Kapitel 4 ✔️

1.5K 82 14
                                    


Was gab es Schöneres, als frühmorgens an einem Samstag querbeet durch die Natur zu rennen? Stimmt. Absolut nichts. Demnach schnürte Lexa um halb fünf ihre Laufschuhe, schloss die Haustür auf und trat gutgelaunt nach draußen. Die frische Luft begrüßte sie mit einer Vielzahl von Gerüchen. Es hatte in der Nacht geregnet und die Feuchtigkeit hing über der Erde wie eine nasse Decke. Das störte das Mädchen keineswegs. Sie liebte Regen und Feuchtigkeit. Trockene Hitze dagegen war ihr ein Gräuel. In einem gemächlichen Tempo setzte sie sich in der Dunkelheit in Bewegung. Die Sonne ging erst gegen halb sieben auf. Kaum jemand war zu dieser Zeit wach, geschweige denn draußen, um sie bei ihrem Lauf zu beobachten. Ideale Bedingungen, um mal ein wenig aufs Tempo zu drücken. Aber erst, wenn sie aus dem Sichtfeld möglicher Zuschauer verschwunden war. 

Samstags joggte sie nie durch den Wald, der an die Felder des Abwasserverbands grenzte, sondern lief an der Oker entlang. Die nördliche Okeraue zwischen Hülperode und Neubrück war ein zweihundertfünfzig Hektar großes Naturschutzgebiet. Hauptsächlich Grünland säumte das Flussufer und war somit ideal für einen Ausdauerlauf. Dank Lexas ausgeprägten Sinne kannte sie die Orte genau, wo sich Tiere und Vogelnester versteckten, und umlief diese daher weiträumig. Das unbefestigte Flussufer selbst war von Aufsandungen und Abbruchkanten geprägt. Erstere waren nichts anderes als Sandablagerungen und die Zweiten entstanden durch die regelmäßigen Überschwemmungen.

Als Lexa an der neuapostolischen Kirche vorbeikam, roch sie einen verräterischen Geruch, der von Amys Terrasse kam. Obwohl er schon einige Stunden dort hing, hatte der Regen ihn nicht aus der Luft gewaschen. Wieso wunderte es die Brünette nicht, dass ihre Erzfeindin Joints rauchte? Es passte zu ihrem ganzen Verhalten, ihrer Abneigung Regeln gegenüber. Vieles an ihr war dem Verschwinden ihres Vaters geschuldet, der sich aus dem Staub gemacht hatte, als sie sechs Jahre alt war. Laut Alexandras Mutter, weil er seine Frau und ihre seltsame Auffassung von Erziehung nicht mehr ertrug. Das wunderte Lexa keineswegs. Die Alte hatte bei Amy und genauso bei ihren jüngeren Geschwistern eine Menge versaut. Was das braunhaarige Mädchen und andere ausbadeten. Aber bald war sie die Zicke los. Hoffentlich für den Rest ihres Lebens. Kopfschüttelnd überquerte sie die Landstraße und joggte den Radweg entlang, bis sie die Okerbrücke erreichte. Dort kreuzte Lexa erneut die Straße und lief den kleinen holprigen Pfad hinunter, um in das Naturschutzgebiet zu gelangen.

In einem ruhigen Tempo laufend kam sie in unbewohntes Gebiet. Endlich. Das Mädchen beschleunigte ihre Schritte und verlängerte gleichzeitig die Schrittlänge. Wie von einem kräftigen Wind angeschoben stürmte sie vorwärts. Ihr Beine schnellten immer wieder von einer unbekannten Macht getrieben nach vorn. Trugen Lexa weiter weg von den Menschen, die sie verabscheute. Ihre Augen suchten die Dunkelheit ab. In einem Gebüsch sitzend beobachte ein Fuchs misstrauisch den Zweibeiner und wenn sie nicht alles täuschte, lugte ein Stück weiter ein Dachs aus seinem Bau heraus. Die Eule, die zu ihrer rechten in einer alten Eiche wohnte, zog ihre letzten Runden auf der Suche nach einer Maus. Schon bald würde sie in ihrem Unterschlupf verschwinden, um den Tag zu verschlafen. Eule oder Dachs müsste man sein. Nachts war die Welt so friedlich. Zumindest hier auf dem Dorf. Großstädte dagegen kamen nie zur Ruhe. 

Etwas graute der Brünetten vor Amsterdam. Doch war es die einzige Möglichkeit, ihre Eltern und ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Beim Frühstück wollte Lexa sie auf die Studienwahl ansprechen. Das war mit ein Grund für ihren frühen Lauf. Sie benötigte einen klaren Kopf, damit sie ihre Argumente voller Elan und Überzeugung vorbringen konnte. Kilometer um Kilometer rannte sie weiter, sprang über Gräben oder Altarme, überwand Zäune und erlebte grenzenlose Freiheit. Nach einer Weile kam sie am Wendepunkt an. Die Natur erwachte langsam aus ihrem Schlaf, während die Nachttiere ihre Schlafplätze aufsuchten. Kurz hielt die Läuferin an, ließ den Blick über die Wiesen schweifen. Die Dämmerung hatte eingesetzt und sie sah alles klarer als zuvor. Der Geruch der feuchten Erde füllte ihre Lungen, als sie einige Male tief einatmete. Dann drehte Lexa sich um und rannte den gleichen Weg zurück.

Der BasterianerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt