Kapitel 48

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Kielan King

Die Sonne geht gerade erst auf. Doch ich sitze schon seit Stunden hier. Hier auf dieser Bank, abseits der Großstadt und beobachte den kleinen, schmutzigen Bach. Wenn ich mal eine Auszeit brauche, was in letzter Zeit häufig der Fall ist, dann fliehe ich hierher. Hier kann ich atmen, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Manchmal notiere ich sogar meine Gedanken in einem kleinen Büchlein. Warum ich das mache, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht weil ich Angst habe, meinen Verstand zu verlieren. Wer denkt, dass es eine heile Welt gibt, in der es nur Sonnenschein, Regenbögen und Einhörner gibt, der hat noch nie die Augen geöffnet. Also wirklich geöffnet. Ich meine, schaut euch das Elend da draußen auf den Straßen New York's doch an. Ihr sagt immer wir wären die Könige, aber wenn ihr genau hinsehen würdet, würdet ihr sehen, dass wir nichts als Verlierer sind. Wir betrügen, verletzen und manipulieren. Wenn uns jemand nicht passt, wird es aus dem Weg geräumt. Wenn das Geld sich dem Ende nähert, was, wenn man ehrlich ist nie der Fall ist, dann werden auch dafür Lösungen gefunden. Eine Familie bedeutet gar nichts. Außer Verpflichtungen. Verpflichtungen, die jeder einzelne von uns eingehen muss. Berufliche, psychische und physische Verpflichtungen. Wenn ihr wirklich glaubt, dass dort draußen die große Freiheit naht, oder gar das New York Freiheit bedeutet, dann habt ihr niemals richtig hingesehen. Ich meine Allie, sie ist reizend. Mein Herz. Aber ich kann sie nicht halten. Ihr nichts bieten. Keine heile Welt, keinen Schutz und nicht mal die Möglichkeit auf ein entspanntes Leben. Denn meine Familie sind Zwänge, Zwänge, aus denen man sich nicht befreien kann. Nicht, bis der letzte Atemzug die eigenen Lungen verlässt. Und sogar Allie lebt in einem Gefängnis. Sicherlich nicht bis zum letzten Atemzug, aber so lange wie ihr Vater diese Machenschaften am laufen hält. Solange, wie er in der Öffentlichkeit steht. Genau so lange wird auch Allie in einem Gefängnis leben. Jedoch vermute ich, dass sie wenigstens etwas Liebe bekommt. Liebe gibt es in meiner Familie nicht. Wenn ich an das Wort Familie denke, dann kann ich es nicht mal für meine eigene benutzen. Das Sinnbild was uns verfolgt ist ein ganz anderes. Wir sind eine Mafia. Eine Bruderschaft. Ein Clan. Ein Teil eines großen Ganzen. Aber eine Familie, wo der eine für den anderen einsteht, sind wir bei weitem nicht. Nicht, dass man dies jetzt falsch auffasst: ich liebe meinen Bruder und meine Schwester. Ich liebe auch meine Mom. Aber niemand würde für den anderen sterben. Nicht das wir es nicht wollten, wir dürfen es nicht. Die ganz große Sache steht immer im Hintergrund. Wenn jemand geht, nein wenn jemand stirbt, dann für die Sache. Nicht für seinen Bruder oder seine Schwester. Für die Sache. Zum Schutz der Sache, nicht zum Schutz meiner Geschwister.

Wütend trete ich einen kleinen Stein in den Bach. Alte Dosen, Plastik alles was man ebenso finden kann, schwimmt dort in der dreckigen Lache. Die Strömung zieht alles mit sich und es tut gut einen Moment lang die Gedanken schweifen zu lassen. Denn sie beginnen dann von vorne. Von Neuem. Immer das Gleiche. Aber ich kann mich nicht befreien. Bevor ich Allie gekannt habe, bevor mir ihre dunkelblonde Mähne ins Auge gefallen ist, hatte eine keine Schwierigkeiten meine Situation zu akzeptieren. Nein, sie sogar zu leben und auszukosten. Es liegt mir im Blut. Aber seit ich Allie kenne, suche ich Auswege. Ich suche nach Auswegen, um eine Zukunft mit ihr zu haben. Das mag lächerlich klingen, denn im Grunde weiß ich weder, ob sie einen wie mich überhaupt dauerhaft an ihrer Seite haben will und ich weiß ebenso wenig, ob meine Macht ausreichen würde, um uns zu befreien. Es wäre ein Kampf. Ein harter Kampf, vielleicht über Jahre. Vielleicht würde der Bann niemals gebrochen, vielleicht wäre es für umsonst. Aber vielleicht wäre es auch eine Chance. Eine Möglichkeit. Für Allie und für mich. Die Könige von New York müssen verschwinden. Wenn das möglich wäre... Mir entfährt ein verwirrtes Lachen. »Nur tot, Kielan, nur tot«, sage ich mir höhnisch vor. Denn es ist unmöglich Könige zu stürzen.

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