~ Kapitel 27: Wiedersehen ~

203 11 0
                                    

~ Ophelia ~

Ich blicke an mir herunter und merke, dass meine Kleidung zwar sauber, aber leicht zerfetzt ist. Sofort fällt mein Blick nun auf den riesigen Kleiderschrank, der wohl die Hälfte des Raumes einnimmt. Er besteht aus feinem, rotbraunem Holz und an den Seiten der Schranktüren befinden sich feine Schnitzereien. Mit Sicherheit hat er ein Vermögen gekostet. Oder eher: hätte. Mutter musste sicher nur einmal nett lächeln. Hübsch ist sie. Sehr hübsch. Sie weiß sich zu kleiden, zu frisieren und zu schminken, was bei vielen Frauen eher in einem völligen Desaster endet, da jede viel zu viel von allem nutzt. Noch dazu entspricht ihr Gesicht in etwa dem Schönheitsideal der Frauen: Kleine Nase, schmales Kinn, große Augen und hohe Wangenknochen. Ihr dunkelblondes Haar lässt wohl manche Frauen vor Neid erblassen. In Idiun hatte sie ihre Haare immer zu einem strengen Dutt zusammengebunden, doch hier trägt sie es halb offen. Nur ein Teil ist miteinander verflochten, damit ihr die übrigen Haare nicht zu sehr ins Gesicht fallen. Ich kann sie hassen, wie ich will: Sie ist der Inbegriff der Schönheit. Zumindest in meinen Augen.

Ich dagegen... irgendwie nicht. Vor einiger Zeit glaubte ich noch, dass dies mit dem Erwachsenwerden kommt, doch heute weiß ich, dass da nichts mehr kommt. Bis auf ein paar Falten - und selbst die entstellen meine Mutter nicht. Doch an sich stört es mich ja auch nicht, wie ich aussehe. Eher, wer ich bin.

Ich öffne den Schrank und sofort sehe ich zig wunderschöne Kleider, die mir förmlich entgegenspringen und von mir getragen werden wollen. Da kann ich das Kämpfen noch so sehr lieben: Nichts geht über ein wunderschönes Kleid.
Schnell schlüpfe ich in ein eher schlichtes Kleid, das aus einer weißen Bluse und hellbraunem Rock besteht. Er ist schmucklos und reicht mir bis knapp über die Knöchel, während die Bluse nur bis an die Schultern reicht, jedoch trotzdem Ärmel besitzt, die erst unter den Schultern ansetzen und unterhalb der Achseln mit dem Rest der Bluse verbunden sind. Meine Haare flechte ich zu einem Zopf zusammen und wasche mir kurz mein Gesicht, nachdem ich den kleinen Krug voll Wasser auf dem Spiegeltischchen entdeckt habe. Sofort fühle ich mich viel besser.

Dann endlich wage ich es. Zaghaft gehe ich durch einen gewaltigen, lichtdurchfluteten Gang. Eine Seite des Ganges ist von riesigen Fenstern gesäumt, auf der anderen befinden sich Türen, hinter denen alles Mögliche sein könnte.
Hin und wieder huscht jemand an mir vorbei, der schnell die Augen niederschlägt, sobald er sich mir nähert. Sicher sind es Diener, da sie alle die gleiche Kleidung tragen. Manchmal sind auch Männer und Frauen - ja, Frauen! - in Rüstung dabei, die mir zunicken oder -lächeln und mir offensichtlich Respekt zollen.
Der Gang endet nun in einem riesigen Saal - oder eher an einem Geländer in einem Saal. Ich vermute hier den Eingangsbereich und werde prompt in meiner Annahme bestätigt, als zwei Menschen von draußen eintreten.

Moment, Menschen? Ich sollte mir wohl angewöhnen, sie als das zu bezeichnen, was sie sind: Draken. Da können sie noch so sehr wie Menschen aussehen. Seltsamerweise entdecke ich niemanden, der auch nur im Entferntesten wie die Draken in Albia aussieht.

Ich gehe die riesige Treppe in der Mitte des Saales herab und entdecke schnell eine Tür, die sich hinter dieser Treppe im Erdgeschoss befindet. Meine Neugierde hat mich geweckt, also öffne ich sie prompt und finde mich in einer riesigen Bibliothek wieder, die über drei Stockwerke in die Tiefe reicht. Mit vorsichtigen Schritten gehe ich eine der Treppen hinab und bestaune die deckenhohen Bücherregale. Entzückt wandle ich von einem Regal zum nächsten und ende schließlich an einem, das über und über mit Geschichtsbüchern dieses Reiches bestückt ist. Ich nehme eines hinaus und schlage es eifrig auf, da ich darin den besten Weg sehe, das Handeln meiner Mutter nachvollziehen zu können. Allerdings komme ich nicht sehr weit, denn... ich kann zwar die Sprache teilweise lesen, doch die Bedeutung der Worte kenne ich ja totzdem nicht. Dass sich hier überhaupt Geschichtsbücher befinden, habe ich letztlich nur zufällig aufgeschnappt, als sich ein scheinbar Gelehrter mit einem anderen darüber unterhalten hat. Eine Sache, die mich nun umso mehr verblüfft. Wieso sprechen sie in meiner Sprache, wenn sie ja ihre eigene haben? Im nächsten Moment fällt mir das Kinderlied ein. Müsste es nicht in der gleichen Sprache verfasst sein? Oder ist es eine ältere Sprache?

Drachenblut - Der erste TropfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt