~ Ophelia ~
Am nächsten Tag wird es mir hier oben in dem kleinen Zimmer zu stickig. Zuerst horche ich mich um, ob jemand im Haus zu hören ist. Scheinbar sind aber alle ausgeflogen, also öffne ich meine Tür ganz leise und langsam und blicke mich auf dem Flur um. Niemand zu sehen.
Ich gehe die Holztreppe hinunter in den Eingangsbereich und von dort in die Wohnstube. Dort steht eine Schale mit wunderschönen grünen Äpfeln. So gefallen sie mir am liebsten. Schnell schnappe ich mir einen und beiße ein großes Stück davon ab, ehe ich Amélie merke, die lächelnd im Türrahmen steht.
„Dir scheint es ja endlich besser zu gehen."
Sofort blicke ich sie giftig an und schnaube verächtlich.
„Was weißt du schon? Du wirst wenigstens nicht zu etwas gezwungen, das du nicht willst!"
Sie seufzt und kommt auf mich zu.
„Wieso bist du wütend auf mich? Ich habe dir diese Strafe nicht auferlegt. Es tut mir leid um dich, doch kann ich am wenigsten dafür."
Sie hat ja recht. Ich lasse mich auf den Sessel zu meiner Linken fallen und reibe mir die Augen, die vom vielen Weinen noch ganz geschwollen und rot sind.
„Ich weiß ja.... ich weiß.... bitte verzeih. Ich bin nur so fürchterlich verzweifelt."
Sie setzt sich neben mich und streicht mir über den Rücken.
„Du magst es mir vielleicht nicht glauben, aber ich kann dich gut verstehen. Doch... dein Bruder sorgt sich einfach zu sehr um dich. Er hat Angst, dass du im Wald irgendwelchen Verbrechern zum Opfer fällst, weißt du?"
Ich lache.
„SechsJahre habe ich mich im Wald allein durchgeschlagen, ohne dass mich diese bösen, bösen Verbrecher auch nur länger als eine Sekunde sehen konnten. Ich weiß mich sehr gut zu verteidigen, doch jeder hier beharrt auf diese völlig veralteten Regeln. Das ist so lächerlich."
Amélie seufzt und erhebt sich wieder.
„Du musst doch nur tun, was Somin von dir erwartet. Nichts weiter. Also sei doch das feine, vornehme Mädchen, das er aus dir machen möchte. Sei angeekelt von Blutvergießen, von Kämpfen. Dann lässt er dich vielleicht eines Tages – schneller, als du glaubst – wieder tun, was du willst. Was du dann wirklich tust, muss er ja nicht wissen, oder?"
Sie zwinkert mir zu und drückt meine Hand.
„Ich werde es ihm auch nicht verraten, keine Sorge."
Amélie geht aus dem Raum und lässt mich allein. Sie muss man einfach mögen. Doch sie hat recht. Je eher Somin denkt, dass sein Plan aufgeht, umso eher lässt er mich frei. Lässt mich wieder in Frieden.
Schnell gehe ich wieder in mein Zimmer und ziehe mir eines der Kleider an, die dort hängen. Er hat mich bereits hier erwartet. Danach laufe ich wieder die Treppe hinab und erkläre Amélie, dass ich ein wenig durch die Stadt wandern möchte, um allen zu zeigen, wie ‚glücklich' ich doch bin. Da Somin seinen Männern ja ohnehin aufgetragen hat, ein Auge auf mich zu werfen, brauche ich zumindest niemanden, der permanent auf mich aufpasst. Zumindest dieses Übel bleibt mir erspart.
Auf den Straßen herrscht reges Treiben. Die Hauptstraße ist wieder gesäumt mit den Ständen verschiedenster Händler. Auf dem Platz sind es noch viel mehr. Sie verkaufen alles Mögliche: Stoffe, Kleider, Obst und Gemüse, Brot, Hühner, Enten oder Tauben, Wolle...
Von Weiten erkenne ich Henry, der gerade mit einem Verkäufer um ein Fuchsfell feilscht, das er wohl verkaufen möchte. Als er sich dann endlich abwendet, gehe ich zu ihm herüber und begrüße ihn etwas zu freundlich für meine eigentliche Laune.
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Drachenblut - Der erste Tropfen
FantasySeit Jahren hielt man sie für tot, doch eines Tages trifft Darius bei einem Auftrag auf die kriegerische Ophelia, die seit sieben Jahren allein im Wald lebt, um so den strengen Gesetzen Albias zu entkommen. Doch schon bald lernen sie die magische We...