Sie hätten mich wenigstens schön abbilden können

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Der Käpt'n unterrichtete mich inzwischen wieder und außerdem kämpfte ich jetzt jeden Tag gegen Johannes. Ich spürte, dass ich von beidem ungemein profitierte. Gleichzeitig tat mir dafür aber jeden Tag alles weh und ich bewegte mich nur noch, wenn ich musste. Jeden Abend fiel ich gerädert ins Bett und schlief sofort ein. Ich merkte auch, dass ich sehr viel Muskelmasse aufbaute, was ich davor nie getan hatte. Ich muss aber zugeben, dass ich das nie tun würde, wenn es nicht lebensnotwendig wäre...

Nach vielen Wochen voller Training und Müdigkeit, geschah endlich etwas Neues. Eines Tages nämlich rief Jack von oben laustark: "Land in Sicht!" Sowohl ich als auch Johannes sprangen auf die Füße, wir hatten uns gerade am Boden gerangelt. Wir sprangen beide so schnell es ging an Deck und lehnten uns weit über die Reling, um das entdeckte Land zu sehen. Wir freuten uns ungemein über diese Abwechslung, bis mir auffiel, was das bedeuten würde. Land. Fester Boden unter den Füßen, im Kontrast zu dem ewigen Schaukeln des Schiffes. Aber am Wichtigsten war, dass ich nun wieder nach Hause könnte. Nach Hause. Nach all diesen Monaten unter Piraten würde ich nach Hause kommen. Ich würde diesen Demirobots entfliehen können! Und da wurde mir plötzlich etwas klar.

Ich hatte es kaum gemerkt. Ich hatte kaum gemerkt, dass diese Piraten keine Menschen waren. Klar, sie waren stärker als ich. Aber ich hatte anhand Bill bewiesen, dass das ja nicht alles war. Manchmal sah ich bei besonders schweren Anstrengungen ein blaues Blitzen in den Augen, manchmal lief jemand bei einer Gefahr etwas zu schnell oder der Käpt'n schwang ihr Schwert so schnell, dass ihre Bewegungen vor meinen Augen verschwammen. Aber im Grunde genommen habe ich keinen Unterschied gemerkt. Sie waren keine willenslosen "Roboter" oder Killermaschinen. Sie hatten Gefühle. Sie spürten Schmerz, Zuneigung, Abneigung oder einfach Geborgenheit. Und ich musste zugeben, dass sie mir ans Herz gewachsen waren. Manche weniger als Andere (hust Bill hust) , aber im Großen und Ganzen waren sie fast wie ein Familienersatz gewesen. Ich hatte mich bei ihnen wohlgefühlt. Selbst, wenn ich manche Demütigungen aushalten musste oder mich oft beweisen musste, selbst, wenn die Arbeit hart und der Muskelkater schmerzhaft war, ich wusste doch stets, dass ich im schlimmsten Fall auf alle zählen konnte. Selbst auf Bill.

Und jetzt? Wollte ich hier überhaupt weg? Wollte ich überhaupt zurück...nach Hause? Zu Hause, wo die Regeln mir die Luft abdrückten, wo sich alle ununterbrochen wegen jeder Kleinigkeit stritten, wo mir die ganze Zeit jemand hinterherlief, um mich zu "beschützen", wo ich vor Regeln die Hand vor den Augen nicht sah. Und ich merkte, dass ich hier zum aller ersten Mal ich selbst sein konnte. Ich hatte mich entfaltet und mich selbst besser kennengelernt. Wollte ich das wirklich aufgeben?

Während ich noch hin und her gerissen war, wurde schließlich der Anker gesetzt und der Käpt'n stellte sich neben mich. "Willst du mitkommen?" Benommen nickte ich. Ich stieg langsam auf das Holzbrett, das sie zwischen dem Schiff und dem Festland besfestigt hatten. Sofort wackelte ich, mein Körper hatte sich gänzlich an die ständige Bewegung des Bootes gewöhnt. Ich taumelte und der Käpt'n griff schnell nach meinem Arm. Ich sah, dass sie auch kurz Balance finden musste, schien aber sonst Kontrolle zu haben. Unsicher und mit langsamen Schritten bestieg ich zum ersten Mal seit langem wieder Festland.

Die anderen Piraten gewöhnten sich viel schneller an die Umstellung, sie machten das anscheinend oft. Ich drehte mich um und hielt Ausschau nach Johannes, der Käpt'n aber sagte mit leichter Bitterkeit in der Stimme: "Er wird nicht kommen. Er passt auf das Schiff auf." Ich nickte unsicher. Wir schlenderten eine Weile durch die Gegend, damit ich mich an den Boden gewöhnen konnte, während die anderen Piraten sich umsahen und Essen kauften. Ich sog zum ersten Mal wieder genüsslich Blumenduft ein. Das hatte ich unterbewusst schrecklich vermisst. Zufrieden sah ich mich um. Ich war hier noch nie, das stand fest. Ich genoss die Atmosphäre, bis mir etwas ins Auge fiel und ich erstarrte.

Sofort drehte sich der Käpt'n auch um, aber ich riss sie schnell zurück und zeigte hilflos und gespielt begeistert auf das Meer. Sie sah mich verwirrt an und drehte sich dann erneut um. "Warte!", rief ich viel zu laut und zu panisch. Sie sah mir erneut in die Augen. "Schau-", stotterte ich hilflos," e-eine Möwe!" Jetzt hatte sie entgültig die Schnauze voll und eilte in die Richtung, von der ich sie gerade wegziehen wollte. Sie ging geradewegs auf ein aufgestelltes Holzbrett zu, auf dem Vermisstenanzeigen standen und blieb anschließend stehen. In der Mitte dieses Brettes hing ein Zettel, auf dem dick und fett mein Gesicht abgebildet war und auf dem stand: Vermisst: Prinzessin Atlas von Hesperidos

She saved me from the storm | ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt