Kapitel 1

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Ilvy

"Mila! Wach auf! Komm schon!" Ich versuchte schon seit geschlagenen zehn Minuten meine Schwester zu wecken.  Wir waren zwar Zwillinge, aber dennoch grundverschieden. Es fing schon beim Aussehen an. Ich hatte lange, leicht gewellte, hellblonde Haare und strahlend blaue Augen. Mila aber hatte grau-grüne Augen und braune, mit natürlichen Strähnchen aufgelockerte, Haare, die ihr bis auf die Mitte des Rückens hingen. Und sie war ein Morgenmuffel. Ich stand in aller Frühe auf, zog mich an und richtete mich her. Danach machte ich Frühstück für uns.  Täglich musste ich beim Wecken umherfliegenden Kissen ausweichen, obwohl ich sie immer extra erst eine Stunde, nachdem ich aufgestanden war, weckte. Unsere Mutter ging immer schon sehr früh aus dem Haus, weswegen wir morgens auf uns selbst angewiesen waren. Es hatte allerdings auch seine guten Seiten, wenn wir nicht immer gehetzt wurden, nur weil wir etwas später dran waren. 

Als sich meine Schwester dann endlich dazu entschieden hatte aufzustehen, ging ich wieder runter ins Wohnzimmer und schaute nach, ob ich auch wirklich alles für die Schule zusammen hatte. Man wollte ja an einer neuen Schule nicht gleich einen schlechten Eindruck machen. Einschreibung, Stundenplan, Etui, ein paar leere Hefte und Mappen und ein Block. Alles vorhanden. Ich packte mir noch ein Brot und eine Flasche ein und legte das Essen für Mila auf den Tisch.

Da hörte ich sie auch schon die Treppe heruntertrampeln. "Guten Morgen, Schwesterchen!", grinste ich sie an. Grimmig blickte sie auf mich herunter, stopfte ihr Brot unsanft in ihre Tasche und ging in die Küche. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl und knallte eine Tasse vor sich auf den Tisch. "Ich bin müde.", sagte sie störrisch, aber dennoch freundlich. Ich nickte und legte ihr ein Brötchen auf den Teller, das sie dann Aufschnitt und mit einer dicken Ladung Nutella zukleisterte. Sie war niemals zickig oder agressiv oder gar eingebildet. Nur genervt. Meinstens wirkte sie dadurch unfreundlich und abstoßend. Aber ihre schlechte Laune war eigentlich echt niedlich.

Ich nippte an meinen Kakao und rutschte ungeduldig auf dem Stuhl hin und her. "Was ist los?", fragte Mila und legte eine Hand auf meinen Arm. "Ich bin echt aufgeregt und es wäre schön, wenn du dich beeilen könntest. Ich will nicht zu spät kommen." Sie nickte. Was neue Leute anging war ich immer sehr schüchtern und zurückhaltend. Aber wenn ich jemanden erstmal mochte, wurde dieser mich auch nicht mehr so schnell los. Wir stellten unser Geschirr in die Spülmaschine und holten unsere Sachen. Als wir fertig angezogen waren, gingen wir zur Bushaltestelle und warten auf den Bus, der auch schon nach fünf Minuten kam. Wir waren die einzigen im Bus, was mich etwas aufatmen ließ. Hier noch keine neuen Leute. Nach einer halben Ewigkeit kamen wir endlich an der Schule an.  Ein riesiger, hässlicher Kasten. "Wie einladend.",  stellte Mila fest.

Überall um uns herum waren kleine Grüppchen von Schülern, die sich angeregt unterhielten. Es gab auch einen kleinen Bereich, der scheinbar ein Basketballfeld darstellen sollte. Dort rannten jedenfalls ein paar Muskelpackete durch die Gegend, die hartnäckig einen Ball verfolgten und von Mädchen mit sehr kurzen Röcken und golden glitzernden Handtaschen kreischend angefeuert wurden. Mir fiel ein relativ dünner Junge zwischen den Spielern auf, der den Mädchen leicht genervte Blicke zuwarf. Offenbar bemerkte er, dass ich ihn ansah, den er drehte sich in unsere Richtung. Doch bevor er mich richtig ansehen konnte, blickte ich weg. Ich verfiel fast in Schweißausbrüche, als es klingelte. Die anderen Menschen um uns herum würdigten uns allerdings keines Blickes, sondern gingen Teils stumm und Teils nörgelnd Richtung Gebäude. Nur der dünne Junge nicht. Er blickte uns neugierig an und ließ sich dabei fast von seinen in die Schule sprintenden Freunden umrennen, die ihm daraufhin im Vorbeigehen halbherzig Beleidigungen zuwarfen. Bevor ich Mila anstupsen konnte, um ihr von unserem Beobachter zu berichten, tippte mir von hinten jemand auf die Schulter.

Luftschnappend fuhr ich herum und war erleichtert, als ich nur vier Schüler, zwei Mädchen, zwei Jungs, leicht nervös auf uns herabblicken sah. Es lag nicht daran, dass sie so groß waren. Wir waren nur einfach ziemlich klein. Und dabei hatte Mila noch Glück. Ich war gut fünf Zentimeter kleiner als sie. "Hallo.", sagte einer der Jungen, "Ich bin Minho. Ihr müsst die Neuen sein. Das sind Thomas, Brenda und Teresa." Alle drei nickten,  wenn ihr Name erwähnt wurde. Auch wenn ein leichter Hass in Minhos Augen aufblitzte, als er Teresa erwähnte.

Sie war ein Mädchen von normaler Größe und Statur und hatte mittellange braune Haare. In ihren Augen lag ein gewisser Schmerz als sie Thomas anblickte, dessen Hand von dem anderen Mädchen.... Brenda... Umklammert wurde. Brenda sah ähnlich aus wie Teresa hatte aber dünne und glatte Haare und dunkelbraune Augen und dickere Wangen. Sie lächelte mir freundlich zu. Thomas war ein relativ kräftiger Junge mit kurzen braunen Haaren. Er hätte bestimmt um einiges reifer ausgesehen wenn sie länger gewesen wären. Er schaute Teresa besorgt an. Minho hingegen war ein stämmiger Asiate, den das alles nicht zu interessieren schien. Er starrte auf Etwas hinter uns. "Hey Newt! Wenn du schon gaffst, kannst du auch herkommen und hallo sagen!", bellte er. Ich drehte mich halb um und sah, dass der dünne Junge von vorhin sich langsam in Bewegung setzte.  Schließlich kam er vor uns zum Stehen. "Hallo. Ich bin Newt. Einer der Sportler sowie Minho und Thomas.", er sprach langsam und bedacht, schaute aber die ganze Zeit lang nur meine Schwester an. "Ich bin Mila und das ist meine Schwester Ilvy", antwortete diese wie in Trance. Auch sie konnte die Augen nicht von Newt nehmen. "Wir sollen euch sagen, dass ihr bitte umgehend in das Büro von Schulleiterin Paige kommen sollt.", sagte Brenda. Ich nickte.  "Und wir sollten uns beeilen, sonst wird Rattenmann böse.", ergänzte Minho.  "Rattenmann?", fragte ich leise aber doch deutlich hörbar. "Du sprichst ja doch", sagte Minho erstaunt. "Herr Janson,  unser Deutschlehrer. Hat ein Gesicht wie eine Ratte.  Aber wirst du selbst sehen. Ihr seid in unserer klasse. Glückwunsch! Bald werdet ihr Bekanntschaft mit Gally machen aber keine Angst, wir werden euch helfen." Thomas zuckte bei dem Namen des jungen leicht zusammen. Dann drehten sie sich um und eilten ins Gebäude. Newt drehte sich im Gehen noch einmal kurz um und warf Mila einen verschämten Blick zu, die sofort knallrot wurde. Das konnte ja sein interessanter Tag werden.

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