Kapitel 29 - Theodora

451 54 4
                                    

Ich blicke erstaunt aus dem Fenster der Kutsche. Irgendwie habe ich erwartet, dass sich mein Zuhause nicht verändert hat. Doch tatsächlich hat sich fast alles geändert.
Der lange, geschlungene Weg, der auf unsere Familienvilla zuführt, mutete einst wie ein etwas breiterer, geebneter Waldweg an, gesäumt von wild wachsenden und blühenden Hecken. Das, was ich jetzt erblicke, ist eine Auffahrt mit weißem Kies, an der sorgfältig gestutzte Büsche Spalier stehen. Unwillkürlich lässt mich dieser Anblick frösteln. Es ist, als hätten meine Eltern Kassandras und meine Kindheit gelöscht.
Wir biegen um die Ecke auf den kleinen Vorplatz und ich erstarre aufgrund der Villa, die sich vor uns erhebt. Ich habe mein Zuhause immer geliebt. Aus Backstein, verwinkelt und mit Efeu bewachsen, erschien es mir wie das Anwesen aus einem Märchen. Abgelegen und verwunschen – ein Ort, wo Wünsche wahr werden.
Mein Elternhaus jetzt ist alles andere als das. Jegliches Grün wurde von den Mauern entfernt. Stattdessen befindet sich nun auf der linken Seite ein massiver, steinerner Anbau, der kalt, kahl und grau in die Höhe ragt und so gar nicht zu dem Rest des Hauses passen will.
Wäre das hier nicht meine Heimat, wäre ich nur Gast und nicht Tochter des Hauses, dann würde ich den Kutscher bitten, umzukehren und diesen geschmacklosen Ort zu verlassen. Aus Angst davor, was mich noch erwartet. Aus Sorge davor, dass die Gastgeber genau das widerspiegeln, was ihr Heim verspricht.
Alfons räuspert sich unbehaglich. „Hier sind Sie aufgewachsen?", fragt er zweifelnd. „Nein", antworte ich monoton. „Hier bin ich ganz sicher nicht aufgewachsen."
Ich schlucke. „Ich weiß noch nicht ganz, was das bedeuten soll. Das Haus, die Auffahrt... Alles hat sich verändert. Ich glaube, ich würde gerne einfach nur meine Schwester sehen und über alles andere später nachdenken."
Alfons greift nach meiner Hand und drückt sie, als Zeichen, dass er mich versteht. Dann öffnet er die Tür der Kutsche, steigt aus und hilft mir hinaus. Ich hake mich bei ihm unter und bin wirklich unglaublich froh, dass er jetzt bei mir ist.
Er führt mich zur Haustür und läutet. Die Türglocke ist noch die gleiche. Es dauert ein paar Sekunden, dann öffnet ein Butler, den ich nicht kenne. Wir hatten nie einen Butler.
„Sie wünschen?", fragt er knapp und ohne Anstalten, uns willkommen zu heißen. Durch meine Zeit bei Hofe weiß ich, dass ein Butler nicht nur die Tür öffnen, sondern gleichermaßen für den freundlichen Empfang der Gäste sorgen muss. Vor allem jedoch sollte er die wichtigsten Personen im Umfeld der Dienstherren kennen. Und dazu zähle ich als Tochter.
„Ich wünsche, dass Sie mich hier nicht länger stehen lassen, wie den Postboten. Ich wünsche, dass Sie das nächste Mal wissen, dass ich Baroness von Mühlen bin, die älteste Tochter Ihres Patrons und ich wünsche, dass Sie nie wieder einen Gast mit diesem abschätzigen Gebaren begrüßen."
Er blickt mich nur eine Weile gleichgültig an, dann tritt er beiseite. Das kommt zwar keiner Einladung und auch keiner Begrüßung gleich, doch ich rausche hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei ins Haus. Alfons nimmt mir den Mantel ab und lädt ihn auf dem verdutzten Angestellten ab.
„Wir möchten zu Baroness Kassandra von Mühlen. Wo finden wir sie?", fragt er mit einer Unfreundlichkeit, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Hier wohnt keine Kassandra." Der Butler trägt nun wieder seine unbeteiligte Miene zur Schau.
„Natürlich wohnt sie hier!" Ich werde aufbrausend. „Und Sie werden mir jetzt sagen, wo ich sie finden kann!" Der Butler mustert mich mit einer Geringschätzung, dass ich mir vorkomme, wie ein Insekt.
„Hier gibt es keine Kassandra. Für weitere Auskünfte wenden Sie sich am besten an den Baron und die Baronin. Die beiden befinden sich im neuen Salon. Da das hier Ihr Elternhaus ist, nehme ich an, dass Sie sich auskennen."
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, was ich tun soll. Ich bin vollkommen verwirrt, verletzt und überfordert. Ich kann nicht verstehen, wieso er sich so verhält. Ich bin doch immer der Stolz meiner Eltern gewesen, sie haben mit mir geprahlt und das beste für mich gewollt. Und jetzt komme ich in ihr Haus und werde gedemütigt, degradiert von einem Angestellten.
Ich bin froh, dass Alfons mir sacht die Hand auf den Rücken legt und mich weiter ins Haus führt. „Denken Sie daran: Es muss Ihnen vorerst egal sein, was alles auf Sie einströmt. Wir gehen jetzt zu Ihren Eltern und fragen sie nach Ihrer Schwester. Wissen Sie, wo der neue Salon ist?"
Ich schüttele den Kopf. „Dann ist er vermutlich im Anbau", schlussfolgert er. „Kommen Sie."
Er führt mich weiter ins Haus und tatsächlich betreten wir bald einen Teil, den ich noch nicht kenne. Das klassische Dekor wird abgelöst von einem geschmacklosen Durcheinander an Einrichtungsgegenständen, Tapeten und Stuck. Als wollten die Besitzer lediglich zeigen, dass sie Geld haben.
Alfons stößt wahllos eine der Türen auf und wir stolpern auf Anhieb in einen Raum, der wohl der neue Salon sein soll. Was genau daran ein Salon ist, weiß ich allerdings nicht. Wie überall wurde auch hier alles Mögliche umgesetzt und nichts davon richtig.
Das Zentrum bildet ein Billard-Tisch, weiter hinten im Raum finden sich Regale mit einer Vielzahl an Büchern und vorne eine Sitznische zum Tee trinken. Zudem sind über den Raum vereinzelt Sitzmöbel, wie Sessel oder Sofas verteilt, sowie ein Kamin und ein Zimmerbrunnen.
Meine Mutter hat sich auf einer Chaiselongue ausgestreckt, mein Vater blättert weiter hinten im Raum durch ein paar Bücher und in der Teenische sitzt ein untersetzter junge Mann, der eine Taschenuhr aus Messing poliert. Auf dem Tisch vor ihm liegen sieben weitere, offenbar handelt es sich um eine Sammlertätigkeit. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass es sich um meinen Cousin handelt, den ich als ziemlich dickes, vor allem aber faules und gemeines Kind in Erinnerung habe.
Alle drei blicken auf und unterbrechen ihre Tätigkeit, als wir eintreten. Wir starren uns eine Weile stumm an, dann bläkt mein Cousin: „Du hast dich gar nicht angemeldet." Er wendet sich an meine Mutter. „Darf sie einfach so herkommen, ohne sich anzumelden?"
Mir klappt die Kinnlade herunter. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Das ist mein Zuhause, das dort sind meine Eltern, ich komme, wann ich es will. Und du hast dazu gefälligst den Mund zu halten." Mein Cousin wird rot im Gesicht.
„Darf sie denn so mit mir reden?", mault er, als wäre er ein kleines Kind. Meine Mutter seufzt.
„Theodora, das war nicht sehr nett. Vessel hat ein zartes Gemüt und man kann von einer Frau deiner Stellung doch erwarten, dass sie ein gewisses diplomatisches Betragen mitbringt."
Ich atme tief durch, um ruhig zu bleiben. „Falls ich wirklich unhöflich gewesen sein sollte, liegt es vielleicht daran, dass mein Cousin sich aufführt, wie der Herr im Haus und der Butler mich so freundlich empfangen hat, als wäre ich ein ekelhafter Käfer. Aber sich darüber zu streiten, verschwendet nur meine kostbare Zeit, also komme ich gleich zur Sache: Wie geht es Kassandra? Wo ist sie?"
Meine Mutter runzelt missbilligend die Stirn und Vessel macht sich wieder an das Polieren seiner Uhren. Nach einer Pause seufzt mein Vater und sagt: „Sie wohnt nicht mehr hier."
Ich starre sie schockiert an. „Wie bitte?!" Meine Mutter verdreht die Augen. „Theodora, nun tu nicht so, als hätten wir ein Verbrechen begangen. Wir haben uns wirklich alle Mühe gegeben, aber ungefähr ein Jahr, nachdem du fortgegangen warst, haben wir uns eingestehen müssen, dass wir mit Kassandra einfach überfordert sind. Ihre Krankheit hat uns das Leben sehr schwer gemacht und die Pflege für sie war so teuer, das konnten wir einfach nicht mehr aufbringen. Wir haben ihr zu verstehen gegeben, dass wir nicht länger die Verantwortung für sie übernehmen können und sie hat sich eine andere Bleibe gesucht."
Ich spüre, wie sich die Wut in mir zusammenballt, wie meine Augen feucht werden und wie mein Körper zu zittern beginnt.
„Kassandra ist nicht krank! Sie kann nur nicht laufen! Und ihr hattet mein Geld, habt es die ganze Zeit gehabt! Ihr habt es verprasst für diesen hässlichen Anbau, für die Uhren meines fetten Cousins, für die Auffahrt, dabei habe ich das Geld für Kassandra verdient! Ihr hattet jede Möglichkeit, ihr alles zu geben, was sie braucht!"
„Theodora", sagt meine Mutter, als wäre ich ein übellauniges Kind. „Das Geld hast du nicht verdient. Es ist eine Entschädigung für uns, weil wir dich entbehren müssen. Und Kassandra ist eine Schande für die Familie, sie hat uns nie etwas zurückgegeben für all die Mühe, die wir in sie gesteckt haben. Wir wissen nicht, wo sie untergekommen ist."
Ich fühle mich leer und hilflos. Alfons stellt sich noch dichter neben mich und greift nach meiner Hand.
„Lassen Sie uns hier verschwinden. Wir finden sie, das verspreche ich Ihnen."
Unfähig, selber aktiv zu werden, lasse ich mich von ihm hinausführen. Ich habe immer gewusst, dass meine Eltern sich nicht so um meine Schwestern kümmern, wie sie es tun sollten. Aber ich hätte sie nicht dazu fähig gehalten, sie zu verstoßen. Und in der Art, wie sie mit mir umgehen, bin ich ihnen im Prinzip auch gleichgültig. Das kann ich nicht mit den Erinnerungen vereinbaren, die ich aus meiner Kindheit habe. Meine Eltern waren immer ehrgeizig. Aber trotzdem habe ich mich von ihnen geliebt gefühlt.
Wir treten hinaus auf den kleinen Vorplatz vor der Villa. Unsere Kutsche steht zum Glück noch da. Scheinbar hat keiner der Angestellten damit gerechnet, dass wir besonders lange hierbleiben würden. Oder sie sind nur zu schlecht ausgebildet, um zu wissen, was sich gehört.
„Wir sollten in den nächsten Ort fahren, uns eine Bleibe suchen und uns umhören. Ich glaube nicht, dass eine Baroness einfach so verschwinden kann. Es gibt immer Leute, die über solche Dinge Bescheid wissen."
„Und wenn uns niemand Auskunft geben will?", frage ich leise. „Ich würde den Menschen hier zutrauen, dass sie den Mund halten, aus Angst vor Konsequenzen. So klein Mühlen auch ist, meine Eltern sind trotzdem die Herrschaften dieses Gebietes." „Niemand ist unbestechlich." Alfons Stimme klingt entschlossen.
Er will mir in die Kutsche helfen, da werde ich von einem atemlosen „Baroness!" zurückgehalten. Ich wende mich um und erblicke eine junge, magere Angestellte, die sich japsend die Seite hält. Dennoch knickst sie und richtet ihren Blick schüchtern zu Boden.
„Ich habe mich davongeschlichen und meinen Arbeitsplatz verlassen, weil ich gehört habe, dass Sie hier sind. Ich bin die Einzige, die auch vor Ihrem Weggang schon hier gearbeitet hat."
Ich betrachte sie genauer und atme dann schockiert ein, als ich sie erkenne. „Fine", kommt mir ihr Name über die Lippen. Sie war noch nicht volljährig, als sie hier angefangen hat. Ich habe sie als fröhliches Mädchen mit rosigen Wangen in Erinnerung, die eifrig das getan hat, was man ihr auftrug. Es schmerzt mich, sie so zu sehen, dünn und fahl. Es sagt sehr viel aus über die Art und Weise, wie meine Eltern ihren Hausstand führen und für die Angestellten sorgen.
„Sie erinnern sich noch an mich." Die junge Frau lächelt. „Ich dachte mir, Sie würden gerne wissen wollen, wo Ihre Schwester ist. Ich sehe regelmäßig nach ihr – je nachdem, wie meine Arbeitszeiten es zulassen. Manchmal bringe ich ihr Essen, das von den Herrschaften oder von den Mahlzeiten der Angestellten übrig geblieben ist. Etwa ein Jahr, nachdem Sie Hofdame geworden sind, ist die Baroness aus eigenen Stücken ausgezogen. Ihre Eltern haben sie nicht gut behandelt, immer nur geschimpft, manchmal sogar geschlagen und in keiner Weise für sie gesorgt. Sie hat gemeint, es könne ihr nicht schlechter gehen, wenn sie alleine wohnt und niemanden um sich hat. Aber natürlich ist sie auf Hilfe angewiesen und es gibt nicht viele Menschen im Ort, die bereit sind, sich ohne Entlohnung um sie zu kümmern. Sie wohnt in dem alten Torhaus an der Südgrenze des Grundstücks. Die Herrschaften benutzen es nicht mehr."
Meine Augen werden feucht. Aus einem Impuls heraus gehe ich auf Fine zu und umarme sie. Sie scheint völlig verdattert und starrt nervös zur Erde, als ich sie wieder loslasse. „Es tut mir leid", sage ich. „Ich bin dir nur sehr dankbar. Nach allem, was mich am heutigen Tage hier erwartet hat, habe ich nicht mehr damit gerechnet, Kassandra so schnell zu finden oder einfach irgendjemanden zu finden, der freundlich ist. Ich danke dir."
Alfons hilft mir in die Kutsche, aber ich kann sehen, wie er Fine einige Münzen zusteckt, bevor er ebenfalls einsteigt und die Tür schließt.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie sich jetzt fühlen müssen. Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie mit mir über alles reden können, dass ich Ihnen helfe, so gut ich kann und dass Sie nur etwas sagen müssen, wenn Sie etwas brauchen."
Ich lächele, das erste Mal an diesem Tag. „Ich weiß, Alfons. Das haben Sie bereits bewiesen."

Die FürstinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt