31. Spießrutenlauf

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"Hier ist einiges passiert. Dein Vater ist weg. Er hat eine neue Freundin und sie ist schwanger von ihm. Er hat mich jahrelang betrogen.", sagt meine Mutter tonlos. So wirklich überrascht hat mich das nicht. Dass mein Vater meine Mutter betrügt, wusste ich eigentlich schon die ganze Zeit. Zumindest habe ich es vermutet. Trotzdem habe ich mir immer gewünscht, dass es nicht so ist und wir wenigstens so tun können, als wären wir eine glückliche Familie. Über den Grund, warum meine Mutter mich mitten in der Nacht aus Wien abholen musste, verlieren weder ich, noch sie ein Wort. Sie konzentriert sich auf die Straße und ich schaue nachdenklich aus dem Fenster.

Die nächsten Tage verbringe ich im Bett. Ich will nicht essen und ich will nicht raus. Ich will nicht mehr leben, aber das sage ich niemandem. Weder Jonas, noch Elli haben sich bei mir gemeldet.

Am Montag schleppe ich mich zur Schule, obwohl ich lieber sterben würde. In der ersten Stunde hätten wir normalerweise Mona, aber sie ist nicht da. Stattdessen sitzt Frau Stark am Pult und erklärt uns, was jetzt passiert. "Frau Hansen wird suspendiert. Ihr werdet eine neue Ethik Lehrerin bekommen und dürft euch bei Sophie bedanken.", sagt sie triumphierend.

Alle starren mich an, aber niemand redet mit mir. In der Pause bin ich ganz allein. Niemand will etwas mit mir zu tun haben. Das bin ich schon gewöhnt, aber normalerweise hätte ich Jonas und Elli gehabt. Die beiden reden auch nicht mehr mit mir.

Ich melde mich nicht mehr im Unterricht. Jedes Mal, wenn ich mich melde und etwas sage, macht jemand einen dummen Kommentar. Das will ich mir nicht länger antun. Diese Arschlöcher können von mir aus alle zur Hölle fahren. Sie können mich nicht mehr verletzen. Aber ich bin verletzt, weil Mona sich auch nicht bei mir gemeldet hat. Ich vermisse sie und ich habe ihr so viel zu sagen.

Als ich nach einem echt beschissenen Schultag nach Hause komme, sitzen Tom, Anna und meine Mutter am Tisch. Ich ahne nichts gutes. Ich setze mich dazu und Tom fängt an zu erzählen. "Ich werde nach Berlin ziehen. Ich habe jemanden kennengelernt und dort habe ich größere Chancen, in einer Praxis zu arbeiten. Das Semester ist vorbei und ich könnte am Montag schon an der Uni in Berlin anfangen." Seine Worte schlagen ein wie eine Bombe. Der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte, der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutet hat, mehr sogar als meine Mutter oder mein Vater oder Anna, will mich verlassen. Meine Mutter schaut abwesend auf den Tisch. Anna scheint das Ganze relativ egal zu sein. "Aber du kommst uns doch besuchen?", frage ich. Er lächelt. "Natürlich komme ich euch besuchen, mindestens alle zwei Wochen.", sagt er und nimmt mich in den Arm. "Wann gehst du?", fragt meine Mutter. "Am Samstag.", antwortet Tom. Meine Mutter nickt abwesend und ich habe Tränen in den Augen.

Nach einer weiteren anstrengenden Woche in der Schule und ohne jeglichen Kontakt zu Mona, müsste ich mich eigentlich auf das Wochenende freuen. Aber das Wochenende ist wahrscheinlich das eigentliche Problem, weil das Tom's letztes Wochenende ist. Am Samstagmorgen um neun Uhr stehe ich allein mit Tom vor seinem vollgepackten Auto. Meine Mutter ist von der ganzen Situation zu mitgenommen, um sich auch noch von ihm zu verabschieden und Anna hat bei ihrer besten Freundin übernachtet. Wir liegen uns minutenlang in den Armen und ich weine in sein Flanellhemd. "Ich bin doch nicht aus der Welt.", sagt er. Der Abschied fällt mir so unfassbar schwer und Tom scheint es genauso zu gehen. Auch er hat Tränen in den Augen, aber er will mir den Abschied nicht noch schwerer machen. Als er wegfährt, bricht für mich eine Welt zusammen.

Ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen und will nicht mehr nach draußen. Die Sonne wird nie wieder aufgehen und ich werde nie wieder glücklich sein. Am Samstagnachmittag schaue ich zum ersten mal wieder auf mein Handy und habe dreizehn Anrufe in Abwesenheit, von Mona. Ich rufe sie zurück und sie geht sofort dran.

"Was ist denn los?"

"Sophie, kannst du bitte zu mir kommen?"

"Ja klar, was ist los?"

"Das sage ich dir wenn du bei mir bist."

"Okay, bis gleich."

Ich mache mich sofort auf den Weg zu Mona und als sie mir die Tür aufmacht, erschrecke ich. Sie scheint die letzten Tage keine Haare gewaschen zu haben, sie hat ein ganz verquollenes Gesicht und rote Augen. Als wir auf der Couch sitzen und Kaffee trinken, bricht sie in Tränen aus und ich tröste sie, obwohl mir selbst zum Heulen zumute ist.

"Er hat mir die Jungs weggenommen. Ich musste ihm erklären was passiert ist und dann ist er weggegangen und hat mir die Jungs weggenommen."

"Was für ein blödes Arschloch."

"Er hat die Scheidung eingereicht und das alleinige Sorgerecht beantragt."

"Er bekommt die Jungs bestimmt nicht, du bist so eine tolle Mutter und sie können dir nicht die Jungs wegnehmen."

Ich nehme Mona in den Arm und warte bis sie sich beruhigt hat. Ich verbringe die Nacht bei ihr und tröste sie. Das lenkt mich ein bisschen von meinem eigenen Schmerz ab.

Am Sonntagmittag gehe ich wieder nach Hause und habe einen Entschluss gefasst. Seit Wochen will ich mich umbringen und ich habe es niemandem gesagt und ich habe Angst, dass ich es wirklich tue. Ich muss mit meiner Mutter reden, ich muss in eine Klinik und ich muss gesund werden. Für mich, für Tom und für Mona. Meine Mutter liegt noch im Bett, als ich nach Hause komme.

"Kann ich mit dir reden?"

"Ja klar, was ist denn los?"

"Ich muss dir was sagen."

"Sophie, was ist los?"

"Ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll."

"Sag es doch einfach."

"Ich will nicht mehr leben."

"Was?"

"Ich will nicht mehr leben, aber irgendwie auch schon und ich habe Angst dass ich mich umbringe. Ich muss aber stark sein und alleine schaffe ich das nicht."

"Und was willst du jetzt machen?"

"Ich will in eine Klinik."

"Willst du das wirklich?"

"Natürlich nicht, aber ich muss."

Meine Mutter nimmt mich in den Arm und weint. Ich habe schon wieder ein schlechtes Gewissen.

I love you until I die | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt