Ilysia, die Stadt Galaya, 59 Tage vor dem Sonnenfest
Ein sanftes Rauschen und der kehlige Ruf einer Seeschwalbe waren das einzige, das die Luft mit Geräuschen füllte. Ein kalter Wind wehte die Küste hinauf und trieb feinen Sand in die Bucht.
Versteckt hinter hohen Dünen und dicht an eine Felswand gedrängt saß das kleine weiße Haus.
Das zweistöckige Gebäude sonnte sich in der Strahlen der frühen Morgensonne.
Vor dem Gebäude auf einer Bank lag ein junger Mann, die Augen zuckten unruhig.
Olivia trat aus dem Haus, ihr Haar fiel wie ein Wasserfall über ihren nackten Rücken, ihr Kleid wurde nur im Nacken zusammengehalten.
Ihr Blick glitt über Kyles reglosen Körper. Seine Augäpfel begannen unter seinen geschlossenen Lidern zu zucken. Das erste Zeichen, dass er zurück kehrte.
Nachdem sie ihm das Genick gebrochen hatte, hatte sie ihn hinauf zu ihrer kleinen Kahte gebracht und auf die breite Bank gebettet. Die Sonne war im Meer eingetaucht, die Gestirne über den Himmel gezogen und sie hatte in ihrer Hütte gesessen.
Regungslos hatte sie über Stunden auf den nächsten Morgen gewartet, schon seit Jahren hatte sie nicht mehr geschlafen.
Sie wusste, was Kylaniel in all dem Stunden, die sie gewartet hatte, durchmachen musste. Sie hatte es selbst so viele Male erlebt, dass sie aufgehört hatte zu zählen.
Kyles Seele hatte seinen Körper verlassen und war ganz im Lymra aufgegangen.
Wie jeder Krieger der weißen Armee hatte er einen Teil seinerselbst in das Lymra übergehen lassen, bei der Zeremonie in der Höhle und hatte einen Teil des Lymras mit sich verbunden.
Er war mit der geheimnisvollen Macht untrennbar verbunden.
Bald würde seine Seele in seinen Körper zurück finden, die tödliche Wunde wäre verheilt und er würde erwachen, als wäre nichts passiert.
Aber tief in ihm hatte sich etwas verändert.
Als Kyles Finger zu zucken begannen, hatte Olivia die Bestätigung: er war stark und eine tiefe Macht schlummerte in ihm. Sie hatte es schon an seiner Zeremonie gefühlt. Kylaniel Norilson war etwas besonderes.
Kein Krieger, den sie erlebt hatte, war nach seinem ersten Tod so schnell erwacht. Die meisten lagen zwei Tage oder nach länger regungslos da.
Sein Geist hatte nur Stunden gebraucht um zurück zu finden.
Olivia drehte sich graziel um und verschwand ohne einen Ton zu verursachen wieder in ihrem Haus.
Bald würde Kylaniel aufwachen und er würde ein Neuer sein.Auf einen Schlag war es dunkel. Eben noch waren helle Lichtadern um ihn hergewesen. Er hatte dem Licht folgen können, auch wenn er nicht wusste warum oder wohin.
Alles konnte er nicht ganz begreifen. Ihm war jedes Gefühl für seinen Körper verloren gegangen, er konnte die Hand nicht heben und sich nicht selbst sehen.
Da war nur diese unendliche Schwärze und dazwischen die weißen Adern.
Lymra.
Es war genau wie in der Höhle. Er hatte gewusst, dass er den weißen See finden würde und tatsächlich hatte der Strom ihn dort hin getragen. Er war in den See getaucht in der Erwartung das Licht müsse sich überall ausbreiten und ihm seine Gestalt wieder geben, aber stattdessen war es dunkel geworden. Er hatte den Moment verpasst, als das Licht verschwunden war, er konnte sich nicht zurück erinnern. Es war ganz einfach weg gewesen.
Aber etwas war anders als zuvor, er konnte es nicht ganz fassen.
Doch! Ein Geräusch, das erste Geräusch seit Ewigkeiten, wie es ihm schien.
Ein... Rauschen? Wellen? Seevögel?
Das Meer, der Gedanke war plötzlich da.
Er stellte sich die blauen Wellen vor und er wollte sie sehen. Wie konnte er der Dunkelheit entkommen.
Und dann fühlte er, fühlte die Kühle des Windes auf der Haut, eine glatte harte Oberfläche auf der er lag und er wusste, er musste nur die Augen aufschlagen.
Das Licht blendete ihn und sofort schloss er seine Augen wieder.
Weniger gewaltsam, vorsichtig öffnete er sie wieder. Blinzelnd blickte er hinauf in den Himmel. Die Sonne schien so hell, dass das Firnament fast weiß er schien.
Ächtzend drehte Kyle sich herum und stemmte sich hoch um aufrecht auf der Bank, die er jetzt erkannte, sitzen zu können.
Er befand sich direkt an der Küste, doch er braucht einen Moment um sich erinnerm zu können, wie er hier her gekommen war.
Die unbekannte Frau... Olivia. Der Lauf über die Wiesen, der Sprung von der Klippe, der Kampf gegen das Wasser... Und dann?
"War ich... tot?", Kyle drehte den Kopf um Olivia ansehen zu können. Leise war sie aus dem Haus getreten, er hatte sie weniger kommen hören, als dass er ihre Präsenz gespürt hatte.
Sie nickte ohne etwas zu erwiedern.
"Die anderen haben davon gesprochen. Dass wir sterben und zurück kommen, meine ich. Aber ich... Ich konnte es mir nicht vorstellen." Er fuhr mit dem Finger über das helle Holz der Bank und hatte das Gefühl, zum ersten mal in seinem Leben etwas zu spüren. Er fühlte die feine Maserung unter der Haut und zählte allein mit dieser einen Berührung die Zeitringe des Baumes.
"Wieso hast du es getan?" Er wusste, dass jeder Soldat der Weißen Armee sterben musste, bevor er den Kampf antreten durfte, aber normalerweise war es der Ausbilder. Sie ließen den Soldaten ein Gift trinken, ein schmerzloser Tod, sie wollten ihre Rekruten nur darauf vorbereiten, wie sie zurück fänden in die Welt.
"Ich wollte sehen wie stark du bist.", antwortete Olivia ihm und setzte sich neben ihn auf die Bank. Ihr langes Haar warf einen Schatten auf ihr Gesicht. "Ich habe mein halbes Leben auf dich gewartet."
"A-auf mich?". stotterte Kyle. "Ich verstehe nicht. Ich verstehe nichts."
"Ein guter Soldat sucht keine Antworten, er fragt nicht.", sie hob den Finger, als er protestieren wollte. "Das tut nur ein großer Soldat. Ein Anführer. Diese Welt braucht einen großen Soldaten."
Er schüttelte den Kopf. "Wir haben Frieden, die weiße Armee sorgt dafür, die Großen-"
"Die Großen", schnitt Olivia ihm harsch das Wort ab. "Sind Kreeten wie wir anderen auch. Sie besitzen große Macht, sie besitzen großes Wissen, aber sie sind nicht frei von Fehlern. Und sie sind alt. Weißt du, warum sie die Großen der Weißen Armee sind?" Ihr forschender Blick machte Kylaniel nervös.
"Weil sie die ersten waren, die auserwählt wurden, den Weg des Lymra zu gehen." Er sah die Bitterkeit in Olivias Augen. "N-nicht?" Schon lange hatte er sich nicht mehr so sehr wie ein kleiner Schuljunge gefühlt.
"Sie können die Geschichte natürlich erzähle wie sie wollen, schließlich sind sie die einzigen Zeitzeugen dieser Zeit. Sie wurden nicht auserwählt, sie entdeckten, welche Macht Lymra ihnen verleihen konnte. Und sie nahmen sich diese Macht und nutzen sie, um unsere Welt zu erneuern, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden."
"Woher willst du das alles wissen?", fuhr Kyle sie an. Sie sprach furchtbar abfällig über die Großen, die drei, denen sie alle ihre Treue geschworen hatten, die drei, die sie in die tiefsten Geheimnisse dieser Welt eingeweiht hatten. "Und die Entdeckung des Lymra war die Rettung dieser Welt, es ist das Wunder, denn die Konsequenzen bleiben aus!"
Jedes Kind in Ilysia war mit der Geschichte groß geworden. Der jahrhunderten alten Geschichte einer Welt, die kurz vor der Vernichtung stand. Jegliche Engergiequelle der Welt war ausgeschöpft. Die Créeten entwickelten Technologie immer schneller weiter und brauchten mehr und mehr Energie. Politische Konflikte, Kriege, hatten viele Teile der Welt schon zerstört. Und dann wurde eine neue Energiequelle entdeckt. Eine saubere, unerschöpfliche, die auf einen Schlag alle Probleme lösen konnte. Damit niemand einen Krieg um diese Energiequelle anzetteln konnte, hatte sich die Weiße Armee erhoben, unabhängig von allen Machtistitutionen dieser Welt. Und sie räumten auf. Radierten den Dreck der alten Welt aus und erschufen eine neue Welt, in der niemand unter einem anderen zu leiden hatte.
Olivia schüttelte den Kopf, nun eher traurig, als wütend. "Es gibt immer Konsequenzen. Sie haben diese Stadt und diese Welt geschaffen, ja sie haben viel Leid beendet, aber glaubst die, das war ein rosiger Weg? Die erste Konsequenz, das waren ihre Seelen. Sie haben gemordert und alles was nicht in ihre neue Weltordnung passte zerstört. Als sie fertig waren, suchte sie sich die Créeten, die die ersten Parteien einer neuen Welt gründen solten, die die Asche aufgeräumt haben. Und sich selbst erhoben sie in das Licht von Heiligen."
"Woher willst du das alles wissen?!" Kyle war aufgesprungen, schwankte kurz und musste sich an der Hausmauer abstützen, um sein Gleichgewicht halten zu können. Olivia streckte die Hand aus und berührte sanft seinen Arm, ein warmes Prickeln für von ihrer Berührung in ihn hinein und sofort hörte die Welt sich vor seinen Augen zu drehen.
"Ich war dort."
Verdutzt starrte Kyle sie an. Sie erhob sich ebenfalls und wanderte ein paar Schritte von dem Haus weg, auf die Küste zu.
"Ich habe alles erlebt. Ich bin die letzte, die die Geschichte weiter erzählen kann. Die erste Armee wurde aufgelöst, jeder Soldat gab seine Macht zurück in das Lymra und wurde wieder sterblich. Sie waren eine Armee des Krieges und die Großen brauchten nun eine Armee des Friedens. Nur mir ließen sie die Macht." Kyle stellte sich neben sie, schob ihr Haar zurück, sodass er ihr in die Augen sehen konnte.
"Wieso? Wieso sollte ich dir das alles glauben."
"Weil ich die Tochter von Helena bin. Und ihr Fehler ist es, egoistisch zu sein, sie konnte mich nicht gehen lassen, mich mein Leben leben und sterben lassen."
Kyle stolperte einen Schritt zurück. „Du- du bist Helenas Tochter?" Verbitterung huschte für einen Moment über Olivias Gesicht.
„Glaub mir, ich habe diesen Umstand oft genug bedauert."
Innerhalb von einer Sekunde waren tauschen neue Fragen in Kyles Kopf geschossen. „Dann warst du von Anfang an dabei? Als das Lymra entdeckt wurde?"
Olivia nickte langsam. „Das war keine Schöne Zeit. Versteh mich Kylaniel, ich möchte nicht alles, was die Großen getan haben schlecht reden. Diese Zeit ist für die meisten Créeten die unbeschwerteste. Aber es liegt nicht in unserer Natur zu stagnieren. Wir verändern uns ständig. Nicht immer zum Besseren. Und jetzt fühle ich das selbe Gefühl, die selben Schwingungen wie damals, als meine Mutter und die anderen den Krieg begonnen haben, der Ilysia völlig verändern sollte. Etwas wird kommen."
Ihr Blick war fest auf seine sturmgrauen Augen gerichtet. Er legte den Kopf sanft schief und versuchte zu ergründen was hinter ihrem Blick lag.
„Es geht dir noch immer um die Créeten. Auch wenn dein größter Wunsch ist zu sterben, wirst du deine Pflicht nicht einfach aufgeben.", stellte er fest. „Aber an was glaubst du? Woher kommt diese tiefe Hoffnungslosigkeit in dir?"
Ein Funkeln trat in die smaragdgrünen Augen. „Du bist wahrlich etwas Besonderes. Mein Instinkt hat mich nicht getäuscht."
Kyle schnaubte leise. „Was siehst du denn besonders in Mir?"
„Merkst du das überhaupt? Dieses Talent? In die Seele deines Gegenübers blicken zu können. Seine tiefsten Geheimnisse und Gefühle ergründen zu können, nur durch einen Blick in ihre Augen."
Kyle ging ein paar Schritte von der Hütte weg Richtung Strand. Der Sand glänzte weiß unter der Sonne. Er verfolgte mit den Augen ein Paar Möwen, das im Sand um etwas stritten.
„Das kommt doch nur vom Lymra. Das ist doch nichts Außergewöhnliches.", er sprach leise, aber er wusste, dass Olivia ihn ohne jedes Problem verstehen konnte. Schließlich war das eine der vielen Fähigkeiten, die der weiße Kristall ihnen allen verliehen hatte.
„Nein, Kyle. Ich habe nie jemanden wie dich erlebt. Und ich bin mir sicher, dass das Lymra dich aus erwählt hat. Weil es spüren kann, was ich spüre. Und du hast recht, mit allem. Auch damit, dass ich hoffnungslos bin. Aber ich sehe ein Licht, das heller leuchtet, als jedes andere. Ich lebe jetzt so lange, dass ich den glauben verloren habe. Aber ich weiß, dass ich an dich glauben kann. Zum ersten mal seit Jahrhunderten kann ich glauben, dass alles gut wird."
Als Kyle den Kopf wandte um in ihren Augen die Ehrlichkeit ihrer Aussage lesen zu können, sah er tiefes Vertrauen und Wahrheit.
Aber wie konnte sie an ihn glauben, wenn er sich nicht selbst so sehr vertrauen konnte?
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2050 - Rule one
Science Fiction- Schwer atmend hielt ich in einer Querstraße zu seiner Wohung an und keuchte: "Da ist es." Zed beugte sich vor (kein Stück aus der Puste übrigens) und zog sogleich den Kopf wieder zurück. "Oh shit!" "Was?!" Ich sah jetzt meinerseits um die Ecke und...