~ Kapitel 43: Plötzlich nett ~

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~ Ophelia ~

Am späten Abend wache ich wieder auf. Ruckartig, da ich schlecht geträumt habe und diesem Grauen schnellstmöglich entkommen wollte. Draußen war es dämmrig, doch um diese Jahreszeit blieb es immer bis spät hell, also musste die Turmuhr wohl schon nach zehn Uhr geschlagen haben.

Ich werfe mir einen weißen seidenen Umhang um und binde ihn vorn zu. Anschließend schlüpfe ich in die ledernen Pantoffeln vor meinem Bett, die mir leider etwas zu klein sind und verlasse mein Zimmer endlich. Ein Wachmann steht draußen vor der Tür und erschrocken springt er zur Seite, als sie sich hinter ihm öffnet. Vermutlich war er gerade eingedöst.

„Entschuldigt bitte, ich wollte Euch nicht erschrecken", flüstere ich, doch er lächelt verlegen.

„Ist schon in Ordnung, Mylady. Ich hätte eigentlich damit rechnen müssen."

Ja, wer mich kennt, sollte das.

„Ist meine Mutter schon zu Bett gegangen, wisst Ihr das?"

Er nickt.

„Vor einer Stunde schon. Sie schien sehr erschöpft."

Na gut. Dann werde ich einfach ein wenig umherspazieren. Das tut auch gut.

„Ich werde bald wieder zurück sein, aber falls jemand nach mir fragt, so sagt ihm bitte, dass ich schlafe."

„Natürlich, Mylady."

Langsam und leise gehe ich durch den mit wenigen Kerzen beleuchteten Flur, bis ich in einem kleinen Saal angekommen bin. Ein weißer Tisch mit verspielten Verzierungen steht in der Mitte. Ringsum stehen Kommoden und Spiegel, die mit den gleichen Holzschnitzereien verziert sind. Hinter den gläsernen Türen der Schränke stehen kleine Figuren – Reiter, Tänzerinnen, Ritter auf ihren weißen Rössern. Sehr verspielt. Vermutlich ist dies einmal das Spielzimmer meiner Mutter gewesen und dient wohl nun, um hier bei Kaffee und Gebäck beieinander zu sitzen.

Ich gehe weiter durch weiterhin nur spärlich beleuchtete Gänge, bis ich an einer Treppe ankomme. Ich gehe sie hinab und befinde mich im Eingangsbereich. Durch die Dunkelheit kann man die großen Gemälde der ehemaligen Herrscher kaum erkennen, doch im Grunde sehen sie alle gleich aus
– ein recht properer Mann, der mit Schwert, Krone und rotem Umhang dargestellt wird. Darin unterscheiden sich Draken nicht von den Menschen. Und im Grunde sind wir auch nichts anderes. Menschen mit magischen Kräften sind wir, mehr nicht. Doch das musste auch ich erst lernen.

„Mylady, wohin des Wegs?", fragt einer der Wachen an der Eingangspforte. Ich lächle ihm herzlich zu.

„Frische Luft schnappen. Keine Sorge, ich werde nicht fortlaufen, sonst hätte ich mir diesen Ort ja auch nicht zum Ziel meiner Flucht gemacht."

Er verneigt sich leicht und öffnet mir die Türe sogar.

„Da möget Ihr wohl Recht haben."

Ich gehe ein wenig ziellos umher, laufe durch den Blumengarten und vorbei an dem Brunnen im Innenhof des Gutshauses. Kurz halte ich inne, als ich von irgendwo aus der Nähe eine Art Ruf höre. Ich folge der Stimme, bis ich auf dem Übungsgelände der Hofeigenen Garde ankomme. Dort scheint jemand zu dieser späten Stunde noch zu exerzieren.

Ich beschließe, ihn heimlich zu beobachten und stelle mich leise neben eine riesige Eiche, die unweit des Sandplatzes steht.
Wer auch immer das ist, er versteht jede Menge vom Kämpfen. Fast schon kunstvoll schwingt er seinen Hammer durch die Lüfte, schlägt ihn wuchtvoll gegen die mit Stroh ausgestopften Übungspuppen, als einer davon mit nur einem Schlag der Kopf davonrollt. In den Schlägen steckt sehr viel Kraft, aber auch Wut. Sehr viel Wut, das spüre ich bis hierhin. Auf einmal schlägt er seinen Hammer mit ganzer Kraft auf den Boden, der daraufhin aufgeht und eine Welle aus Geröll und Steinen um ihn herum nach außen zum Geländer dringt. Es sieht beinahe aus, als wäre es Wasser. In diesem Moment wird mir auch klar, wer dieser Mann ist und schnell wird mir bange.

Drachenblut - Der erste TropfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt