Wir sind ein kleiner Fleck...

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Es wurde schwer zu stehen. Ich wusste nicht woran es lag, aber ich hatte krank fast fünf Tage im Bett verbracht. Zu müde, um meine Hand zu heben und zu müde, um meine schweren Augen zu öffnen... und ich träumte wieder intensiv. Viel intensiver wurden diese Träume und der Gesang drang über das weite Meer an meine Ohren und hallte in meinem Kopf wieder. Helle Töne und raues Wellenrauschen, bis ich am sechsten Tag wieder genesen war und zum Strand lief.
Ich hatte mit Sicherheit eine Erkältung, nichts weiter.
Und alles schien mit einem Mal zurück zu kommen, als ich sie am Strand stehen sah. Dünn sah sie aus. So wahnsinnig abgemagert.
Ihre hellen Augen drohten in den geschwollenen Lidern zu verschwinden. Ihre Haut war fahl und eingefallen. Ihre Lippen spröde.
Ich zwang mich zu einem Lächeln und stützte mich an einen Stein. Ich traute mich jedoch nicht, sie anzusprechen. Sie sah so friedlich aus. So stark und doch verletzlich.
„Guten Morgen, Pearl," wagte ich zu sagen und sie drehte sich langsam zu mir. Erschöpft atmete ich aus und erstaunte über ihre Statur. Trotz ihres Aussehens war sie königlich. Sie hätte sofort den Thron einer fernen Welt besteigen können. Ja, als gute, als auch als dunkle Magierin. Aber weil meine lebendige Fantasie mir viele Flausen in den Kopf setzte, konnte ich nicht anders, als auf sie zu zu laufen.
Normalerweise hätte ich solche Stille als unfassbar lästig empfunden. Als ungemütlich.
Als fremd.
Aber hier stand ich nun und schaute sie an. Stundenlang.
Und die Sonne wanderte ihren täglichen Pfad am Himmel, bis sie über uns stand und auf eine Reaktion wartete. Aber ich konnte meinen Blick nicht von ihr nehmen.
Ich wagte kaum zu atmen. Ich lauschte den Wellen und ich hielt diesen Blick. Und die Stille, die uns umgab war nicht ungemütlich, noch war sie unerwünscht. Ich konnte sie verstehen, es war, als sah ich in ihr Innerstes. Als könnte nur sie verstehen, wie ich fühlte und ich, was sie dachte. Ich verstand sie, auch ganz ohne Worte.
Das blau schimmerte in den schönsten Farben und es war, als schwebte ich in einem tiefen Gletschergraben.
„Zenon."
Ihre Stimme wirkte fremd, nach einer so langen Zeit. Die Ermüdung der letzen Tage schien mich wieder einzuholen und ich seufzte.

Sie hob ihre Hände und legte sie auf meine Schultern. Das rot ihrer geschwollenen Augen schien auch die eisblaue Farbe zu vertreiben. Aber das war unmöglich, das musste es sein...
Aber ein weiterer Blick zeigte das rote Glänzen  ganz deutlich. Wie das Lechzen eines Raubtieres, so sahen mich diese Augen an und ihre Hände lagen noch immer auf meinen Schultern.
Ihr Kinn hob sich und sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Immer näher rückte ihr Gesicht an meines und ihr heißer Atem versetzte mich in einen gefrorenen Zustand. Ich konnte mich nicht rühren. Ich wollte es nicht.
Mein Herz raste. Ich schwitzte. Meine Haut glühte. Ihre Nasenspitze berührte meine Wange. Und kurz bevor ihre Lippen über meine glitten, hielt sie inne. Der heiße Atem raubte alle meine Sinne und als sich ihr Griff lockerte, da glaubte ich, sie würde wieder verschwinden, aber das tat sie nicht.
Sie blieb. Ihr Gesicht nah an meinem. Ihre langen Wimpern meine Wangen fast berührend.
Ich wollte ihre Lippen auf meinen spüren. Viel länger würde ich nicht aushalten, aber gerade als ich meine Lippen auf ihre legen wollte, zog sie den Kopf zurück, sah mich an und eine klare Träne bahnte sich ihren Weg die Wange hinunter. Langsam hob ich meinen Finger, um sie wegzuwischen, aber sie nahm ihn und schloss ihre Augen.
„Zenon."
Dann lächelte sie und drehte sich zum Gehen.
Und auch wenn die Stille wieder einsetzte, glaubte ich, sie dieses Mal als unpassend zu empfinden. Ihre Füße sanken in den weichen Sand. Ihr Kleid waberte wie eine Qualle um ihre Beine und ihr langes Haar flog wie eine Welle um ihre Schultern.
Dunkelheit...
So fühlte es sich an, wenn sie ging. Wenn sie mich wieder verließ.
Und dieses Mal schmerzte es. Meine Ohren rauschten und es war, als verlor ich das mir Teuerste auf dieser Welt.
Also lief ich los. Im Sand schnell zu rennen schwer. Die Müdigkeit umrannte mich und meine Knie zitterten. Aber als ich meinen Arm ausstreckte, um ihn um ihre Schultern zu wickeln, da drehte sie sich und schaute mich aus leeren Augen an.
„Bitte... lassen Sie mich helfen."

„Die Stille ist schön," sagte sie.
„Nicht mit jedem," antwortete ich ihr und hoffte, dass sie meine Beweggründe verstand.
„Ja, das stimmt. Aber ich glaube, dass ich sie heute genoss."
„Ich auch," sagte ich hastig.
Sie lächelte und legte ihren Kopf in den Nacken. Ihr Haar kräuselte sich wirr an ihrer Stirn.
„Glauben Sie an Schicksal?"
„Ich glaube daran, dass es etwas gibt, was einem den Weg leitet, nicht aber, dass es einen bindet. Ich glaube, dass man sich seine Wege und die damit verbundenen Lebensumstände selber wählt."
„Mn. Vielleicht, aber was wenn alles unnütz ist?"
„Das ist es sicher nicht, Pearl."
Sie nickte und zog ihre Knie an ihre Brust.
„Und was, wenn es das ist?"
„Was meinen Sie?"
„Wenn die Wege, die man sich aussuchte nicht passierbar sind, wenn nur ein Weg ins unweigerliche Ende führt. Ich bin nicht sicher, aber so fühlt es sich an. Kein Vorne, kein Hinten. Nur das weite Meer."
„Fürchtest du dich davor? Vor Bindungen?"
„Nein. Aber ich weiche ihnen aus."
„Mir nicht, weshalb?"
„Weil sie mir gefallen. Sie machen mich neugierig. Das ist unklug."

Sirens___Ein tödlicher KussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt