Ein Schrei.

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Sie machte eine einladende Geste und wir setzten uns anschließend an den Pier.
Mittlerweile war ich trocken, die Mittagssonne dunkler und der Sand größtenteils abgeklopft.
„Zenon, wenn sie über die Bedeutung ihres Names nachdenken... dann sind tatsächlich ein Geschenk des mächtigen Zeus."
„Ich glaube nicht sonderlich an diese Mythologie."
„Nicht? Aber was, wenn die Abenteuer des Odysseus real und jede der Götter nun das Geschenk des Zeus belacht?"
„Dann sei es drum. Homer wird's verzeihen."
Sie lachte und zeigte mit dem Finger auf das Meer.
„Homer sagte auch, dass Wachs in den Ohren seine Männer schützen könne. Sie sollten bei nächtlichen Boots-Ausflügen deshalb lieber an Wachs nicht sparen."
„Werde ich nicht," lachte ich und schaute aufs Meer.
„Aber die Insel dieser Wesen ist weit von hier. Ich glaube nicht, dass sie so nah an den Küsten Siziliens liegt, sie soll sich doch zwischen dem Festland Italiens und Sizilien befinden, also liegt doch ein beachtlicher Weg zwischen ihnen."
„Wenn Sie das glauben. Aber die Zeit geht anders auf dem Meer. Und es ist ein Ort, an dem die Seeungeheuer lauern."
„Ich werde mehr Wachs benötigen," grinste ich und sie krümmte sich vor Lachen.
„Nun, aber diese bärtigen Wesen sollen schließlich Selbstmord begangen haben. Denn die Niederlage an Odysseus konnten sie nicht verkraften."
„Hahahaha!" Pearl wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel:„Nun, wenn sie das täten, wären sie schon sehr schwach. Und bärtig waren sie nicht, befürchte ich."
„Glauben sie an diese Geschichten?"
„Ich glaube, dass in jeder von ihnen ein Funken Wahrheit steckt. In einigen mehr als in anderen."
Jetzt lächelte sie nicht mehr so stark und sagte:„Das thyrennische Meer ist weit, Zenon, Geschenk des Zeus. Irgendwo dort in der weiten Ferne liegt Anthemoessa. Vielleicht näher als zu denkst. Vielleicht nicht bei Neapel, aber vielleicht bei Sorrent, in der Meerenge, in der Nähe von Kirke. Irgendwo dort, fern von hier."
Es wurde dunkler und ihren Kopf auf meine Schulter gebettet murmelte sie:„Zenon, wenn du Anthemoessa jemals siehst, dann bitte ich dich so schnell wie möglich das weite zu suchen, ja?"
Sie sorgte sich um mich?
Sie sorgte sich um mich!
„Mn," ich nickte und wenn sie mein Gesicht sehen könnte, dann hätte sie womöglich eine saftige Tomate gesehen, mit Lippen zu einem breiten Grinsen gezogen.
Ich schloss langsam meine Augen. Die Sonne war fast im dunklen Meer verschwunden und Pearl schien zu schlafen. Ihr Atem ging ruhig, ihre Hände lagen auf ihren Schoß. Ihr langer Zopf lag auf dem Holz des Steges.
Vielleicht hatte sich der goldene Käfig geöffnet, wenn auch nur einen Spalt.
Aber als sie aufschreckte und sich umblickte, als habe sie gehört, wie jemand ihren Namen gerufen, stand sie auf und übrig war das Mädchen, welches so schön war, als käme sie nicht aus dieser Welt.
„Pearl?"
Sie biss sich auf die Unterlippe und drehte sich wieder zu mir.
„Mir war, als hörte ich meinen Namen."
Und da war es wieder. Das blutige Leuchten ihrer Augen. Die Dunkelheit schien ihre Haut hell, wie weiß gestrichen zu färben und ihre Haare dunkel wie den Ozean vor uns zu färben.
„Ich sollte nach Hause, Zenon. Meine Eltern sorgen sich sicher, wenn ich nicht bald gehe."
„Das verstehe ich..."
Bleib bitte... bitte bleib...
Sie drehte sich und verschmolz dann mit der Dunkelheit. Ich konnte mich jedoch noch nicht dazu zwingen, nach Hause zu gehen. Das Funkeln der ersten Sterne am Himmelzelt, das Leuchten der Untergehenden Sonne auf dem Meer. Das letze goldene Glänzen, bevor sie im Meer verschwinden würde.
Und als ich aufstand, um zu gehen, da hörte ihr sanfte Rufe aus der Ferne. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Meine Augen auf das Meer gerichtet. Meine Knie weich. Meine Haare im Wind wehend, der kalt um mich waberte. Ein Lied aus einer anderen Welt. Ein Lied so fern von hier, dass es nur wie das dumpfe Rauschen der Wellen klang. Oder war es nur das Meer, welches in den Höhlen der Felsen zerschellte. Aber die Hellen Klänge waren wie Blasen aus Luft, oder Schaum, welche an die Höhlenwände der Unterirdischen Felsspalten prallten. Als prasselten sie auf hohen Wellen.
Als würde ich im tiefen Meer versinken. Und dort stand ich. Lange... und lange lauschte ich dem Meer. Zu ängstlich, um meiner Verlockung ins Meer zu springen, zu folgen und zu ängstlich, mich zu rühren.
Aber irgendwann muss man gehen. Irgendwann holt einen die Realität ein.
Deshalb ging ich. Ich ging zu unserem Anwesen, welches sich auf den hohen Klippen Siziliens befand und ich folgte den Stufen, auch wenn ich mich am liebsten einfach hinunter ins Meer gestürzt hätte.

Homer=Autor der Odyssee (literarisch älteste Sirenenüberlieferung)
Anthemoessa=Name der Insel der Sirenen

Sirens___Ein tödlicher KussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt