Kapitel 31

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Wir laufen eine ganze Weile. Erst als die Kräfte uns verlassen, verlangsamen wir unsere Geschwindigkeit.

Entgegen Nialls Vorschlag, auf einem Campingplatz unterzukommen, entscheiden wir uns für die anonyme Stadt. Hier achtet man weniger auf seine Mitmenschen. Auch ist uns schnell klar, dass Niall vorerst alles bezahlen muss. Denn sollte es tatsächlich irgendwelche Beweise gegen uns geben, wird man auch nach Liam und mir suchen. Niall war nicht mit in Montreal, ihn wird man nicht mit uns in Verbindung bringen.

"Was machen wir jetzt?", fragt Niall, als wir gerade in der hintersten Reihe des Busses sitzen, der nach San Francisco fährt. "Wir können auf keinen Fall zurück, das sollte euch klar sein", fängt Liam an. "Ich schlage vor, wir besorgen uns zuerst eine Schlafunterkunft und zwar keine Wohnung von Harry. Ich denke, es ist am besten, wenn wir in ein Hotel gehen."

"Ja und dann?", will Niall weiter wissen. Ich halte mich aus der Unterhaltung raus, dafür bin ich viel zu sehr durch den Wind. Liam ist solche Situationen vielleicht erprobt, aber mich wirft das vollkommen aus der Bahn, weshalb ich einfach nur stumm aus dem Fenster schaue.

"Und dann halten wir die Füße still. Wenn es wirklich einen Verräter gibt, wie Louis sagt, sollten wir uns in Acht nehmen. Zayn war vorhin nicht da, als Zatago gestürmt wurde. Er kann es auch gewesen sein."

Das kann sein. Es kann jeder sein. Genauso gut könnte ich gerade neben dem Verräter sitzen. Noch immer bin ich mir unsicher, ob das alles nicht eine Falle ist. Meine Theorie von vorhin könnte wahr sein, dass Liam mich an sich binden will. Das wäre so skurril. Bei Niall allerdings bin ich mir nahezu sicher, dass dieser nicht in der Lage ist, so eine Aktion durchzuziehen.

"Ach, da fällt mir ein... wir müssen noch unsere Handys entsorgen. Lasst uns die direkt aus dem Fenster werfen", holt mich Liam aus meinen Überlegungen. Blinzelnd drehe ich meinen Kopf zu ihm: "Meins kann ich behalten. Das ist nicht das aus Montreal." Und außerdem sind da von heute Morgen ein paar Bilder von Harry drauf, die ich auf keinen Fall wegwerfen möchte. Liam schaut mich mitleidig an, da ihm wahrscheinlich bewusst ist, dass dort Erinnerungen drauf sind. Oder er ahnt es. "Tut mir leid", wispert er leise.

Schweren Herzens ziehe ich das Handy aus meiner Hosentasche, um noch einmal das Display zum Leuchten zu bringen. Ein grinsender Harry blickt mich an, der meine Stimmung auf den Tiefpunkt bringt. Ich liebe dich sende ich ihm in Gedanken zu, bevor ich seufzend das Smartphone ausschalte. Niall und Liam machen es mir nach, ehe der Braunhaarige die Geräte aus dem Fenster wirft. Weil ich entgegen der Fahrtrichtung sitze, sehe ich sie scheppernd auf dem Asphalt aufkommen und dann, wie die ersten Autos darüber fahren. Binnen weniger Sekunden sind unsere Handys in ihre Einzelteile zerlegt.

Wir entscheiden uns für den Stadtteil Tenderloin. Dieser liegt zwischen Harrys altem Büro und Castro, meinem Lieblingsviertel. Hier nehmen wir das größte Hotel, weil es dort unwahrscheinlicher ist, dass man sich unsere Gesichter merkt. Es ist kein Luxusresort, sondern gehört eher dem Durchschnitt an, aber das spielt aktuell keine Rolle für mich.

Schnell ist klar, dass wir zusammenbleiben wollen. Weil jedoch kein Appartement mehr frei ist, bekommen wir ein Zimmer mit einem Doppelbett und einem Schlafsofa. Der Teppichboden hat ein furchtbares Floralmuster in lila und weiß, die restliche Einrichtung dagegen ist eher schlicht aber modern gehalten. Möbel in dunklem Holz, weiße Bettwäsche und Vorhänge, ein Schreibtisch, ein Fernseher und das Sofa. Eine kleine Tür führt in das angrenzende Badezimmer, das in schwarz und weiß erglänzt.

"Ich schlafe auf dem Sofa", gibt Liam bekannt, als ich mich seufzend aufs Bett schmeiße. Mein Gesicht drücke ich in die weichen Laken, die nach frischem Wäschepulver duften. Liams Worte machen mir bewusst, dass ich nicht mit Harry die Nacht in diesem Bett verbringe - sondern mit Niall. Unwillkürlich entfährt mir ein bitteres Lachen. Warum musste ich ausgerechnet bei Liam und Niall sein, als es hieß, wir müssen flüchten? Warum war ich nicht mit Harry unterwegs? Und wo zum Teufel ist Zayn?

"Wir haben erst Nachmittag. Vielleicht sollten wir nochmal los, um uns ein paar Klamotten zu besorgen. Wir haben nichts hier", höre ich Nialls Stimme, als sich neben mir die Matratze senkt. Achja, das wäre wirklich nicht dumm. Wir haben nicht nur keine Klamotten, wir haben auch sonst rein gar nichts mehr. Keine Klamotten, kein Handy, kein Harry. Mein Herz blutet bei dieser Erkenntnis. Alles ist weg und Harry wurde verhaftet. Es könnte sein, dass wir uns nie wiedersehen. Nie wieder.

Nie wieder!

"Oh Gott", entfährt es mir. Vor Schreck presse ich mir die Hand auf den Mund, weil mich mein eigener Schluchzer so überrascht hat. Man hat uns getrennt. Augenblicklich zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. "Hey Louis", höre ich Niall murmeln. "Alles wird gut."

Auf der Stelle sitze ich senkrecht und starre ihn verzweifelt an. "Alles wird gut? Alles wird gut?! Gar nichts wird gut! Harry wurde festgenommen. Was ist, wenn man ihn nach Kanada abschiebt?! Oder noch schlimmer, wenn er die Todesstrafe bekommt?! Wir leben im verfickten Kalifornien, hier wurde die noch nicht abgeschafft!"

Ich merke selbst, wie panisch ich klinge, aber ich kann es nicht zurückhalten. Die können Harry nicht umbringen! Das ertrage ich nicht! Meine Seele überlebt das nicht!

"Louis", murmelt Liam, bevor er vom Sofa aufsteht und ebenfalls zum Bett kommt. Er setzt sich neben mich, legt eine Hand auf meinen Rücken, die er hoch- und runterfahren lässt. Diese Geste bringt das Fass zum Überlaufen, weshalb mir die Tränen übers Gesicht laufen. "Ganz ruhig. Wir haben niemanden ermordet, sondern eine Bank ausgeraubt. Dafür gibt es nicht die Todesstrafe. Außerdem haben die Vereinigten Staaten kein Auslieferungsabkommen mit Kanada, weshalb er nicht dorthin ausgeliefert wird."

Mein Körper bebt weiter von den Schluchzern und mein Gesicht verstecke ich hinter meinen Händen. "Wir schaffen das, Louis", flüstert Liam neben mir. "Das verspreche ich dir."

"Und wie?", nuschle ich. Wie stellt er sich das vor? Wir brauchen doch Harry! Er hat alles geplant, wenn es brenzlig wurde. Liam seufzt: "Ich weiß es noch nicht, aber ich lasse mir etwas einfallen. Jetzt werde ich erstmal losgehen und uns ein paar Dinge besorgen. Niall bleibt solange bei dir. Heute Abend schauen wir weiter, okay?" Er hört sich so einfühlsam wie immer an, was ich in diesem Moment so unglaublich finde. Obwohl es gefühlsmäßig sehr schwer für ihn sein muss, versucht er mich immer aufzubauen, wenn es mir nicht gut geht. So gut wie immer ist Harry der Grund.

Deshalb versuche ich mich zusammenzureißen und nicke schließlich. "Okay", hauche ich, ehe ich ihn dankbar anlächle. Er erwidert es, doch seine Augen bleiben traurig. Dann wendet er den Blick ab, stattdessen sieht er nun Niall mit einem schelmischen Grinsen an. Dieser zieht skeptisch eine Augenbraue hoch: "Was?"

"Kreditkarte?", schmunzelt der Braunhaarige, woraufhin Niall die Augen verdreht. "Ich warne dich, Payno. Mach keinen Unfug", warnt er ihn, zieht aber ohne zu zögern sein Portemonnaie hervor, um Liam die gewünschte Plastikkarte zu reichen. Also entweder vertraut Niall Liam blind oder die beiden stecken unter einer Decke.

Innerlich seufze ich, denn ich kann einfach nicht damit aufhören zu überlegen, wer der Verräter sein könnte. Das macht mich ganz verrückt.

Liam steckt die Karte ein, verabschiedet sich von uns und verlässt dann das Hotelzimmer.

Zatago II - [Larry-AU]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt