Kastanienbraun

32 8 5
                                    

Deutschland, 15. Januar 2050

"Kassie, wach auf."
"Wasislos?", nuschelte ich und schreckte hoch. Ich brauchte einen Moment um mich zu orientieren. Ich lag auf einem grauen Sofa und der Raum wurde nur von einer Lampe an der Decke erhellt. Dann erinnerte ich mich, dass ich mich in einem Keller befand und erkannte im nächsten Moment das Mädchen, dass mich an der Schulter berührt hatte um mich zu wecken.
"Oh, Dali. Ist es schon so spät?" Ich strich mir die blonden Haare zurück und gähnte ausgiebig.
Dali grinste leicht. "Ja, ist schon dunkel draußen. Aber Alexandro hat mich geschickt. Deine Freunde sind aufgetaucht." Sie lachte kurz auf, während ich aufgeregt aufsprang. "Raphael und Ilias haben sie abgefangen, als sie hier in der Straße aufgetaucht sind und deine Freunde haben sie doch glatt vermöbelt."
"Was?!" Irritiert sah ich sie an. "Sie haben bitte was? Wo sind sie jetzt?"
"Hocken in der Bar. Alex ist echt nicht begeistert, weißt du." Sie lachte wieder. Ihr schien das sichtlich zu gefallen.
Ich achtete nicht weiter auf sie und war schon zur Tür gestürmt, die in die Bar führte. Ich riss sie auf und orientierte mich nur eine Sekunde lang. Raphael lehnte hinter der Bar und hielt sich ein Tuch an die Nase, das schon vollkommen rot war von Blut. Ilias saß auf der anderen Seite, mit einem blauen Auge, aber er hielt ganz dezent eine Waffe in der Hand und ließ den grimmigen Blick nicht von zwei weiteren Männern. Ginger und Zed.
Beide sahen verdammt mordlüstern aus. Genau wie Alexandro, der in der Raummitte stand und mich sauer anstarrte.
"Oh man, ihr seid hier!" Ich quiekte freudig und durchquerte den Raum in sekundenschnelle.
Ein Lächeln breitete sich auf Gingers Gesicht aus, das übrigens ebenfalls ein bisschen ramponiert war. Er schloss mich in die Arme und ich vergrub meine Nase an seinem bescheuerten Trenchcoat. Tausend verdrängte Gefühle des letzten Tages drangen an die Oberfläche und ich trieb die Tränen zurück so gut ich konnte.
"Er ist tot, Ginger, tot."
"Ich weiß, Kleines."
Verdammt, ich kannte den Jungen kaum, aber das war jetzt egal. Zeit spielte keine Rolle mehr, wenn man jeden Tag sterben könnte. Ich war nur froh, dass er da war.
Ein zweifaches Räuspern riss uns voneinander los und peinlich berührt stellte ich fest, dass uns alle anstarrte. Zed und Alexandro waren die Räusperer gewesen.
"Ja, sorry." Mein Blick schweifte zu Dali und ich sah sofort wieder weg. Sie hatte so ein merkwürdiges Grinsen im Gesicht.
Leider traf ich stattdessen auf Alexandros wütende Augen. "Ich mag es nicht, wenn jemand meine Leute vermöbelt."
"Wenn sie sich vermöbeln lassen.", knurrte Zed zurück. Scheiße, die Laune hier war aber dezent angespannt. Zu viele Alphatiere auf einem Haufen.
Alexandro machte einen Schritt in Zeds Richtung und in Anbetracht der Tatsache, dass auch er eine Waffe in der Hand hatte, stellte ich mich schnell zwischen sie.
"Ja, das war nicht so gemeint, nicht wahr, Zed? Nicht wahr?"
"Natürlich. Tut mir echt leid.", seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Nicht hilfreich, garnicht hilfreich.
"Ein Missverständnis!", erhob ich die Stimme. "Sie wussten ja nicht, dass ihr helft. Aber ihr könntet euch entschuldigen, für... ähm... das da." Ich warf Raphael einen kurzen Blick zu.
"Klar, tut mir leid, Mann. Aber ich musste Zed einfach unterstürtzen, nachdem er angefangen hat. Wär sonst echt peinlich geworden." Ginger hatte sein typisches Grinsen aufgesetzt und seinen forschenden Blick auf Raphael gerichtet. Dieser nahm das Tuch von seinem Gesicht (Verdammt, konnte Ginger so stark zuschlagen?) und musterte seinen Gegenüber einen Moment, bevor er nickte und ein kleines Lächeln zustande brachte.
Einen Moment noch knistertes es vor Anspannung regelrecht in der Luft, dann schob Alexandro seine Waffe an seinem Rücken in den Hosenbund und auch Ilias ließ seine verschwinden.
Alexandro setzte sich auf einen Barhocker und füllte sich ein Glas. Mit einem Nicken gab er uns zu verstehen, dass wir uns ebenfalls setzten sollten. Ich ließ Dali als Sicherheitsabstand zwischen Alexandro und Zed sitzen und ließ mich selbst neben ihr nieder.
"Wie kommst du überhaupt hier her?", fragte Zed mich. Ich beobachtete wie Raphael noch ein paar Gläser auf den Tresen stellte. Mir fiel auf, dass er zu Ginger einen gewissen Abstand einhielt und ihm immer wieder misstrauische Blicke zuwarf. Ich zögerte die Antwort noch ein paar Sekunden hinaus und zuckte dann mit den Schultern.
"Ich hab Dali getroffen. Sei nicht immer so misstrauisch."
"Ich lebe noch, weil ich immer misstrauisch bin.", gab Zed angesäuert zurück. Der Kerl war dauernd sauer, wenn ich da war. Und trotzdem starrte er mich so intensiv an, als wollte er nur mit seinem Blick ergründen wie es mir ging.
Aber Gingers Blick spürte ich viel intensiver in meinem Rücken. Ich sah mich kurz nach ihm um und sah seine völlig unergründliche Miene. Ein leichtes Lächeln kroch auf sein Gesicht und ich sah wieder weg.
"Sag mal, wie hast du das jetzt eigentlich gemacht?" Alexandro betrachtete mich neugierig. "Wie kann es sein, dass deine Freunde genau hier auftauchen?"
"Zufall.", knurrte Zed.
"Sicher nicht!", gab Alexandro zurück. Die konnten sich wirklich nicht ausstehen.
"Ich kann zaubern.", sagte ich und legte so viel Ernsthaftigkeit in meine Stimme wie ich konnte. Dali war die Erste die lachte.
"Lass sie doch ihre Geheimnisse haben, Alex.", meinte sie nach einem Moment. Dennoch starrte er mich weiter an. Er hatte gesehen, wie ich heute Morgen bescheuert auf einem Dach rumgerannt war und plötzlich tauchten meine Freunde auf. Natürlich wollte er wissen, wie.
Aber eine Erklärung hätte Stunden gekostet, und vermutlich hätte er mir trotzdem nicht gegelaubt.
"Okay.", er zuckte mit den Schultern, aber ich war mir sicher, dass die Sache für ihn noch nicht gegessen war. Aber wir würden sicher nicht mehr lange bleiben...
Es war Zed, der das auch sofort zur Sprache brachte. "Wir verschwinden dann."
"Kein guter Plan." Erschrocken drehte ich mich um. Das war das erstemal, dass ich den Türsteher sprechen gehört hatte.
"Ach nein?", fragte Zed bissig.
Der Mann schnaubte auf. "Geh ruhig raus, aber ich geb der Kleinen da fünf Minuten, bis sie entdeckt wird." Er deutete mit einem Kopfnicken auf mich.
Hey, dass klang echt nicht nett! Als ob ich voll unfähig wäre.
"Das stimmt aber, fürchte ich. Guck mich nicht so an.", Raphael deutete anklagend mit einem Finger auf mich. "Das ist nicht meine Schuld. Aber wie du sagtest, es sind viele unterwgs die nach dir Ausschau halten und der Strom geht wieder."
Also auch die Verkehrskameras.
"Dann halt ich eben den Kopf unten.", gab ich angesäuert zurück.
Ironisches Schnauben. Danke dafür.
Dali stupste mich von der Seite an. "Was hast du überhaupt gemacht, dass die so sauer sind? Wenn ich fragen darf.", schob sie schnell hinterher. Ich zuckte mit den Schultern.
"Hab, ähm... Ihnen eventuell das Haus unter dem Hintern abgefackelt?" Ja, ich versuchte meine Coolness zu bewahren, aber das klang eher wie eine Frage.
"Man, Kleines." Ginger legte einen Arm um meine Schulter. "Da lässt man dich mal für fünf Minuten alleine."
"Es waren gefühlt eher fünf Tage." Ich stieß seinen Arm weg.
"Verschiebt euren Beziehungsstreit, ja?", meldete Dali sich zuckersüß zu Wort. Ich verzog mein Gesicht. "Was, ihhh, nein."
"Was soll das heißen, 'ihhhh'?" Klang Ginger beleidigt?
"Also wir zwei,", Dali zog mich von dem Hocker hoch. "arbeiten jetzt mal an deiner Maskierung."
In diesem Moment war ich wirklich froh, aus dem Raum verschwinden zu können. Das erste was Dali jedoch machte, war sich auf ein Sofa zu werfen und mich anzugrinsen. "Es geht mich ja nichts an, aber du und dieser Junge..."
"Ginger."
"Ja, Ginger.", sie zog den Namen in die Länge. "Läuft da was?"
"Bitte, was?" Verdammt, die Welt geht unter und sie denkt an sowas?
"Ich frag ja nur!", sie hob abwehrend ihre Hände. "Aber ich sag dir, so wie der dich anschaut..."
"Sie still!" Ich warf mich neben sie auf das Sofa. "Wolltest du nicht über meine Tarnung sprechen?"
"Man, das war nur ein Vorwand, aber okay." Sie grinste wieder und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, dann betrachtete sie mich nachdenktlich.
"Wie sauer sind die Kerle auf dich? Auf einer Skala von eins bis zehn."
"Zwölf. Mindestens." Mein Gesicht verfinsterte sich. Ja, ich hatte mich in die Scheiße geritten.
"Also dann Rundumerneuerung." Sie zog an einer meiner blonden Strähnen. "Möglichkeit eins: Wir schneiden sie ab."
"Wehe!"
"Möglichkeit zwei ist färben."
Ich musste daran denken, dass ich dieselben blonden Haare hatte wie meine Mutter. In diesem Moment fühlte es sich so an, als wären sie die einzige Verbindung, die ich noch zu ihr hatte. Alles was von ihr übrig war. Aber Dali hatte recht. Die Stadt war echt groß und wir mussten irgendwo mittendrin hocken.
Ich fühlte mich auf einmal wie in einem dieser Zombiefilme. Du siehst die Gefahr nicht, musst aber so unauffällig wie möglich verschwinden, weil sie dich sonst verspeißen.
Ein Zittern überfiel mich, als mir manches klar wurde.
Sie waren nicht mehr einfach nur hinter mir her, weil ich ihnen villeicht etwas über Zed sagen konnte. Nein, jetzt waren da auch persönlichere Motive. Ich hatte ihre Basis zerstört. Und ich war mir sicher, diesen Bastard getötet zu haben, der meinen Vater ermordet hatte.
Ich hatte einen Menschen getötet...
Er war tot.
Ich hatte ihn getötet.
"Oh Gott.", entfuhr es mir. Dali, die während meines Gedankenganges weitergeredet hatte, hielt inne und starrte mich an. "Okay, dann lassen wir das mit den Piercing!"
"Was? Nein, ich..." Ich starrte sie mit offenem Mund an, brachte aber kein Wort raus.
Er war tot.
Tot.
Jetzt wo Zed und Ginger wieder da waren, musste ich mich nicht mehr auf dieses Problem konzentrieren. Der Moment, in dem ich Luft holen konnte, ein bisschen runterkommen, aber auch der Moment, in dem mein Hirn sich wieder einschaltete und das hatte noch einiges zu den letzten zwei Tagen zu sagen.
Vor allem zu gestern.
Er hat es verdient. Aber so sehr ich auch versuchte mir das einzureden, änderte das nichts an der Tatsache, dass ein Mensch wegen mir tot war.
Es spielte keine Rolle wer es war - okay doch - aber viel wichtiger war, dass ich ein Leben beendet hatte.
Wirklich beendet.
"Kassie, du machst mir Angst." Dali wedelte mit der Hand vor meine Gesicht herum.
"Sorry." Ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht und versuchte das Brennen in meinen Augen los zu werden. Warum brannten die jetzt so?
"Sag mal, heulst du?"
"Mach ich garnicht.", schniefte ich und wischte wütend die Tränen weg. Ich war keine Heulsuse. Ich war schlau und stark und-
Jetzt heulte ich doch.
Wie hatte das nur passieren können? Meine Mutter war tot, mein Vater war tot und ich hatte jemanden getötet.
Ich war ein Mörder.
"Oh Gott.", entfloh es mir ein zweites Mal. "Nein, nein, nein."
"Hey, alles gut." Dali strich mir vorsichtig über den Rücken, aber ich konnte fühlen, dass die Situation sie überforderte.
Ich hatte alles verloren. Alles was ich noch hatte waren ein paar gestohlene Klamotten und mein Leben. Villeicht sollte ich dankbar sein. Das war mehr als viele andere hatten. Aber so konnte ich diesem Moment nicht denken. Es half nicht, meinen Schmerz irgendwie kleiner zu machen.
Ich bemerkte erst, dass Dali nicht mehr neben mir saß, als ich ihre Stimme an der Tür hörte. "Sie heult, was soll ich jetzt machen?"
Die Tränen verschleierten meine Sicht und ich sah nicht, wer ins Zimmer kam. Ich hörte nur die Tür ins Schloss fallen und fühlte, wie das Sofa unter dem Gewicht von jemandem nach unten sank.
Ein Arm legte sich um mich und ich hielt mich an dem Shirt desjenigen fest.
"Es ist okay, Kassandra." In diesem Moment war Zed Stimme so beruhigend. Garnicht der raue, harte Ton.
"Ich will nicht heulen.", fluchte ich leise.
"Es ist okay. Niemand erwartet, dass du das alles einfach so aushälst."
"Du hälst das aus." Ich schloss die Augen und hielt die Tränen nicht mehr zurück.
"Du kannst das nicht vergleichen. Ich bin mein Leben lang auf diese Dinge vorbereitet worden. Du nicht. Du hast das nicht verdient. Du hast ein Leben mit deiner Familie und deinen Freunden verdient." Seine Hand fuhr leicht über meinen Rücken, seine Wärme hüllte mich ein.
"Ich hab ihn umgebracht. Gaver. Ich war das, Zed, ich- Wie machst du das? Es ist mir egal, es sollte mir egal sein."
"Das sollte es nicht, Kassandra. Ein Leben zu nehmen, sollte niemals leichtfallen. Erst wenn es dir nicht mehr wehtut, hast du dich selbst verloren."
"Was ist mit dir?", ich blinzelte die Tränen weg und sah zu ihm auf. Sein Blick wanderte zwischen meinen Augen hin und her und das war das erste Mal, dass ich wirklich Gefühle in ihnen erkannte. Schmerz. So unendlich großer Schmerz.
"Ich habe nur gelernt, das auszublenden, aber jeder Mensch, den ich getötet habe verfolgt mich nachts."
Irgendwie beruhigte mich das. Es zeigte mir die menschliche Seite an Zed. Ich wusste, er blieb was er war und er war kein guter Mensch.
Aber er war auch kein schlechter Mensch.
"Danke.", murmelte ich leise und legte meinen Kopf wieder auf seiner Brust ab. Mit geschlossenen Augen spürte ich seinen Atem und Herzschlag.
Es war egal ob er gut oder schlecht war. Zed war gekommen. Er war zum zweiten Mal gekommen, nur um mich zu finden. Und ich war mir sicher, dass er das nicht aus Eigennutzen getan hatte. Ich war Duce Acanos Spur zu ihm und ohne mich hätte er es leichter. Dennoch war er hier.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann klopfte es. Ich befreite mich aus Zeds Arm und wischte mir die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht.
Alexandros Kopf erschien in der Tür und er musterte mich einen Moment. "Dali hat ein paar Sachen für dich besorgt."
"Okay, danke." Ich atmete einmal tief durch und richtete mich gerade auf. Zed erhob sich langsam.
"Soll ich hier bleiben?"
"Nein, schon okay." Ich lächelte Dali zu, die unsicher in der Tür erschienen war. Sie wirkte erleichtert, dass ich mich wieder gefangen hatte und schlüpfte an Zed vorbei in den Raum. Als wir allein waren, schwenkte sie einen Rucksack vor meiner Nase herum. "Ich war kurz daheim und hab was von meinen Sachen besorgt. In dem Zeug da kannst du echt nicht rumlaufen."
Gegen meinen Willen musste ich auflachen und zupfte an dem blauen T-Shirt.
"Fängst du wieder an zu heulen, wenn ich dir sage, dass ich dir Farbe für die Haare mitgebracht habe?"
Ich grinste und schüttelte meinen Kopf. "Keine Angst, du bist sicher davor in Tränen zu ertrinken."
"Puuh, da bin ich aber froh." Sie seufzte theatralisch auf und grinste dann.
Sie warf mir eine Schachtel zu, die ich geschickt fing. Sie hatte mir ein dunkles Kastanienbraun mitgebracht. Braune Haare waren so verbreitet, dass ich perfekt in jeder Menge untertauchen konnte.
Ich war Dali dankbar für das, was sie tat. Sie schaffte es mich die nächste Stunde abzulenken und mir das Gefühl zu geben, dass alles wie immer sei.
Ich hatte einfach nur Spaß mit einer Freundin herauszufinden, wie die Farbe funktionierte. Wir verkleckerten das halbe Bad mit braunen Spritzern. Weil wir zu faul waren, ließen wir die Farbe einfach wo sie war, bis wir mit färben fertig waren und ich mit nassen Haaren da saß. Dann mussten wir jedoch feststellen, dass die Farbe die Fließen und das Waschbecken verfärbt hatte und sich nicht mehr herunterwaschen ließ.
Dali brauchte zehn Minuten um ihren Lachanfall zu beenden. Ich grinste und bewarf sie mit einem Lappen. "Komm schon, mehr putzen, weniger lachen!"
"Das ist aber deine Farbe!"
"Wer hat sie überall verteilt? Das war aber sowas von nicht ich."
Wir beschlossen zu hoffen, dass niemand die Flecken bemerkte und verließen schleunigst das Bad. Dali zog den Reisverschluss ihrer Tasche auf und drehte sie um. Ein paar zusammengerollte Kleidungsstücke fielen heraus.
"Ich dachte, ich pack dir noch ein bisschen mehr ein, dann hast du Sachen zum Wechseln."
"Danke, lieb von dir." Ich schlüpfte in eins ihrer schwarzen Tops und zog eine karrierte Bluse an, ich brauchte etwas, dass meinen linken Arm verdeckte.
Sie zögerte und betrachtete mich einen Moment. "Musst du... ich meine, müsst ihr gehen?"
Ich lächelte leicht. "Es war nett von Alexandro, dass ich hier bleiben durfte, aber ich kann nicht ewig hier bleiben."
"Wo geht ihr dann hin?"
Ich zuckte die Schultern. "Keine Ahnung."
Einen Moment standen wir beide unbewegt da. "Ja...", sagte ich dann gedehnt. "Ich schätze, wir verschwinden dann gleich."
Dali nickte langsam, dann zog sie mich in eine Umarmung. "Du hast was an dir, Kassie, dem kann man einfach nicht widerstehen. Lass dich nicht unterkriegen, okay?"
Ich drückte sie einmal. "Werd ich nicht. Und du auch nicht, Dali."
Ich schulterte den Rucksack und schnappte mir meine geklaute Cappie vom Sofa. Zusammen kehrten wir in die Bar zurück. Es waren nur noch Alexandro und Raphael da. Sie unterhielten sich leise an einem Ende der Bar. Ginger und Zed saßen auf Hockern in der Nähe. Sobald ich den Raum betragt, spürte ich, wie Ginger seine stechenden grauen Augen auf mich richtete.
"Ich bin soweit."
"Gut." Zed stand auf. "Es ist dunkel: unsere beste Chance.
Alexandro erhob sich ebenfalls. "Wir bringen euch aus der Stadt. Wir haben schon überlegt, wie wir es machen."
Sie erklärten mir kurz, dass Zed mit seinem Auto fahren würde und uns später wieder treffen. Wir mussten davon ausgehen, dass Autos kontrolliert wurden, da konnten wir nicht das Risiko eingehen, dass ich in einem entdeckt wurde.
Alexandro und Raphael würden mich und Ginger begleiten.
Ich umarmte Dali ein letztes Mal, nickte dem Türsteher zu und zog mir meine Cappie tief ins Gesicht. Über die Treppe kehrten wir auf die Straße zurück und verabschiedeten uns von Zed. Er verschwand in die andere Richtung in der Dunkelheit. Kurz darauf hörte ich einen Motor anspringen und ein sich entfernendes Auto.
"Okay." Alexandros weißes Hemd läuchtete in der Dunkelheit und ich sah, dass er seinen Arm ausstreckte um uns zu bedeuten ihm zu folgen.
Eine Weile gingen wir schweigend. Ich merkte, dass Alexandro es genauso machte wie Dali. Er mied belebte Straßen und solche, bei denen der Strom funktionierte. So liefen wir die meiste Zeit durchs Dunkel. Nach einiger Zeit berührte Raphael mich auf einmal am Arm und bedeutete mir langsamer zu gehen.
Wir gingen jetzt wenige Meter hinter Alex und Ginger. Schließlich erhob Raphael seine Stimme. "Dort, wo ich herkomme, gibt es eine Sage. Eine Sage über einen Schatten. Ein Mann, der schon lebt, seit der erste Mensch das Licht erblickte. Ein Mann, mit Augen, grau wie der Nebel. Er tauchte in der Geschichte immer wieder auf. Die Leute nannten ihn Hexer, Vampir oder Geist.
Ein Blick reicht ihm, um das tiefste Geheimnis eines Menschen zu entdecken und er selbst ist tiefgründig wie die See. Er bringt Sturm und Tod, dort wo er hingeht."
Raphael lief ein paar Meter schweigend und ich fragte mich, ob er überhaupt weitersprechen würde. "Es gibt viele Geschichte über diesen Mann. Manche waren dazu da Kinder zu ängstigen. Aber der springende Punkt ist, dass die Menschen dort glauben, dass dieser Mann existiert, genauso wie manche glaubt, dass Engel existieren."
"Glaubst du daran?", fragte ich, fragte mich aber insgeheim, auf was er hinaus wollte.
"Nein. Ja. Es war eine Geschichte, aber irgendwie... Ich glaube, dass Schatten existieren. Ich möchte dich nur warnen. Ich möchte nur, dass du auf dich aufpasst."
Verwirrt sah ich ihn an. "Klar, aber warum-"
"Vertraue ihm nicht zu sehr." Er deutete mit dem Kinn auf Ginger, der mit federnden Schritten vor uns lief.
"Was? Ist das dein Ernst?" Ich schnaubte amüsiert auf. "Ich glaube nicht an solche Geschichten und ich bezweifle doch stark, dass Ginger irgendein Dämon oder Schatten oder sonstwas ist."
Raphael zuckte mit den Schultern. "Versprich mir nur, dass du vorsichtig bist."
"Klar, dass werde ich."
Wir schwiegen wieder eine Weile, dann erhob ich das Wort erneut. "Glaubst du das wirklich?"
"Glaubst du das wirklich nicht?", stellte Raphael die Gegenfrage.
Ich begann den Kopf zu schütteln, hielt aber inne, als Ginger sich im Gehen zu uns umdrehte.
Ich konnte regelrecht fühlen wie sich seine grauen Augen in meine brannten, auch wenn ich sie in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.
Aber ich glaubte nicht an solchen Unsinn.
Oder?

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt