35 - Unnötig und doch so relevant

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Phils Sicht

Kaum merkt Sofia mal wieder an, dass sie auf Toilette muss, kommt mir ein Einsatz rein. Und neben den Meldern von Flo und mir gehen auch noch die Melder von Jacky und Dustin los. Es soll wohl ein Mann in seiner Wohnung bewusstlos geworden sein, seine Frau hat angerufen. Na dann mal los.

Mit Sonderrechten bringt Flo uns sicher ans Ziel, gefolgt von unserem RTW, den Dustin fährt. Vor dem Haus angekommen, schnappen wir uns alles nötige und werden dann schon von einer hysterischen jungen Dame empfangen. Ihr Gesicht ist vollgeklatscht mit Schminke und ihre aufgeklebten Wimpern sehen so aus, als würde sie damit jeden Moment wegflattern können. Na ja, Geschmäcker sind verschieden, aber was bin ich nicht froh, dass Sofia nicht so ein Typ für Schminke ist. Ich mag es eben natürlich. „Guten Tag, Rettungsdienst, Funke der Notarzt, was ist passiert?" Einen kurzen Moment denke ich daran, dass ihr vielleicht die Wimpern zu schwer geworden sind und ihr so in den Augen hängen, dass sie dachte, sie wäre irgendwie halb bewusstlos, schiebe den Gedanken jedoch schnell wieder beiseite und konzentriere mich auf meine Arbeit. Immerhin scheint hier jemand vital bedroht zu sein, jedenfalls laut Meldung der Leitstelle.

„Mein Freund! Im Wohnzimmer! Er atmet so komisch und hat seine Augen geschlossen!" Total hysterisch zerrt sie mich an meiner Hand, in der ich das Ampullarium trage, hinter sich her ins Wohnzimmer. Zu Gesicht bekommen wir einen Mann, der schnarchend auf der Couch liegt und mindestens 15 Jahre älter als die Frau ist. Gut, jedem das Seine. Ein Geruch von fettigem Essen steigt mir in die Nase und ich lasse meine Augen kurz die Umgebung abchecken. Eine geräumige, offene untere Etage, im Wohnzimmer führt eine Wendeltreppe in den zweiten Stock. Auf dem Esszimmertisch steht noch immer dreckiges Geschirr, anscheinend wurde hier vor nicht allzu langer Zeit gegessen.

Ich wende mich an die schon fast hyperventilierende Frau, während ich den Puls des Mannes überprüfe. „Gute Frau, was ist denn nun passiert? Für mich sieht es so aus, als würde Ihr Freund einfach sehr tief schlafen." Wie zur Bestätigung ertönt ein extra lautes Schnarchen. Sein Puls ist kräftig und gleichmäßig. „Ja also wir haben gegessen und dann hat er sich hingelegt und dann plötzlich so komisch geatmet und dann hat er nicht reagiert obwohl ich mit ihm gesprochen habe", erzählt sie ohne Punkt und Komma, den Tränen nah. ‚So komisch geatmet'. Da kann man auch schnarchen zu sagen. Ein Blickaustausch mit meinem Team reicht, um hier jeden Gemütszustand zu erkennen. Bis jetzt habe ich auch noch keine Anweisungen an sie gegeben, denn ich habe da so eine Vermutung. Und diese bestätigt sich auch, als ich zu einem Schmerzreiz ansetzen will. Denn schon beim leichtesten Druck auf das Brustbein schreckt der Mann auf. „Was ist denn hier los? Mir geht es super", fragt dieser blöd dreinblickend. „Ihre Freundin hat uns mit Verdacht auf Bewusstlosigkeit gerufen. Dabei haben Sie einfach nur sehr tief geschlafen", kopfschüttelnd stehe ich auf. Mal wieder ein völlig unnötiger Einsatz. Statt sie ihn mal ordentlich anspricht, wenn sie solche Angst hat. Ich meine, wie leise muss sie denn gewesen sein? Meine Gedanken schweifen kurz zu Sofia und ich frage mich mal wieder, wann die Kinder wohl kommen. Hoffentlich bin ich dann bei ihr und nicht an einem Einsatz gebunden. „Oh Gott, Manfred!", schluchzend fällt die Frau ihrem Freund um den Hals. „Ich dachte, du stirbst!" „Gleich ist sie hier eine Patientin", raune ich Flo genervt zu, der nickt.

„Hier ist für uns nichts mehr anzurichten", sage ich und will mich gerade umdrehen, als erneut die Frauenstimme erklingt. Diesmal doppelt so hoch wie davor. Wenn das überhaupt möglich ist. „Manfred? Manfred, sag doch was!" Wir drehen uns alle gleichzeitig um. Uns bietet sich ein klassisches Bild eines Herzinfarktpatienten. Woher kommt das denn so plötzlich? Mit verzogenem Gesicht hält er sich die linke Brust, pure Panik ist in seinen Augen zu sehen. Seine Atmung ist etwas zu schnell. „Irgendwas stimmt nicht. Das tut hier so weh und zieht in den Arm", gibt er uns mit knapper Luft zu verstehen. Nun merken wir, dass hier wirklich etwas ganz und gar nicht stimmt. Sofort sind wir in der Routine, um letztendlich einen akuten Herzinfarkt festzustellen. Ein Glück, dass die Freundin uns gerufen hat. Auch wenn das ein total unnötiger Grund war, hat es seine gute Seite.

Wir packen alles ein und verladen den Herrn, ehe wir mit Vollgas zur Klinik rasen. Dort übergeben wir ihn gleich an die Herzchirurgie. Heute haben wohl viele Lust auf Krankenhaus, denn die Notaufnahme ist proppenvoll, wie ich sehe, als Flo und ich dort noch zum Empfang gehen, um die restlichen Dinge zu erledigen. Gisela, die heute am Empfang Dienst hat, guckt mich mit großen Augen an und will gerade etwas sagen, doch von hinten kommt ihr eine Frauenstimme zuvor. „Phil! Ein Glück bist du da, die Kinder kommen!" Das war Charlotte. Schwungvoll drehe ich mich auf dem Absatz um und starre sie mit offenem Mund an. „Was guckst du noch so? Sie ist schon im Kreißsaal, sie können jeden Moment kommen! Los, sie war ganz verrückt, weil du nicht da warst." Noch immer perplex starre ich sie an. „Ich bin gleich Vater!", stelle ich Sekunden später fassungslos fest und sprinte los. Ein großer Vorteil, dass ich mich hier in der Klinik blind auskenne. Sonst könnte das lang dauern.



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