nur ein kleiner heller Fleck...

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„Mutter... es ist kein Hirngespinst! Pearl ist real! Sie ist ein lebendiger Mensch! Sie atmet, sie lebt, sie ist eine fantastische Frau und ich will sie heiraten, wenn sie das auch möchte, ganz egal aus welcher Familie sie kommen sollte. Ich war bei ihr bis zum späten Nachmittag...Und diese Bilder...Tonino hat mir soeben ein Buch gezeigt! In diesem Buch sind exakt dieselben Bilder! Sie sind identisch, ich bin nicht verrückt, aber diese Wesen, es war kein Traum, es war Realität!"
Gott, ich hörte mich tatsächlich wie ein Irrer an, aber ich konnte nicht aufhören zu reden. Ich konnte es nicht.
„Zenon!" Ihre Stimme war eisig.
Ich nahm ihr die Bilder jedoch aus der Hand und breitete sie aus.
„Sieh! Hier! Und hier!"
Ich deutete auf die Wesen.
„Ich sah sie in der Nacht des Balles! Und ich habe nicht geträumt!"
So... das war es.
Meine Wange glühte von dem Schlag, den sie mir soeben verpasst hatte.
„Zenon. Schweig! Ich dachte ich hätte dich zu einem reifen Mann herangezogen, aber das was hier vor mir steht ist nichts weiter als ein Irrer! Ich hatte hohe Erwartungen an dich und besonders nachdem du die Nacht mit einer Dame verbrachtest, aber jetzt... aber so! Zenon, du enttäuschst mich. Geh jetzt."
So wütend hatte ich sie noch nie erlebt.
Tränen stiegen mir in die Augen, mir wurde heiß, ich schwitze.
Manchmal würde ich die Zeit gerne zurück drehen. Die Zeit so drehen, dass alle Taten, alle gesprochenen Worte rückgängig gemacht würden. Aber jetzt, wo ich in diesem tiefen Loch stand ging es nicht, so sehr ich es auch wünscht, erbetete.
Ich sah kein Vorn, kein Zurück.
Nur die unaufhaltsame Zeit, die schlug. Die dunkle Uhr, die unaufhörlich weiter schlug.
Dong.
Dong.
Dong.
Und es war, als vergingen Jahre, Zeitalter...
und ich rührte mich nicht.
Ich fror und schwitzte zur selben Zeit.
Ich wollte nichts sehnlicher als zu versinken, als dass ich das Gesprochene ungesagt machen könnte.
Langsam hob ich dann doch meinen Fuß, um durch den Flur und dann zur Treppe zu gehen, aber weit kam ich nicht, denn da hörte ich Mutter jene Worte sagen, die mich bis ins Mark erschütterten:„Morgen gehen wir zum Arzt. Ich lasse dich nicht so enden, wie deinen Bruder! Ich habe es nicht verdient, zwei Söhne geboren zu haben, die krank sind und daran verenden. Ist unsere Familie verflucht? Habe ich so gesündigt?"
Das wars.
Das war mein Ende.
Meine größte Angst.
Und sie war jetzt real.
Meine Mutter hatte nicht über ihn geredet seit seinem Tod vor zehn Jahren.
Ich war damals erst acht Jahre alt gewesen und seine physische Krankheit hatte ich damals nicht richtig verstanden.
Nur, dass sie nicht heilbar war und er deshalb oft in Behandlung musste, bis er gar nicht mehr nach Hause kam, oder sehr selten.
Ich hatte damals nicht verstanden, dass er sich viel zu oft versuchte sein Leben zu nehmen und die Aufenthalte zu Hause seinem Zustand nur schadeten. Aber diese Versuche waren nicht der Grund, warum er dort war. Es war sein Verhalten, das sowohl an Arroganz und Hektik zunahm. Immer öfter redete er wirre Dinge, die meine Eltern nicht verstanden, rannte wild der Gegend herum, reagierte wütend auf Disziplinen oder laute Töne und verkroch sich mit zugehaltenen Augen unter dem Mahagonitisch, während er laut schrie und die Stimmen um sich herum auszublenden versuchte. Er hatte Wahnvorstellungen, seine Hände zitterten, wie die eines Alkoholikers.
Da das Ansehen unserer Familie schwand und dies für das Unternehmen den Ruin bedeutet hätte, wurde er fortgeschafft und in die Klinik eingeliefert. Mit Bescheinigung, dass er erst hinaus dürfe, wenn er genesen sei.
Und als ich das erfuhr, was erst vor einigen Jahren war, da hätte ich am liebsten vor Wut geschrien. Er war kein Irrer, er war mein Bruder... aber sie hatten ihn abgeschoben, einfach weggeworfen, einfach weggesperrt. Und ich fühlte mich, als ob dies auch mein Schicksal sei, denn er war nicht verrückt, sie machten ihn verrückt!
Es war ihre Schuld, ihre, allein ihre!
Und als mein Bruder, der immer aufmerksam gelauscht hatte entlassen wurde, da dachten alle dass er tatsächlich genesen sei... aber die Albträume schwanden nicht, sie wurden stärker.
Sie hatten ihn von Innen zerfressen.

Und hier beginnt meine eigene Erinnerung. Die Erinnerung an seine nassen Hände, die mich hinter ihm her zerrten und weit aufgerissenen Augen, die mich angeschaut, als wir auf dem schaukelnden Boot saßen. Es war sein Geburtstag. Er war vor wenigen Tagen zurückgekommen. Meine Erinnerung beginnt mit dem dunklen Rauschen der schwarzen Wellen. In dieser Nacht war das Meer wild.
Die Strömung stärker als an jedem anderen Tag.
„Zeno, Zeno, Zeno... endlich sind wir frei!" Hatte mein Bruder gerufen und seine Arme weit von sich gestreckt. Aber ich hatte mich an das Holz geklammert und vor Angst die Augen geschlossen.
„Zeno, lass los. Lass alles los. Hahahah! Siehst du, geht doch."
Ich saß ihm gegenüber und schaute in seine Augen, die in jener Nacht so hell wirkten. So glücklich hatte ich ihn lange nicht gesehen. Seine lockigen Haaren wehten wild um ihn, sein Hemd war nass von den peitschenden Wellen, das Boot kurz vorm Kippen.
Und als ich mich wieder halten wollte, da verlor ich das Gleichgewicht, fiel, und schrie.
In diesem Moment rechnete ich mit meinem Tod, nicht dem meines Bruders. Die Wellen drückten mich immer wieder herunter, meine Schreie verhallten in der dunklen See.
Das Salz fraß sich durch meine Lungen und mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung und Müdigkeit.
Das eisige Wasser hatte mich in seinem Griff und ließ nicht los.
Es hielt mich, als würde es mich verschlingen wollen. Ich sah nichts, nur das endlose Wasser, nur Schatten, nur verschwommene Schatten, nur das Licht des Mondes. Meine Augen brannten wie Feuer. Ich schrie, aber wie sollte mich jemand hören?
Und da war alles ganz ruhig, jedenfalls im meinem Kopf, denn das Meer brauste immer noch.
Aber dieser Gesang, diese Klänge, diese fantastische Melodie, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nie zuvor gehört.
Ein Gesang der jedoch nicht meine, sondern die Seele meines Bruders beflügelte.

Sirens___Ein tödlicher KussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt