Innere Stimme

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Deutschland, 17. Januar 2050

Ich wurde von einer wütenden Stimme und einem lauten Knall unsanft aus dem Schlaf gerissen. Erschrocken schoss ich auf meinem Bett hoch und blickte wild um mich. Nur eine Lampe brannte und tauchte den Raum in Zwielicht, mangels Fenster konnte ich nicht schätzen wie spät es wohl war.
In der Düsternis konnte ich Umrisse erkennen, die sich als Ginger entpuppten. Er stand gegen die Wand gelehnt, angespannt, sein Blick war auf das helle Leuchten der einzigen Glühbirne, die brannte, geheftet.
"Ginger?", fragte ich vorsichtig und richtete mich vollends auf.
Sein Blick zuckte zu mir und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. "Entschuldige, wir wollten dich nicht wecken, Kleines." Er deutete wage mit der Hand durch den Raum.
"Wo ist Zed?" Ich stand auf uns zog meinen Pullie, der im Schlaf hochgerutscht war, wieder nach unten.
Ginger schnitt eine Grimasse und deutete zur Tür. "Abgehauen."
"Was ist passiert?", fragte ich seufzend, auch wenn ich es mir schon denken konnte.
"Er ist verbohrt und verdammt nervig. Kaum war ich wach, hat er wieder losgelegt. Will alles wissen und erzählt selber nichts.", brummte Ginger. Und ich musste ihm in diesem Punkt zustimmen. Natürlich hatte rr mir nie solche Löcher in dem Bauch gefragt. Es war eher umgekehrt gewesen. Aber das lag wohl auch daran, dass es in meinem Leben keine tiefen Geheimnisse hatte.
Na ja, bis auf das eine... wie mächtig das Gravar war. Aber davon konnte er nichts ahnen und ich hoffte, dass er ed auch mie herausfinden würde.
Ich weiß nicht, warum ich so vertrauenslos war. Er hatte mir geholfen, mehr als ein mal gerettet und doch...
Die einzigen Menschen denen ich bedingungslos vertraut hatte, waren tot. Beim Gedanken an meine Eltern bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Ich hatte ihnen vertraut, aber nur mit einem Menschen hatte ich jedes Geheimnis geteilt. Millie.
Wie viel würde ich darum geben, sie jetzt an meiner Seite zu haben.
"Kassie." Ginger legte sanft eine Hand auf meine Schulter. Tief in meinen Gedanken, hatte ich nicht bemerkt, wie er sich genähert hatte.
Ich sah auf und unsere Augen trafen sich. Seine grauen bohrten sich in meine, erkannten jedes Gefühl. Es war kein unangenehmer bohrender Blick, bei dem man das Gefühl hat, er würde dich völlig entblößen. Nein, er war irgendwie beruhigend...
Ein Blick, mit dem er erforschte was mir fehlte und mir zugleich den Trost spendete, den ich brauchte.
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. "Es ist alles okay.", ich wusste nicht wen von uns beiden ich überzeugen wollte.
"Ist es nicht."
"Ich will nicht mehr weinen, ich will dass... dass diese Enge in meiner Brust verschwindet, das Gefühl zu ersticken. In einem Albtraum festzustecken." Ein erstickter Schluchzer entfuhr mir.
"Der Schmerz hört nicht auf... Nie. Er wird", Ginger unterbrach sich einen Moment, bevor er weiter sprach. "Er wird erträglich, du gewöhnst dich an den Schmerz. Aber er geht nie weg, ganz egal wie viele Jahre, Jahrtausende auch vergehen."
Ich sah ihn an und erinnerte mich an das, was er mir im Wald erzählt hatte. "Ano...", sagte ich langsam. "Anothdary, dein Bruder."
Gingers Mundwinkel hoben sich leicht. "Du hast dir seinen Namen gemerkt."
"Natütlich." Ich lächelte jetzt meinerseits. "Das bedeutet dir etwas."
"Noch nie hat sich ein Mensch, den ich getroffen habe, seinen Namen gemerkt."
Betroffen sah ich ihn an. "Das tut mir Leid."
"Das muss es nicht. Diese Menschen haben mir auch nie etwas bedeutet."
Ich wusste nicht, ob das ein guter Moment war, aber ich musste es einfach ansprechen.
"Ginger sag mal... diese Dinge, von denen du manchmal redest. Dass du dich kaum noch an deine Kindheit erinnest, dabei kann das nicht nicht länger als zwölf Jahre her sein. Dann das hier. Auch nach Jahrtausenden vergisst man den Schmerz nicht."
Ginger unterbrach mich. "Kassie, du weißt, das ist nur so daher gesagt."
"Und diese Sache mit den Identitäten und dann das mit Poke! Was war da los?"
Ginger rückte von mir ab und zog die Stirn in Falten. "Fang nicht auch noch wie Zed an! Manche Dinge versteht man nicht auf Anhieb und manche gehen dich auch nichts an."
Ich versuchte ihm nicht zu zeigen, wie verletzt ich war. "Es tut mir Leid. Ich bin einfach... neugierig. Und das alles ist eben merkwürdig."
Ginger stand ruckartig auf. "Es geht dich nichts an." Seine Stimme war kalt. So hatte er noch nie mit mir gesprochen. Mit Zed vielleicht, aber nie mit mir.
"Ginger, bitte..."
"Willst du was essen?", unterbrach er mich und ging ohne auf eine Antwort zu warten Richtung Küche. Frustration stieg in mir auf und die Lampe flackerte heftig auf. Erschrocken spürte ich die Wärme, die Energie, die sich in mir regte. Ich wusste, dass die Lampe nur noch Sekunden davon entfernt war zu explodieren.
Ich atmete tief durch, beruhigte das Zittern in meinen Händen und damit das Flackern der Lampe.
Wie konnte ich nur so schnell die Kontrolle über das Gravar in mir verlieren? Ein bisschen Stress und schon war es um meine Beherrschung verloren.
Ich wartete noch eine Sekunde, bevor ich Ginger in die Küche folgte.
Er stand mit dem Rücken zu mir und bearbeitet sehr brutal eine Scheibe Brot mit dem Messer.
"Ginger?" Seine Schultern verspannten sich bei meiner Stimme.
"Es tut mir Leid. Ich werde dich nicht mehr fragen."
Er hörte auf das arme Brot zu misshandeln. "Ich will keinen Streit mit dir. Wir werden hier bestimmt eine Weile zusammen festsitzen, da ist dicke Luft nicht so besonders."
"Ja. Es tut mir auch Leid. Ich bin empfindlich, wenn es um meine Vergangenheit geht."
"Hab ich gemerkt." Ich lehnte mich neben ihn an die Anrichte und lächelte leicht. Er entspannte sich sichtlich.
"Trotzdem werde ich weiter nachforschen."
"Kassie-"
"Nein, hör zu.", unterbrach ich ihn dieses Mal. "Du bist mir wichtig und ich sehe, dass dich das belastet. Und darum werde ich weiter graben."
Er zögerte noch einen Moment, dann lächelte er. "Wenn ich damit leben muss, dass du mich nervst, mehm ich das in Kauf. So viel bist du mir wert."
"Na danke.", ich deutete mir einem Lachen auf das zerfetzte Brot. "Bin ich dir auch eine ganze Scheibe Bort wert?"
Er stimmte in mein Lachen ein und angelte eine neue Brotscheibe. "Wir haben Dosenaufstrich oder... Dosenaufstrich."
"Mhm, dann nehm ich Dosenaufstrich." Ich konnte das Grinsen nicht mehr aus meinem Gesicht wischen.
"Was hältst du dich davon, wenn ich uns Brote mache und du ziehst dich um?" Ginger zupfte an meinem Schlafpulli.
"Klar." Ich nickte und hüpfte aus der Küche, mit viel leichterem Herzen, als noch wenige Minuten zuvor.
Ich schnappte mir eine Jeans, ein Top und das Hemd von gestern und verzog mich ins Bad.
Ich hielt inne als ich meinen Pulli abgestreift hatte. Ich drehte mich so, dass ich meinen Rücken im Spiegel sehen konnte. Die schwarzen Linien zogen sich jetzt über mein Schulterblatt, weiter in meinen Nacken und begannen sich den Weg meinen Rücken hinab zu bahnen. Die bewegten sich, aber so langsam, dass es auch eine Sinnestäuschung sein könnte.
Wie war das nur möglich?
Ich legte meine rechte Hand auf meinen Arm und glaubte ein leichtes Pulsen und eine gewisse Hitze zu spüren, die von den tatooartigen Linien ausgingen.
Und ich wusste plötzlich mit Sicherheit, dass der zweite Sturm nun wirklich begonnen hatte.

2050 - Rule oneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt