Kapitel 20

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Ilvy

Die Tür war zu und ich war allein. Ich wusste zwar, dass sie bei Newt mehr als nur in Sicherheit war, aber ich machte mir dennoch Sorgen. Ich wusste nicht, wann sie wiederkommen würde und welchen Film sie überhaupt mit wem sahen. Unsere Mutter war kaum zu Hause und seit unser Bruder ausgezogen war, hatte ich die Rolle der großen Schwester übernommen und Mila viel geholfen und versucht, nur das Beste für sie zu bekommen. Ich hatte sie nicht bemuttert. Das war auch nie meine Absicht gewesen. Denn eigentlich war sie diejenige, die sich nie irgendwas getraut hatte. Sie wollte nicht einmal Brötchen kaufen gehen, weil sie sich nicht traute, mit den Verkäuferinnen zu reden. Mittlerweile bekam sie die Klappe allerdings kaum noch zu und wusste nur selten, wann es Zeit war, einfach mal nichts zu sagen. Wenigstens verteidigte sie sich und ließ sich nicht unterkriegen. Ich konnte also nicht alles falsch gemacht haben.

Ich war fast schon eingenickt, als es an der Tür klingelte. Ich sprang auf und rannte los. Im Flur blieb ich allerdings kurz stehen, damit es nicht so aussah, als ob ich hinter der Tür gesessen hätte und es kaum noch erwarten könnte, dass es endlich klingelte. Dann öffnete ich die Tür schwungvoll. Ich sah in das gutmütige Gesicht einer älteren Frau. "Hallo. Bist du Ilvy?", fragte sie. Ich nickte. "Ich bin Gallys Mutter." Beschämt trat er hinter ihr hervor. "Freut mich, sie kennen zu lernen Frau-" "Marianne. Du kannst mich ruhig duzen, wenn du möchtest." Sie lächelte ein herzliches Lächeln. Das sollte also seine Mutter sein? Sie waren ja grundverschieden. "Möchtest du reinkommen? Einen Kaffee oder Tee trinken?", fragte ich. Eigentlich fragte ich nur aus reiner Höflichkeit aber dennoch wollte ich mehr über sie und ihren Charakter erfahren. Und wie still Gally plötzlich war! So gefiel er mir. "Würde ich gerne. Aber ich muss los. Termine. Termine. Du weißt ja." Ich nickte wohl wissend und sie gab ihrem Sohn einen dicken Kuss auf die Wange. Der lief knallrot an und murmelte ein"Tschüss Mami." und flüchtete sich dann auf meine Seite der Haustür. Er tat so, als wäre er schwer mit seinen Schnürsenkeln beschäftigt, damit er seine Mutter nicht mehr ansehen musste und seinen roten Kopf vor mir verbergen konnte.

Ich schloss die Tür nachdem ich mich von seiner Mutter verabschiedet hatte. Um ihn zu ärgern schaltete ich das große Licht an und sein Kopf wurde noch roter als er ohnehin schon war. "Tschüss Mami?", zog ich ihn auf. "Ja ja ich freu mich auch, dich zu sehen", sagte er sarkastisch und zog mich in eine flüchtige Umarmung. Ich erwiderte diese und hielt ihn eine Sekunde zu lange an mich gedrückt. Er schaute mich merkwürdig an und jetzt wurde ich rot. Also schaltete ich das Licht wieder aus und nur noch der Schein des Wohnzimmerlichts erhellte den Raum. Ich schickte ihn ins Wohnzimmer und ging in die Küche, um Popkorn zu machen.

