Ruhe im Sturm

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Deutschland, 24. Februar 2050

Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal, zog mich an dem Treppengeländer hoch. Die Fensterfront neben mir ließ einen Blick in schwindelnde Tiefe zu. Die herausgebrochenen Scheiben machten die Sache nicht besser. Regen hatte den Boden an diesen Stellen in eine Rutschbahn verwandelt. Hier zu stürzen und aus dem Fenster zu stürzen war keine rosige Aussicht.
Aber langsamer zu laufen war auch keine Möglichkeit. Denn je höher wir kamen, umso besser wurde der Blick über die anderen Häuser hinweg auf eine wirbelde Wand aus Wasser.
Das Dröhnen und Rauschen wurde lauter und erinnerte uns die ganze Zeit daran, in welcher Gefahr wir schwebten.
Poke fluchte, als er vor mir auf der Treppe ausrutschte, Alli noch immer in den Armen. Sie bremste ihn aus und bei jedem Straucheln lief sie Gefahr aus seinen Armen zu rutschen.
"Gib sie mir.", Ginger schob sich an mir vorbei. Nach hunderten Stufen war er noch immer nicht aus der Puste.
Er war der Einzige, der nicht auf den Stufen strauchelte.
Er bückte sich und zog das Mädchen in seine Arme.
Sie schlang ihre kleinen Ärmchen um seinen Hals und krallte sich in seinem Pulli fest für besseren Halt.
Poke nickte dankbar und zog sich am Geländer wieder hoch.
Ich hatte den kurzen Moment genutzt um wieder Atem zu schöpfen. Meine Beine brannten und alles was ich wollte, war stehen bleiben.
'Sie lassen es wachsen.', teilte Meyro mir im Stillen mit. Ich klammerte mich ans Geländer und lehnte mich ein Stück vor, um eine bessere Sicht zu haben. Die Wasserwand bewegte sich schwindelerregend schnell auf uns zu und schien mit jedem Meter zu wachsen.
Ich wirbelte herum und rannte weiter.
Meine Füße rutschten auf den Stufen ab und ich zog mich an dem rutschigen Treppengeländer weiter.
"Können sie die Welle unendlich wachsen lassen? Dann haben wir keine Chance!", schrie ich. Ja, ich schrie Meyro an, auch wenn es gereicht hätte den Satz zu denken.
'Keine unendliche Kraft. Auch sie haben Grenzen. Lauf.'
Wie beruhigend, wir hatten also eine minimale Chance.
Also hörte ich auch Meyro und nahm die Beine in die Hand. Inger schnaufte knapp hinter mir. Er hatte den Vorteil einer besseren Kondition. Wie jeder hier. Aber wir konnte ja nicht alle unsterblich oder Geheimagenten sein.
„Wir sollten hoch genug sein!", rief Poke, als wir vor uns an der Wand eine große gemalte 5 sahen. Siebter Stock...
„Lasst uns lieber noch ein Stück laufen!", schrie ich zurück Es war inzwischen sehr schwer, sich über das Brausen der Welle hinweg zu unterhalten.
Niemand war begeistert davon, dass unser Treppenmarathon noch nicht enden sollte, aber das war immer noch besser, als von wirbelnden Wasserfluten überrollte zu werde.
Ich übernahm die Führung, sah immer wieder aus dem Fenster und schätzte aber, wie weit wir noch kommen konnten. Das Adrenalin verlieh mir ungeahnte Kraftreserven. In jedem anderen Fall wäre ich sicher längst zusammengebrochen, aber so schaffte ich es noch die nächste und die übernächste Treppe zu nehmen.
Ich sprang gerade die letzten Stufen zum achten Stock hinauf, als Zed von hinten schrie. „Vorsicht, festhalten!"
Ich klammerte mich ohne zu überlegen an das Geländer neben mir, Regen schlug mir durch eine zersprungene Scheibe ins Gesicht. Dann schlug die Welle auf.
Ich konnte das dunkle wirbelnde Wasser wenige Stockwerke unter uns ausmachen, weiße Gischtwolken stoben Meterweit in die Höhe und klatschten auf den Boden, durchnässten meine Sneaker.
Der Aufprall war heftig. Es war wie der Aufprall zwischen Bus und Fußgänger. Und wir waren in diesem Fall der Fußgänger.
Das Geräusch war ohrenbetäubend, das gesamte Gebäude bebte, ruckte und ächzte. Die Vibration stieg von unten hinauf, lief durch das Geländer und machte es unmöglich sich weiter festzuhalten. Meine ermüdeten Hände wollten nur noch loslassen. Die nassen Metallstangen wollten mir sowieso schon aus den Fingern rutschen.
Meine linke Hand rutschte zuerst weg, der Boden wurde mir durch die Erschütterung unter den Beinen weggerissen und ich rutschte seitlich auf die Fensterfront zu. Mit der rechten Hand umklammerte ich das Geländer so fest ich konnte, aber das Gebäude war wie ein bockiges Pferd, dass mich unbedingt in den Tod stürzen wollte.
Meine Finger rutschten weg. Ich schrie, als ich über den nassen Boden rutschte, Glassplitter bohrten sich in meine Jeans und kratzten an meiner Haut.
Während manche Dinge im Leben so schnell passieren, dass man keine Zeit hatte um nachzudenken oder zu reagieren, passierte das hier wie in Zeitlupe. Ginger erzählte später, dass es wirklich nur wenige Sekunden gedauert hatte, bis ich über den Boden und auf das kaputte Fenster zu gerutscht war. Aber mir kam es in diesem Moment so vor, als hätte ich alle Zeit der Welt. Ich blickte auf den Abgrund der sich vor mir auftat und dachte daran, dass ich vielleicht ja überleben konnte, wenn ich in das Wasser stürzte. Aber das musste ich nie herausfinden. Denn das nächste, das mir in den Blick kam, war eine Stahlstrebe, der Fensterrahmen, der jetzt nutzlos war, ohne Fenster, das er halte konnte.
Nicht ganz nutzlos. Ich streckte die Hand aus, drehte mich im Rutschen und packte zu.
Mit einem Ruck endete meine Rutschpartie, ich klammerte mich mit beiden Armen fest, meine Beine rutschten über den Rand und baumelten in die Tiefe.
Unwillkürlich schoss mein Blick hinab, auf eine dunkle wirbelnde Masse, die in ihrer Gewalt alles mit sich riss. Ich konnte Autos und Gebäudeteile ausmachen, die in dem Wasser hinauf und hinab gedrückt wurden, nur um an unser Gebäude gepresst zu werden. Das Wasser unter mir wurde immer weniger, bahnte sich seinen Weg um das Hindernis aus Glas und Metall und setzte seinen Weg der Zerstörung fort.
Zurück ließ es Chaos und Zerstörung.
Das Gebäude ächzte noch immer als das Wasser längst fort war, aber es vibrierte nicht mehr. Ich zog mich an dem Stahlträger hoch und schwang meine wackeligen Beine wieder zurück ins Innere.
Zed streckte sich mir entgegen, fasste meinen Arm und zog mich über den glatten Boden zurück in Sicherheit.
Mir viel auf, dass der Boden nicht mehr gerade war, sondern leicht abfiel. Das Wasser hatte versucht das Gebäude mit Gewalt in die Knie zu zwingen.
Wir alle harrten noch einen Moment aus, als würden wir fürchten, das Wasser würde umkehren und uns noch einmal überrollen.
Aber das Brausen wurde leiser, bewegte sich von uns fort und war bald nicht mehr unter dem lauten Pladdern des Regens zu hören.
Der Wind pfiff durch die zerbrochenen Fenster und erzeugte um uns herum ein unheimliches Sausen.
Zed war der erste, der sich wieder aufrichtete. Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und zog den Rucksack wieder richtig über die Schultern.
"Alle heil?", seine Stimme war atemlos. Ich blickte mich unter den anderen um, mein Blick suchte unwillkürlich zuerst nach Ginger. Er war da, hielt die kleine Alli in den Armen, die ihre leuchtenden Augen fest zu gekniffen hatte und deren blondes Haar dunkel vom Wasser war.
Ginger sah recht gefasst aus, etwas hektischer und unruhiger als sonst, aber alles in allem nicht, als wäre etwas besonderes passiert. Jemanden zu schrecken der bereits vor tausenden Jahren im Weltall herumgereist war, musste auch schwer sein.
Dafür ging es Poke und Inger wesentlich schlechter. Sie sahen abgekämpft aus, hatten ihre sonst so gefasste Art verloren.
Poke hatte sich auf den Boden fallen lassen, einen Arm noch immer um das Geländer geschlungen, als fürchte er, die Wassermassen könnten umkehren und uns noch einmal angreifen.
Inger versuchte mit aller Macht seine Kleidung zu glätten und dabei seine zitternden Hände zu verbergen. Aber es gelang ihm nicht. Als er meinen Blick bemerkte, verschränkte er die Arme und sah in die andere Richtung. Es war ihm sichtlich unangenehm, die Fassung verloren zu haben. Auch wenn ich darin keine Schande sah.
Die Welt war aus der Fassung geraten, wir alle hatten das Recht dazu ein bisschen hilflos zu sein.
Ob abgekämpft oder abgekämpfter, das wichtigste war, dass wir alle noch da waren. Niemanden hatte es in die Tiefe gerissen. 
"Was sollen wir machen?", fragte ich schließlich. Weiter in diesem Treppenhaus zu stehen, erschien mir nicht die beste Möglichkeit.
"Wir brauchen einen trockenen Ort, an dem wir uns ein bisschen ausruhen können. Niemand hat noch viel Kraft."
Ich deutete auf den schrägen Fußboden. "Nicht, dass ich der Statik des Gebäudes nicht traue, aber ich würde mich wohler fühlen, wenn wir wieder runter gehen." Niemand widersprach mir, keine war begeistert von dem Gedanken noch höher hinauf zu müssen.
Der Gedanke nach unten gestaltete sich wesentlich einfacher. Keine Panik die uns antrieb, nur Erschöpfung, die unsere Schritte bremste.
Mit jedem Schritt den ich tat, begann meine Sicht mehr zu verschwimmen. Ich war es Leid davon laufen zu müssen, ich war die Angst leid und die Ungewissheit.
Ich wollte mich einfach nur hinsetzten. Und schlafen. So lange schlafen.
Aber das wäre die der Tod im Schnee. Sobald man aufhört zu laufen, wird man langsam sterben. Ohne es wirklich zu merken.
Eine Hand berührte meine Schulter. Ohne aufzusehen wusste ich, das es Ginger war.
"Wie endet das hier?", fragte ich leise, konnte die Verzweiflung nicht aus meiner Stimme verbannen.
"Ich weiß es nicht.", Gingers Stimme war ruhig, sanft. "Aber ich weiß, wie es weiter geht. Wir werden kämpfen. Wir geben nicht auf. Diese Welt wird sich das Gravar nicht holen."
"Ich hoffe du hast recht."
"Woran glaubst du, Kassie?", Ginger blieb stehen und sah mir fest in die Augen. Sein sturmgrauer Blick ließ mich nicht los.
Ich zuckte mit den Schultern. "Woran soll ich schon glauben?"
"Die Menschen glauben an so vieles. Aber dabei vergessen sie den wichtigsten Glauben. Den in sich selbst. Glaub an dich, an uns. Daran, dass wir es schaffen."
"Ich versuch es ja. Aber können wir es denn schaffen?"
"Das entscheidest du allein. Du führst diesen Kampf. Niemand kann dich besiegen, solange du an dich glaubst. Erst wenn du den Glauben verlierst, werden sie dich endgültig besiegen."
Ich lächelte. "Schön hast du das gesagt. Richtig poetisch. Glaubst du an dich?"
Ginger erwiderte mein Lächeln, aber er antwortete nicht. Ich fragte mich, wann er aufgegeben hatte, wann er sich aufgegeben hatte. Ich sah es in seinen Augen.
"Seit wann?"
"Was?", verwirrt sah er mich an, aber sein Blick ging an mir vorbei.
"Seit wann du den Glauben verloren hast. In dich."
"Ich kann nicht sterben. Aber ich wollte es oft." Langsam hob er die Hand, zaghaft, als fürchte er, ich würde sie wegstoßen. Mit dem Finger fuhr er über meinen Wangenknochen, zwirbelte eine Haarsträhne von mir um seinen Finger.
"Jetzt glaube ich. Ich glaube an dich."
Mit diesen Worten ließ er die Hand sinken und setzte seinen Weg die Treppe hinab fort. Und mich ließ er mit Kribbeln im Bauch stehen.
"Nur keinen Erwartungsdruck.", murmelte ich und rieb mir über den Bauch. Ich musste Hunger haben. Wahnsinnigen Hunger. Ich sollte etwas essen, dann würde das Gefühl schon weggehen.
Zwischen dem zweiten und dritten Stock endete unser Abstieg. Vor uns schwappte Wasser über die Stufen, den Boden. Verschluckte die Welt darunter.
Das Meer war ans Land gekommen und setzte Meterhoch alles unter Wasser. Ein Gummischuh trieb vor dem Fester vorbei.
Es war ein trauriger bunter Fleck in dem dunkeln Wasser. Ein Anblick, den ich nie vergessen würde.
Die letzten Monate hatten allen Menschen schon so viel genommen. Vielen das Leben.
Und alle die noch hier waren hatten keine Chance. Nur eine vielleicht, mich und meine Freunde.
Ich bückte ich und streckte die Hand mach einem treibenden Stück Papier aus. Ich fischte es aus dem Wasser und hielt es an einer Ecke.
Das Wasser perlte davon ab und nahm die Farbe vom Bild. Dennoch konnte ich die lächelnden Gesichter darauf erkennen.
Das Mädchen darauf war sicher nicht älter als Alli.
"Kassandra, kommst du?", Zed war als letzter mit mir auf dem Treppenabsatz zurückgeblieben, der Rest hatte sich bereits im höheren Stock zurückgezogen und begonnen die Räume zu durchsuchen.
Ich ließ das Foto wieder ins Wasser fallen und sah dabei zu, wie die Erinnerungen davon trieben.
Dann folgte ich Zed durch eine Tür ins Innere des Gebäude.
Wir kamen auf einen Flur mit abgeblätterten Wänden und dreckigen Fußböden. Der ausgestorbene Gang führte zu mehreren Büroräumen.
Wo einst Menschen ihren Arbeitsalltag bestritten hatten, herrschte nun heilloses Chaos.
Nichts war mehr dort, wo es hingehörte.
Die Drehstühle waren wild im Raum verteilt, ihr Stoffbezug arg in Mitleidenschaft gezogen. Stifte und Papiere waren auf den Böden und Möbeln verteilt.
Wir lugten in sämtliche Räume und in einem auf der Hälfte des Ganges entdeckten wir den Rest.
Ginger hatte seine Aufmerksamkeit auf einen der Schreibtische gerichtet und stöberte in ein paar Papieren. Allie saß auf eben jenem Schreibtisch und hielt Pug am seinen zwei Pfoten und ließ ihn tanzen.
Poke und Inger unterhielten sich leise ein Stück entfernt. Ich hätte gerne gewusst worüber. Mir fiel auf, dass ich da nicht die einzige war.
Gingers Finger durchsuchten vielleicht die Papieren, doch seine Augen taten es nicht. Sein Blick ging ins Leere, er schien auf etwas anderes konzentriert.
"Verstehst du sie?", fragte ich leise und trat neben ihn. Ginger nickte langsam und hob den Finger, damit ich schwieg.
"Sie diskutieren, was sie jetzt machen sollen. Sie sind nicht begeistert hier mit uns fest zu sitzen."
"Kann ich mir vorstellen. Ihr ärgster Gegenspieler, ein Unsterblicher und ein Freak in dem ein Alien wohnt, nicht gerade prickelnd."
Ginger warf mir einen ironischen Seitenblick zu.
"Wir sollten nicht bei ihnen bleiben.", er hatte die Stimme so weit gesenkt, damit nur ich ihn verstehen konnte.
"Aber sie helfen uns!", protestierte ich.
"Jetzt helfen sie uns, ja. Aber dabei wird es nicht bleiben. Kassie, sie haben dunkle Seelen. Sie sind keine netten Menschen, sie sind Mörder und Spione. Und genau das steckt in ihnen. Damit werden sie versuchen zu überleben."
Ich schüttelte vehement den Kopf, auch wenn eine nagende Stimme mir sagte, er könnte recht haben. "Menschen ändern sich.", zischte ich, hob Allie vom Schreibtisch und ließ ihn stehen.
War es naiv von mir, noch immer an das Gute glauben zu wollen?
Aber als mein Blick auf Alli fiel, wusste ich, dass es das nicht war.
Wenn ich diesen Kampf führen wollte, dann für das Gute.
Alli half mir mit Begeisterung unsere Decke an einer Wand zwischen zwei Schreibtischen auszubreiten. Sie plapperte die ganze Zeit davon, dass wir ein ganz tolles Lager bauen würden. "Hier ist die Küche, schau. Da musst du das Essen rein tun." Sie deutete unter den Schreibtisch links von uns.
"Hier?", hakte ich nach und schon den Rucksack mit unserem Proviant darunter. Alli nickte begeistert.
"Und Pug ist unser Wächter." Sorgfältig platzierte sie ihn auf der Tischplatte, sodass er auf uns herab sah. Ich lächelte. "Einen besseren Wächter kann man sich gar nicht wünschen."
Sie nickte begeistert.
"Hast du Hunger?", fragte ich sie und griff nach dem Rucksack, aber sie stoppte mich.
"Was machst du denn?", wollte sie entrüstet wissen und verschränkte ihre kleinen Ärmchen. "Du musst in der Küche kochen!"
"Oh, na klar." Ich quetschte mich an ihr vorbei unter den Schreibtisch. Zwei mal kollidierte mein Kopf mit dem Holz. Allyikicherte vergnügt.
Ich wühlte in unserem Rucksack herum und murmelte dabei Dinge wie "Noch etwas Salz" und "Das ist noch zu kalt." damit Alli Freude hatte.
"Voilà." Ich bugsierte eine Packung Kekse und kalte Dosensuppe unter dem Tisch hervor.
Alli schnappte sich gleich mehrere Kekse und stopfte sie sich in den Mund. Ich lachte angesichts ihrer nun riesigen Hamsterbäckchen.
Nur mit Mühe schaffte ich es wieder unter dem Tisch hervor (nur eine weitere Beule an meinen Kopf dieses mal) und machte es mir an der Wand bequem.
Wir futterten unsere Kekse und  tranken unsere Suppe und Alli wurde mit jedem Keks ruhiger.
Mitten im Essen schlief sie einfach ein. Ich lächelte und fuhr ihr mit der Hand durch das zerzauste Haar.
Sie sah so vertrauensvoll und friedlich aus. Sie war so unschuldig in einer so grausamen Welt. Seit sie bei uns war, wusste ich, warum ich diesen Kampf führen wollte. Nicht um meinetwillen. Nein, um ihretwillen und all den anderen Menschen, die so rein und unschuldig waren, die ein Recht darauf hatten ihren Weg zu gehen.
Ich blickte überrascht auf, als sich über mir jemand räusperte. "Kann ich-", begann Ginger, doch ich unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln und einem Deuten auf Alli. Ginger verstand, dass er leise sein sollte und deutete auf den Platz neben mir, um dann fragend eine Augenbraue zu heben.
Ich nickte und rutschte ein Stück, um ihm Platz auf der Decke neben mir zu machen. Geschmeidig ließ Ginger sich neben mir sinken und zog ein Bein nah zum Körper, das andere streckte er lang aus. Ich sah seiner Fußspitze zu, die zu einer stummen Melodie wippte.
"Alles wieder gut.", murmelte ich schließlich, ich auf unsere Auseinandersetzung von zuvor beziehend. "Ich kann deine Bedenken ja verstehen. Aber wir müssen einander helfen."
"Wir müssen nicht jedem helfen, Kleines. Die erste und wichtigste Regel: Überlebe, kämpfe um dein Überleben, um jeden Preis."
Ich legte vorsichtig eine Hand auf seine und drückte sie. Sein Blick huschte zu mir, ich wusste, er erkannte mein Mitleid darin. Er hatte länger gelebt als ich, Jahrtausende länger, hatte Weisheiten gesammelt, von denen ich nur träumen konnte, aber auf dem langen Weg hatte er etwas verloren. Den Glauben in das Gute, an den Zusammenhalt.
"Was habe ich davon, wenn ich überlebe, wenn ich als einzige übrig bleibe? Wenn ich verrate, an was ich glaube? Dinge tue, mit denen ich nicht leben will? Das wichtigste ist nicht, um sein eigenes Überleben zu kämpfen, sondern um das der anderen, um das jedes anderen. Und irgendwer wird auch um mein Überleben kämpfen und mich retten. Allein kannst du vielleicht überleben, aber niemals leben."
Ginger hob sanft meine Hand an sein Gesicht und küsste ihren Rücken. Es war eine weiche, warme Berührung, die kleine Stromstöße meinen Arm hinabschickte, ein Kribbeln in meinem Bauch verursachte. "Ich habe lang niemanden mehr getroffen, wie dich, Kassie. Jemand so guten."
"Du hast nur nie zugelassen, dass die Menschen dir das Gute in ihnen zeigen.", wisperte ich, kaum fähig zu sprechen. Ich saugte die Wärme seiner Hand, die in meiner lag, geradezu auf, wollte noch einmal die Berührung seiner Lippen spüren.
Meine Augen flackerten von unseren verschränkten Fingern hoch zu seinem sturmgrauen Blick und ich sah Funken darin sprühen, Wärme, die selten in diesen Augen lag. Was war dieses Prickeln, das mich jedesmal überkam, wenn er mir berührte oder ansah?
Langsam rutschte ich ein Stück näher zu ihm und lehnte meinen Kopf an seine Schulter, ließ mich von ihm in den Arm nehmen und schloss die Augen.
Erst jetzt fühlte ich die Erschöpfung in jedem meiner Gliedmaßen, meine Beine waren schwer, meine Arme taub. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft um zu gähnen.
Auf der einen Seite kuschelte sich Alli an mich, auf der anderen spendete Ginger mir Wärme. Das Rascheln von Stoff und eine Bewegung von Ginger neben mir, waren alles, was mir zeigte, dass er eine Decke über uns zog. Genau hier und genau jetzt fühlte ich mir so unendlich sicher. Es war egal, das draußen ein Sturm tobte, dass der Regen gegen das Gebäude klatschte und der Wind das ganze mit einem Heulen untermalte. Jetzt gerade war die Welt wieder perfekt. Aber ich wusste, sobald ich die Augen wieder öffnen würde, wäre sie es nicht mehr.

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Endlich gibt es mal wieder ein Kapitel! Und in der langen Zeit, in der ich mich nicht gemeldet habe, haben sich ein paar Änderungen ergeben. Am Wichtigsten: Falls ihr euch an das Kapitel "Ein Ziel" erinnert, dort haben Kassie und Zed erkannt, dass sie nach Israel müssen, um das Gravar zu besiegen. Jetzt müssen sie nicht mehr ganz so weit reisen, sondern nur zurück zu Kassies Heimatort.

Verzeiht mir die Änderungen in bereits veröffentlichten Kapiteln, die euch vielleicht verwirren, genauso wie Logik- und Schreibfehler, was ihr lest ist die allererste, rohe Rohfassung, roher gehts gar nicht. Überarbeitungen folgen, wenn Kassie ihren Kampf ausgefochten hat und wir am Ende der Geschichte sind.

Gebt mir gerne Feedback, vor allem, wenn ihr einen RIESEN Logikfehler entdeckt, als Autor ist man manchmal zu nah dran, um alles zu sehen ;)

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt