noch bevor der Wald sich lichtete, traf ich auf das Flatterband. BETRETEN VERBOTEN, LEBENSGEFAHR, stand in Großbuchstaben auf einem Schild. Das Band sollte aber offensichtlich den Weg in den Wald versperren. Und ich kam gerade aus dieser Todeszone!
Die Baumreihen endeten abrupt und genauso blieb ich stehen. Mein Herz setzte aus und Panik kroch mir in die Gleider. Das erste Haus am Weg war komplett eingestürzt, durch das zweite lief ein langer Riss und die Ziegel waren vom Dach gefallen. Beide Häuser waren abgesperrt und Menschen standen davor. Die, die nicht zu den Rettungskräften gehörten, sahen haltlos verzweifelt aus.
Mama! Ich musste nach Hause! So schnell ich konnte jagte ich die Straße hinunter, wich Leuten und Trümmern aus, bog in eine Querstraße ein und hetzte auf ihr Ende zu.
Zum zweiten Mal setzt mein Herz aus und ich blieb schlagartig stehen.
Die linke Hälfte unseres kleinen Hauses war eingestürzt und Möbel aus der oberen Etage hatten sich über unseren Garten verstreut. "Mama!"
Das Gartentor war mit rotem Band abgehängt, aber ich kümmerte mich nicht darum, sondern wollte darüber hinweg steigen.
"Halt! Stopp, warte, du kannst da nicht rein!", ein Feuerwehrmann fasste mich am Arm. "Das ganze Gebäude ist Einsturzgefährdet."
"War jemand drin?", fragte ich panisch. "Wo ist meine Mutter, war sie drinnen?!"
"Du wohnst hier?", sein Gesicht drückte Mitgefühl aus. "Tut mir Leid."
Tut mir Leid... Die drei Worte reichten, um meine Welt einstürzen zu lassen. Sie fiel in sich zusammen, wie das Gebäude, in dem ich aufgewachsen war. Ein Rauschen in meinen Ohren schluckte fast seine nächsten Worte.
"Wir haben sie in der Küche gefunden. Den Rest des Hauses konnten wir nicht betreten und... dein Vater? sagte, dass ihr euch beide im Haus befunden habt. Wir gingen davon aus, dass du... Gut, dass..." Er brach ab, merkte, dass seine Worte auf taube Ohren trafen, dass es völlig schwachsinnig war, was er redete. "Es tut mir Leid.", wiederholte er.
Die Welt vor meinen Augen zog sich zusammen und plötzlich konnte ich nichts mehr sehen. Etwas warmes lief über meine Wangen und ich wischte die Tränen langsam fort.
Fort, das war sie. Das hier war schlimmer. Schlimmer als alles, was bisher passiert war. Ich hatte es nicht kommen sehen. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ich meine Mutter nie wieder sehen könnte.
Ich registrierte den Sanitäter kaum, der mich die Straße hinunter zu einem Krankenwagen führte. Ich sah nur ihr Gesicht. Ich sah nur, wie ich mich am Tag zuvor (war es wirklich erst ein Tag her?) von ihr verabschiedet hatte. Ich war gegangen um Zed zu treffen und sie hatte mich auf die Wange geküsste. "Pass auf dich auf, Maus."
Wer hatte auf sie aufgepasst?
Ich schloss die Augen, gab mich einen Moment lang der Illusion hin, ich könnte sie wieder öffnen und mein Zuhause vor mir sehen, wie es sein sollte. Könnte durch den Vorgarten gehen, die Tür aufschließen. Wünschte mir, Loeny würde mich im Flur begrüßen und meine Mutter würde den Kopf aus der Küche strecken, lächeln und ihr blondes Haar zurückstreichen. Mit der selben Bewegung, mit der auch ich mir mein Haar stets hinter die Ohren schob.
Aber als ich die Augen tatsächlich aufschlug, existierte all das nicht mehr.
Der Vorgarten war verwüstet, das Haus eingestürzt und meine Mutter... Meine Mama würde sich nie wieder durchs Haar streichen.
Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Ich wollte schreien. Schreien und vergessen.
"Mami! Mama!"
"Schhh, alles okay. Ich bin hier. Ich bin hier, mein Schatz.", starke Arme umschlossen mich.
"Papa?"
"Ja, ich bin hier, Schatz. Ich bin hier. Ich dachte... ich hätte euch beide verloren. Aber du lebst, Gott, du lebst."
Ich lehnte mich an meinen Vater und gab mich meinen Tränen hin. Es war egal, jetzt war alles egal.
Ich konnte nicht begreifen, wie die Welt sich in nur drei Tagen so sehr verändern konnte.
Ich dachte an meine treue kleine Hündin, die vermutlich irgendwo dort unter den Trümmern lag, ich dachte an meine beste Freundin und Phil, die sonst wo von gruseligen Kerlen festgehalten wurden, und ich dachte an meine Mutter. Den wichtigsten Mensch in meinem Leben.

Seit damals ist so viel Zeit vergangen, aber ich erinnere mich heute immer noch an diesen einen Augenblick. Ich weiß noch genau, wie es an dem Morgen war, als ich meine Mutter das letzt Mal sah. Genauso, wie ich mich für den Rest meines Lebens an den Moment erinnern werde, an dem ich meinen Vater verlor.

Doch ich schwöre, wo immer ich bin, sie ist da. Ich war nie gläubig. Aber ich fühle, dass sie da ist. Vielleicht ist das Kinderträumerei. Die Hoffnung auf das Versprechen, dass sie mir gab, als ich klein war. "Ich werde dich niemals verlassen, Maus."
Dieses Versprechen, das Eltern ihren Kindern geben, wenn sie sich im Dunkeln fürchten, wenn sie Angst haben ihre Eltern im Freizeitpark zu verlieren. Aber ich klammerte mich an dieses Verprechen.

Denn was bleibt uns außer der Hoffnung?
Nichts als Erinnerungen.

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Das war mal ein seeehr kurzes Kapitel, es war länger geplant, aber nach diesem emotionalen Moment, war es irgendwie richtig, das Kapitel zu beenden.

Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mir Feedback zu diesem Kapitel dalassen würdet. Hab ich es geschafft die Emotionen rüberzubringen, oder fehlt da noch was?

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