Die Scheibe in der Mikrowelle drehte sich verdammt langsam und es schien, als wären vier Minuten ewig. Verträumt schaute ich der Tüte zu, wie sie sich drehte und bekam gar nicht mit, wie er den Raum betrat. Aber plötzlich stand er hinter mir. Schnell löste ich den Blick von der Mikrowelle und schaute auf den Boden. Zur Sicherheit verschränkte ich außerdem noch die Arme vor meinem Bauch. Ich wollte mich nicht umdrehen, da ich vermutete, dass er etwas vorhatte. Also blieb ich still stehen und versteinerte langsam. Bis auf das Rauschen der Mikrowelle und das leise Ploppen der Maiskörner, war nichts zu hören. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er noch einen Schritt näher an mich heran kam und ich schloss die Augen, um mich auf meine Atmung zu konzentrieren, die zu stocken drohte. Er schlang die Arme von hinten um mich und verschränkte seine Arme unter meinen vor meinem Bauch. Als ich schon dachte, es könnte nicht mehr gemütlicher werden, legte er noch seinen Kopf auf meine Schulter. Jetzt war es mit der Konzentration endgültig vorbei. Mein Herz raste und meine Hände wurden schwitzig. Ich wusste nicht, was zu tun war, da ich nicht zum denken fähig war. Aber mein Körper wusste es. Ich legte meine Hände auf seine und lehnte mich ein wenig an ihn, um ihn zu zeigen, dass ich mich wohlfühlte. Langsam drehte er mich zu sich um. Noch nie zuvor waren wir uns so nahe gewesen. Ich legte meine Hände auf seine Oberarme und konnte die Sehnen spüren. Er beugte sich herab und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, weil er sehr groß war. Ich keuchte mittlerweile fast und er hielt mich ganz fest, damit ich nicht umfiel. Noch ein paar Zentimeter. Seinen warmen Atem konnte ich bereits auf meinem Gesicht spüren. Wir kamen uns noch näher. Jetzt berührten sich unsere Nasenspitzen und er schloss die Augen. Ich tat es ihm gleich. Noch ein Stückchen und.... Die Mikrowelle piepte und brachte uns zum Lachen. Komischerweise konnten wir nicht mehr aufhören. Aufeinander gestützt, um nicht umzufallen, manövrierten wir das Popkorn in eine Schlüssel und gelangten schließlich, immer noch lachend, ins Wohnzimmer. Ich stellte die Schüssel auf den Tisch und sah ihn erwartungsvoll an. Er knabberte an seiner Lippe. Ich ging zu ihm und schlang meine Arme um seinen Bauch. Jetzt, wo er aufrecht stand, wäre es unmöglich für mich gewesen, meine Hände in seinen Nacken zu legen.

Ich verschränkte meine Hände hinter seinem Rücken und lehnte mich zurück, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. "Woran denkst du?", fragte ich. Er ließ seine Hände auf meine Schultern plumpsen. "Daran, wie ich dem schönsten Mädchen der Welt sagen kann, dass ich sie sehr sehr sehr gerne habe." Sein Blick hielt meinen fest und es war mir unmöglich, wegzusehen. Und ich wollte auch nicht wegsehen. "Dann zeig es ihr einfach.", sagte ich, wohlwissend, dass er von mir sprach. Mein Herz fühlte sich an, als wollte es in tausend Teile zerspringen. Meine Knie zitterten und mein Gehirn dachte krampfhaft über Vor- und Nachteile von dem, was wir im Begriff zu tun waren, nach. Ich sagte ihm, es solle die Klappe halten und mich machen lassen. Nach einigem Protest meines Kopfes gewann ich die Diskussion aber und mein Verstand schaltete sich ab. Er war mir wieder so nah wie vorhin gekommen. Und diesmal gab es nichts, was uns stören konnte. Meine Lippen fanden ihren Weg auf seine und mein Herz zersprang. Langsam öffneten wir unsere Lippen und konnten somit den Kuss noch intensiver spüren.

Irgendwann kamen wir dann tatsächlich dazu, einen Film zu schauen, während seine Finger mit meinen verschränkt waren. Mein Kopf lag auf seiner Schulter und während er mehr oder weniger interessiert versuchte, dem Film zu folgen, konnte ich meinen Blick nicht von unseren Händen in meinem Schoß nehmen. Es war verrückt. Ich kannte ihn nicht, wusste nur wenig über ihn, aber dennoch liebte ich ihn, wie jemanden, den ich schon mein ganzes Leben kenne.

Als der Film zu Ende war, schalteten wir aus und ließen uns nach links fallen, sodass wir, halb aufeinander, halb nebeneinander, auf dem Sofa lagen, meinen Kopf auf seiner Brust. Unsere Herzen passten sich dem Rhythmus des jeweils anderen an und so schliefen wir letztendlich ein, ich in eine wunderbare Wolke aus seinem Geruch gehüllt.

Ein ganz normales Leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt