Zungen schmecken ekelhaft

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So hatte ich mit meinen ersten Tag zurück auf dem Schiff definitiv nicht vorgestellt. Man hatte mich in der Abstellkammer an ein Regal gefesselt. Hier roch es nach Rattenkacke. Ganz ehrlich. Rattenkacke. Warum machten sie das? Sie wussten doch, dass ich nicht fliehen wollte, geschweige denn konnte. Ich seufzte und sank zu Boden. Wenigstens konnte ich mich vergewissern, dass es Johannes gut ging. Ich war sogar froh, Bill zu sehen. Jack, so wurde mir mitgeteilt, hatte die Rettungsmission nicht überlebt. Da wurde ich traurig. Nachdem er mir beim Kotzen zugesehen hatte, hatten wir nicht mehr die Chance gehabt, unter vier Augen zu reden. Klar, wir hatten innerhalb der Mannschaft miteinander geredet, diskutiert und gescherzt, manchmal hatten wir einander spielerisch beleidigt, aber das wars auch. Sehr oberflächlich also. Er war aber nicht der Einzige, der fehlte. Ich könnte nicht ihre Namen nennen, aber ich merkte, dass ein paar Gesichter fehlten. Ob sie bei der Rettungsmission oder beim Abwehren der Wachen gestorben waren, wusste ich nicht.

Ich fühlte mich plötzlich so schuldig. Vielleicht hätte ich es verhindern können. Ich hätte weiter gegen meinen Vater arbeiten sollen, hätte ihn davon abhalten müssen, all dies zu tun, hätte nicht einfach so dabei stehen dürfen. Ein Schluchzer entfuhr mir. Menschen taten schreckliche Dinge aus Angst. Mein Vater würde es sich niemals eingestehen, aber er hatte Angst. Angst, dass die Demirobots sich eines Tages gegen die Menschen wenden könnten. Angst, dass sie uns ausrotten würden, Angst, dass er seine Macht verlieren würde. Das war aus meiner Sicht bis zu einem gewissen Grad verständlich, allerdings brachte er Menschen um. Nur, weil er sie nicht eigenhändig umbrachte, hatte er sie nicht weniger auf dem Gewissen. Schreibtischtäter hatte man sie nach dem 3. Reich genannt. Diejenigen, die befohlen hatten, die Menschen zu töten. Von ihrem Schreibtisch aus. Als wären es nicht Menschenleben, die sie aushauchten. Als wäre es nicht Individuen, die Großes hätten bewirken können.

Wieder rief ich mir alle Begegnungen mit den übernatürlichen Kräften der Demirobots in Erinnerung. Keine davon erschien mir gefährlich oder gar tödlich. Natürlich konnten sie töten. Aber wenn es nicht notwendig war, taten sie es nicht. Es war etwas, das zwar immer da war, mich aber nie besonders beeinträchtigte oder mir auffiel. Ich fragte mich manchmal, ob mein Vater jemals einen Demirobot in Aktion gesehen hatte. Ich bezweifelte es.

"Prinzessin", sagte ein Mann, als er die Tür mit einem Schwung aufmachte und eintrat. Er kam mir nicht bekannt vor, also war er wohl von den anderen Widerstandskämpfern. Ich blickte auf. Er hatte ein eher weiches, milchiges Gesicht, er war vielleicht etwas älter als ich. Seine Haare waren blond und seine Augen braun, er hatte süße, kleine Stoppeln im Gesicht. Wann hat er bloß die Zeit gehabt, sich zu rasieren? Er grinste mich ermutigend an und dadurch ging es mir wieder etwas besser. Ich stand auf, war aber immer noch gefesselt und deutete mit einer Kopfbewegung auf meine Hände, die hinter meinem Rücken waren. Zuerst sah der Mann verwirrt aus, nickte dann aber und machte sich an den Ketten zu schaffen. Als er endlich die Fesseln aufbekommen hatte, seufzte ich erleichtert und ging steif ein paar Schritte. Der Blonde griff nach meinem Arm, aber eher vorsichtig, er wollte wohl nur nicht, dass ich weglief.

Ich sagte nichts und ließ mich von ihm an Bord führen. Ich atmete tief die Meeresluft ein. Da erst fiel mir auf, dass das Schloss eigentlich gar nicht so weit vom Meer entfernt gewesen war. Immerhin konnten wir zu Fuß gehen. Und all die Jahre saß ich brav in diesem langweiligen Schloss und hab Löcher in die Luft gestarrt, dachte ich verbittert.

An Deck erwartete mich eine kleine Menschenmenge, die lauthals diskutierten, ich hörte Geräuschfetzen wie: "...den Haien vorwerfen..." oder "...ist es nicht wert, darüber zu diskutieren...". Im Zentrum der Diskussion standen zwei bildschöne Frauen mit ausgeglichenem Gesichtsausdruck und viel Geduld in der Mimik. Sie redeten leise auf ihre Männer ein, also konnte ich nicht hören, was sie sagten. Das Tohuwabohu verklang aber sofort, als der Erste mich erblickte und laut "Prinzessin" rief. Bei diesem Titel wurde mir fast wieder schlecht.

Mein Blick heftete sich sofort an den Käpt'n, die mich unverwandt anstarrte und nichts sagte. Dafür ergriff Olivia das Wort: "Nun, hallo meine Schöne, wir sind uns noch nicht komplett einig über unser Urteil. Wir schwanken gerade zwischen Haiverfütterung und Erschießen." Ich musste wohl sehr geschockt dreingeschaut haben, denn da fing Olivia an zu lachen. "Das war ein Scherz, meine Güte. Wir sind doch nicht wie dein Vater." Ich zuckte zusammen und sie hielt inne. "Und du?" Ich sah sie verwirrt an. "Und ich...was?" "Bist du wie dein Vater?" Ich schluckte schwer, aber für mich war die Antwort glasklar: "Nein." Erstauntes Gemurmel erhob sich, bis Olivia die Hand hob. Sie starrte mich eindringlich an. "Die Frage ist: sagst du das jetzt aus Angst oder aus Überzeugung?" Ich wollte etwas sagen, aber ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Zunge, als sie plötzlich in innerhalb einer Millisekunde Nase an Nase vor mir stand. Geschockt stolperte ich zurück und fiel auf meinen Rücken. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst und ich hustete. Gelächter erhob sich und diesmal stoppte Olivia sie nicht. Sie stand unmittelbar über mir. Ich starrte angstvoll zu ihr hinauf. Ja. Jetzt hatte ich Angst. Bei der Mannschaft wusste ich, dass sie mich nie ernsthaft verletzen würden, weil die Kapitänin sie sonst zu Brei schlagen würde. Deshalb hatte sich Bill auch nie revangiert. Aber über Olivia hatte der Käpt'n keinerlei Befehlsgewalt, ich hatte das Gefühl, es war eher andersherum. Das war der Moment, in dem ich beschloss, niemals mehr einen Menschen aufgrund meines ersten Eindrucks zu beurteilen.

"Fein", sagte Olivia schließlich, "du darfst dem Küchenjungen helfen. Aber keinen Mucks. Ich warne dich." Ich nickte und stand alleine auf, auch, wenn sie mir eine Hand anbot. Da warf Bill mir plötzlich eine Schürze zu, die er wie aus dem nichts hervorgeholt hatte. Die Menge gröhlte und er sah sich selbstzufrieden um. In mir brodelte es, ich sagte aber nichts und behielt die Schürze an meine Brust gedrückt. Auch der Mann, der mich auf dem Weg zum Hafen mit sich gezogen hatte und den ich getreten hatte, klopfte Bill auf die Schulter und sah mich verächtlich an. Er spuckte vor mir auf dem Boden. Ich biss die Zähne zusammen. Keinen Mucks, hat sie gesagt...

She saved me from the storm | ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt