Ich bekomme einen Korb

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Die Tage vergingen. Wenn ich nicht gerade Johannes half, übte ich entweder Schwertkampf oder starrte auf die endlose See. Manchmal las ich noch in den Büchern, die ich mir vom Käpt'n ausleihen durfte. Die meisten Piraten akzeptierten oder tolerierten mich mittlerweile, nun ja, außer Bill. Der bekam immer noch einen Wutanfall, wenn er mich nur sah, was auf diesem großen Schiff Gott sei Dank nicht allzu oft der Fall war. Der Käpt'n hatte sogar angeordnet, dass er in seiner Kajüte aß, da er nicht aufhörte, mich zu belästigen. Die Kapitänin und ich waren uns mit der Zeit sehr nahe gekommen, wir hatten ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut.

Irgendwann, nach dem Training, hatte ich plötzlich das unglaublich starke Bedürfnis, ihr ein Geheimnis anzuvertrauen. Wir lehnten gemütlich an der Reling und philosophierten über die Unendlichkeit und die Entstehung der Erde. (Wir einigten uns nach langem Diskutieren darauf, dass mit der Enstehung des Universums das Energieerhaltungsgesetz widerlegt ist...ich hab keine Hobbies) Ich plapperte das erste aus, was mir in den Sinn kam: "Atlas." Sie sah mich verwirrt an. "Atlas?" Ich nickte und streckte ihr die Hand entgegen. "Hi, mein Name ist Atlas und ja, ich hasse meine Eltern für diesen Namen." Die Frau mir gegenüber riss die Augen auf. Sie wusste, was für eine Offenbarung und Entblößung das war. Ich zog meine Hand zurück, als sie mich nur ungläubig anstarrte. Das war das erste Mal, dass ich sie gänzlich sprachlos erlebte. "Du musst deinen Namen nicht auch sagen", fügte ich schnell hinzu, damit sie sich nicht zu irgendetwas gezwungen fühlte. Sie sah zu Boden. "Das war...unerwartet." Ich lachte nervös. "Tschuldigung", sagte ich verlegen. "Nein, nein!", sagte sie mit einer abwehrenden Handbewegung, "Ich weiß das wirklich zu schätzen!" Ich merkte das Unbehagen in ihrer Stimme und nickte traurig. "Und jetzt ist es seltsam zwischen uns. Verzeihung." Ich wandte mich um und verließ schnellen Schrittes das Deck.

Reiß dich zusammen, dachte ich zähneknirschend. So schlimm war es ja gar nicht. Aber was, wenn doch? Nein, ich musste positiv denken. Ich eilte in die Küche, wo mich ein kaputter Johannes und ein nicht gekochtes Essen erwartete. Ohne ein Wort machte ich mich an die Arbeit. Mein Freund ließ es ohne Fragen zu. Er schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, aber dass ich nicht darüber reden wollte.

Beim Essen wechselte ich weder einen Blick noch ein Wort mit dem Käpt'n, auch, wenn ich merkte, dass sie die ganze Zeit versuchte, meinen Blick abzufangen. Sobald das Mahl aufgehoben wurde, stand ich überstürzt auf und sammelte, so schnell ich konnte, alle Teller ein. Während alle anderen aufstanden, blieb der Käpt'n einfach sitzen und beobachtete mich. Ich beeilte mich noch mehr, aber trotzdem war ich noch nicht fertig, als der letzte Seemann den Saal verließ. Der Käpt'n öffnete gerade den Mund, da erschien Johannes in der Tür. Erleichtert atmete ich auf, die Frau am Kopfende des Tisches knirschte genervt mit den Zähnen. Johannes sah verwirrt aus, sagte dann aber, wie immer ausgelassen: "Ich helf dir noch kurz, die letzten Teller aufzusammeln." Er nahm es mir Gott sei Dank ab, den Teller des Käpt'ns zu holen und zusammen verschwanden wir in die Küche. Die ganze Zeit folgte mir der Blick des Käpt'ns.

"Was ist denn jetzt schon wieder los?", fragte Johannes, kaum hatte er die Küchentür geschlossen. "Trouble in paradise?", fragte er grinsend. Ich verdrehte die Augen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er kann Englisch! Nur der Adel lernt Fremdsprachen. Sekunde. Und der Käpt'n kann auch Latein! Wie ist das möglich? Prüfend sah ich ihn an, aber fürs erste würde ich nichts dazu sagen. Als ich merkte, dass er mich immer noch erwartungsvoll ansah, wurde mir bewusst, dass er auf eine Antwort wartete. "Ähh, achso, haha, nein. Alles gut...und, wie kommst du überhaupt darauf?" Johannes grinste wissend. "Naja, es ist ja wohl sehr offensichtlich, dass du auf den Käpt'n stehst und sie scheint dich von und allen auch am wenigsten zu verabscheuen. Ich meine, sie gibt dir Schwertunterricht. Einfach so. Das ist so gar nicht unser Käpt'n." Hoch rot sah ich zu Boden. "Ich- also, wir- ich meine, das stimmt doch-" "Ah-ah-ah, lüg mich nicht an!", unterbrach mein Kumpel mich. Ich öffnete den Mund, beschloss dann aber, dass es eh sinnlos war. "Warum bist du ihr denn so aus dem Weg gegangen?", fragte er dann. "Bin ich gar-" Johannes sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ich habe ihr meinen Namen verraten", murmelte ich leise. Er hörte es trotzdem. "Bitte was?! Ich bin dein bester Freund und sie erfährt ihn vor mir?! Gemeinheit!", rief er gekränkt. "Johannes..." Da sah ich auf und merkte, dass er grinste. Er hatte mich verarscht. "Ey!" Ich boxte ihn und er lachte. "Was ist dann passiert?", fragte er.

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und am Schluss nickte er nachdenklich. "Was denn? Hey, du machst mir Angst!", sagte ich. Johannes grinste. "Ich verstehe, warum du gegangen bist, aber du solltest ihr noch eine Chance gibt, wenn sie mit dir reden möchte. Ich meine, heutzutage jemandem seinen Namen zu sagen, ist der größte Vertrauensbeweis, außer bei uns anderen Piraten, und du hast sie wahrscheinlich nur überrascht!" Ich nickte, ich verstand, was er meinte. "Gut", sagte ich, "wenn sie mit mir reden möchte, höre ich mir an, was sie zu sagen hat." Wir gaben uns ein High-Five und machten uns endlich an die Arbeit. Vielleicht ist es am Schluss doch keine Tragödie...

She saved me from the storm | ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt