Epilog - Kassandra

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Der Garten des Kroesus-Anwesens ist nicht wiederzuerkennen. Zelte, Buden und Spiele sind aufgebaut, lachende Kinder spielen Fangen, Erwachsene unterhalten sich bei einem Humpen Bier oder einem Glas Limonade und die ausgelassene Stimmung steckt jeden an, der nicht schon allein vom Sonnenschein gute Laune hat. Das Lachen dringt bis zu mir in die Bibliothek, von wo ich aus meiner Lieblingsfensternische das Treiben beobachte.
Heute ist Kroesus-Sommerfest und jeder Bewohner des Fürstentums, der es sich einrichten kann, ist eingeladen, einen Tag mit dem Fürstenpaar zu verbringen und zu Getränken und Kuchen eingeladen zu werden. Es ist der perfekte Abschluss der Rundreise, die Alfons und Theodora die letzten Monate schrittweise unternommen haben, um jedes Gebiet und jede Zunft in Kroesus kennenzulernen. Und glaubt man meinem Schwager, ist diese Unternehmung ein voller Erfolg gewesen.
Er hat bestimmt wochenlang davon erzählt, wie er von einem Bauern in ein Gespräch verwickelt wurde und nach minutenlangem Suchen seine Frau entdeckte, wie sie mit einem Stock und lautem Rufen beim Treiben einer Rinderherde half. Oder wie sie sich kurzerhand zu einer Wäscherin in den Bach stellte, um sich besser mit ihr unterhalten zu können.
Aus Alfons sprechen so viel Liebe und Stolz und auch ich bin glücklich, wenn ich meine Schwester sehe. Sie erinnert mich an das freie, lebenslustige Mädchen von früher, bevor sie in ein Korsett gezwängt und an den Hof geschickt wurde.
Ich entdecke sie draußen im Garten, wie sie gemeinsam mit zwei kleinen Mädchen ein Spiel spielt, bei dem man Holzringe über Stäbe werfen muss. Sie trägt ihre Landfrauentracht – ein Kostüm aus hellen, groben Leinenstoffen mit aufgestickten Blumen, einer Schürze und einem großen Strohhut. Als sie mir die Tracht zum ersten Mal vorführte, konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen, aber Alfons hatte sie nur in den Arm genommen und ihr einen Kuss auf ihre Lippen gehaucht. Mit ernstem Ton hatte er gemeint, dass die Landfrauen die Traditionen in Kroesus wirklich verteidigen würden und es eine große Ehre sei, dass Theodora nach so kurzer Zeit bereits Mitglied werden dürfe. Seine Mutter hätte dafür Jahre gebraucht. Zärtlich hatte er hinzugefügt, dass seine Frau wohl alle so verzaubert hätte wie ihn.
Ich seufze und wende meine Aufmerksamkeit wieder auf die Dokumente auf meinem Schoß. Ich weiß, was darinsteht, aber ich habe mich bisher immer darum gedrückt, dieses Thema ernsthaft zu bedenken. Unter anderem handelt es sich um die Besitzurkunde zu meinem Elternhaus und ein Formular, welches die Übernahme des Titels an mich bescheinigt. Baronin Kassandra.
Kurz nach der Hochzeit hatten Theodora und Alfons tatsächlich damit begonnen, rechtlich gegen unsere Eltern vorzugehen. Ich glaube, meine Schwester hätte ihnen ihr Betragen ihr selbst gegenüber verziehen, aber wie sie mich behandelt hatten, konnte sie nicht vergessen.
Da unsere Eltern offiziell unseren Cousin zum Erben gemacht hatten, hätten sie all die Jahre keinen Anspruch mehr auf das Geld gehabt, welches Theodora ihnen als familiäre Zuwendung zukommen ließ. Kurzum forderte das Gericht also die Rückzahlung. Das konnten unsere Eltern nicht aufbringen, da sie durch den Anbau bis zum Hals in Schulden steckten. Also wurde das Haus an Theodora vererbt, die es auf meinen Namen überschrieb, sobald sie die Dokumente dazu in der Hand hielt. Und wer das Haus hat, hat auch den Titel. Und jetzt sitze ich hier und weiß nicht, was ich mit diesem Besitz anfangen soll. Mir liegt nichts daran und doch bin ich mir nicht sicher, ob Theodora erwartet, dass ich damit mein eigenes Leben anfange.
Ich werfe durch das Fenster einen Blick auf sie. Sie ist so glücklich, weil sie endlich das Leben lebt, das sie verdient und immer wollte. Ihr ganzes bisheriges Leben hat sich um mich gedreht. Sie hat sich immer um mich gekümmert, mich immer verteidigt und selbst in ihrer Zeit bei Hofe dafür gearbeitet, dass Geld für meine Belange da ist. Ich weiß nicht, ob es besser wäre, wenn ich wieder nach Mühlen ginge und ihr endlich die Möglichkeit gäbe, sich nur um sich zu kümmern.
„Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass Sie hier sind, Baronin. Ich wollte nicht stören", werde ich von einer tiefen Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Ich blicke auf und spüre, wie ich erröte. Zwischen den Bücherregalen der Bibliothek steht Ned Merten, der Stallmeister und deutet eine Verbeugung an. Ned ist ein muskulöser, junger Mann mit hellem Haar, Dreitagebart und freundlichen Augen. Alfons hatte mich nach meiner Ankunft all seinen Bediensteten vorgestellt. Ned war sehr wortkarg gewesen, aber er hatte mir ein freundliches Lächeln geschenkt, das irgendwie in meinen Gedanken hängen geblieben ist. Wir sind uns seitdem nur flüchtig begegnet und haben kaum ein Wort gewechselt, aber ich liebe es, ihn von meinem Zimmer aus zu beobachten, wie er auf einer kleinen Koppel die Pferde longiert.
Bevor sich die Stille noch weiter zwischen uns ausbreiten kann, erwidere ich: „Sie stören nicht, Herr Merten. Ich habe die Bibliothek nicht für mich gepachtet." Er lächelt verlegen. „Sie wissen ja sogar meinen Namen." Ich runzele die Stirn. „Natürlich. Wir wurden uns vorgestellt und Sie wissen ja auch, wer ich bin. Und dass sich mein Titel geändert hat." Ich sinne einen Moment darüber nach. „Und das ist wirklich seltsam, weil selbst mein Dienstmädchen mich noch mit Baroness anspricht, obwohl sie eigentlich Kassandra sagen sollte..."
Ned beobachtet mich verlegen und ich stoppe mich in meinem Redefluss. „Es tut mir leid. Manchmal rede ich zu viel." Er schüttelt den Kopf und lächelt. „Nein, das tun Sie nicht. Und es gehört sich, zu wissen, wer Sie sind. Schließlich sind Sie die Schwester unserer Fürstin."
Wir verfallen wieder ins Schweigen. Ich räuspere mich. „Kann ich Ihnen helfen?" Er richtet wieder seinen Blick auf mich. „Das glaube ich nicht. Ich suche die Landwirtschaftlichen Zuchtberichte des letzten Jahres. Das wäre wirklich zu viel verlangt, dass Sie das wissen." Ich überlege nur wenige Sekunden. „Versuchen Sie es in der übernächsten Regalreihe links und dort etwa in der Mitte."
Er wirft mir einen überraschten Blick zu, verschwindet dann für eine halbe Minute und kehrt mit einem schmalen, braunen Buch zurück. „Vielen Dank. Ich hätte sicherlich eine Weile danach gesucht." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Darf ich so frei sein, Sie zu fragen, warum Sie hier drin sind und nicht auf dem Gartenfest?"
Ich lege meine Papiere beiseite. „Natürlich dürfen Sie das. Ich bin hier, weil ich heute niemanden dazu verpflichten will, mir zu helfen. Heute haben alle einen freien Tag. Und das gilt vor allem für meine Schwester, die sich immer darum sorgt, dass es mir gut geht. Darüber hinaus habe ich ein paar Problemstellungen, denen ich mich endlich widmen muss." Ich mustere ihn, wie er mir ernsthaft und interessiert zuhört.
„Wüssten Sie, was Sie mit einem großen Haus machen würden?" „Sie meinen Ihr geerbtes Elternhaus", stellt er fest und ich bin einmal mehr verwundert, dass er das weiß. „Sie wissen erstaunlich gut über mich Bescheid", stelle ich fest und er lächelt verlegen.
„Ich weiß, dass ich vermutlich meine Grenzen übertrete, wenn ich so offen rede, aber ich finde, Sie sind eine interessante Person. Und ja, möglicherweise habe ich den Tratsch der Dienerschaft bedient, um etwas mehr über Sie zu erfahren. Ich sehe Sie häufig in Ihrem Zimmer am Fenster sitzen und lesen und es ist seltsam, aber ich habe das Gefühl, dass Sie inzwischen zu meinem Tag dazugehören."
Ich erröte und senke den Blick auf den Fußboden. Ich wusste nicht, dass er bemerkt hat, dass ich an meinem Fenster sitze und vorgebe, zu lesen, während ich ihn beobachte.
„Und zu Ihrer Frage – ich weiß nicht, was ich mit einem großen Haus machen würde. Selbst, wenn ich ein Haus hätte, würde ich vermutlich nicht darin einziehen. Mir gefällt es in Kroesus. Es ist eine so herzliche Gegend und es macht mich glücklich, hier zu leben."
Perplex schaue ich ihn an. „Sie haben so ziemlich das beschrieben, was ich empfinde. Kroesus ist noch nicht lange meine Heimat, aber ich bin lange nicht mehr so glücklich gewesen. Und ich würde liebend gerne für immer hierbleiben, wenn nicht..." Ich seufze. „Theodora hat mir das Haus doch nicht grundlos überschrieben. Was ist, wenn sie mir damit etwas sagen wollte?"
Ich schaue peinlich berührt auf die Dokumente in meinem Schoß. „Es tut mir so leid. Ich habe schon wieder zu viel gesagt. Und das alles sind ja auch gar nicht Ihre Probleme und ich sollte damit nicht so hausieren gehen. Jetzt fühlen Sie sich genötigt, etwas zu sagen und das tut mir leid. Sie müssen darauf nichts antworten."
Aber er antwortet und ich höre das Lächeln in seiner Stimme. „Ich glaube, wir sind heute beide nicht so zurückhaltend mit unseren Worten. Aber Sie müssen keine Angst haben, dass Ihre Schwester Sie hier nicht haben will. Im Gegenteil. Erstens liebt Ihre Schwester Sie. Dass kann jeder sehen, der Zeuge wird, wie Sie miteinander umgehen. Sie sind Familie und Sie gehören zusammen. Zweitens würde Ihre Schwester Ihnen doch ehrlich sagen, wenn sie möchte, dass Sie nach Mühlen ziehen. Sie ist, genau wie der Fürst, der Typ Mensch, der Missverständnisse in der Regel vermeidet und klar ausspricht, was er denkt. Und drittens hat der Fürst Sie hierhergeholt, damit Sie hier leben, bevor er Ihre Schwester geheiratet hat. Sie glauben doch nicht, dass Sie jetzt weggeschickt werden, wo Ihre Schwester hier wohnt."
Ich lasse mir seine Argumente durch den Kopf gehen. „Wissen Sie was, Ned? Sie haben absolut Recht!" Ich schenke ihm ein Lächeln und er lächelt zurück. „Ja, ich habe manchmal meine hellen Momente. Und ich mag es, dass Sie meinen Namen sagen." Erschrocken blicke ich ihn an. „Meine Güte, das tut mir leid! Es war so ein Reflex..." Ich schließe resignierend die Augen. Ich mache meinen Fauxpas kein Stück besser. Ich habe das Gefühl, dass ich von einer Peinlichkeit in die nächste stolpere. Ich habe so gut wie noch nie mit ihm geredet und gleich bei der ersten Begegnung spreche ich zu viel, erzähle von meinen Problemen und nenne ihn beim Vornamen. Und seltsamerweise weiß ich genau, woran das liegt. Er ist freundlich und aufgeschlossen und ich fühle mich wohl in seiner Nähe. Ich mag ihn und ich habe das Gefühl, dass er mich einfach nur als Mensch sieht und nicht als minderwertig.
„Wie gesagt, ich mag es", erwidert er auch jetzt charmant und gut gelaunt. „Sie müssen sich nicht entschuldigen, Baronin." Ich verziehe das Gesicht. „So geht das aber nicht. Sie können mir nicht erlauben, Sie Ned zu nennen und weiterhin zu mir Baronin sagen. Ich fühle mich immer wie meine Mutter, wenn mich jemand so anredet. Und sie ist in den letzten Jahren zu einer ganz schrecklichen Person geworden. Also sagen Sie jetzt Kassandra."
Ned blickt mich verdattert an. „Aber ich kann Sie doch nicht so einfach... Sie stehen über mir. Sie sind adlig." Ich lache. „Richtig. Und deshalb war das auch ein Befehl. Im Ernst, ich mache mir nichts aus meinem Titel. Und das war schon so, bevor ich hierherkam. Also bitte, tun Sie mir den Gefallen."
Er seufzt. „Ich gebe mein Bestes. Kassandra." Er steht unschlüssig zwischen den Regalen. „Nun ja, es war schön, sich mit Ihnen zu unterhalten", sagt er schließlich, „aber ich werde jetzt wohl besser meine Konzentration auf die Zuchtberichte lenken." Er hebt zur Verdeutlichung die Hand mit dem Buch, das er geholt hat. „Es hat mich gefreut und es war mir eine Ehre." Er deutet, wie vorhin, eine Verbeugung an und verschwindet dann.
Ich blicke ihm wehmütig hinterher. Dieser Mann hat in einem Gespräch mein Problem gelöst. Ich weiß jetzt, dass ich hierbleiben werde und dass die Angst, dass Theodora mich hier nicht haben will, nur meiner Vergangenheit entsprungen ist. Ich habe das Gefühl, dass Ned mich versteht, dass wir auf Augenhöhe sind und dass er so etwas wie ein Freund werden kann. Ich habe nicht erwartet, dass das in meinem Leben passieren wird. Ich bin davon ausgegangen, dass die wenigen Menschen, denen ich etwas bedeuten kann, zu meiner Familie gehören. Aber das eben war ein Ausblick darauf, dass es auch anders sein könnte.
Ein Räuspern reißt mich aus meinen Gedanken und ich sehe, dass Ned wiedergekommen ist und, wie eben, unschlüssig zwischen den Regalen steht.
„Ich habe nachgedacht", beginnt er und ich muss lächeln. „Sie haben in den paar Minuten nachgedacht?", wiederhole ich neckend, alle Vorsicht in den Wind schlagend. Ich freue mich, dass er zurückgekommen ist.
„Nun ja, manchmal sind die spontanen Ideen die besten", fährt er fort. „Ich dachte mir, jetzt, da wir auf so seltsame Weise dazu gekommen sind, uns beim Vornamen zu nennen, obwohl wir uns kaum kennen und Sie zudem wissen, dass ich Sie beim Lesen beobachte und bei der Dienerschaft Informationen über Sie erfrage, ist es vielleicht angebracht, dass ich Sie frage, ob Sie mit mir auf das Gartenfest gehen wollen."
„Wie bitte?", platzt es vor Überraschung aus mir heraus. Ned hebt abwehren die Hände. „Also Sie müssen selbstverständlich nicht. Und mir ist klar, dass ich schon wieder eine Grenze übertrete. Ich dachte nur, ich biete es Ihnen an. Sie haben gesagt, dass Sie niemandem zur Last fallen wollen und mir würden Sie nicht zur Last fallen. Im Gegenteil. Ich glaube, ich würde den Tag sehr genießen."
Ein breites Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. „Das wäre wunderbar. Ich würde mich freuen." Mein Lächeln steckt ihn an.
„Dann... Darf ich... Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie nach draußen trage?" Ich nicke und er hebt mich umsichtig hoch, als wöge ich nichts. Während er mich nach draußen in die Sonne und den Lärm hineinträgt, meint er: „Wissen Sie, ich glaube Sie sollten mit Ihrem Haus ein Projekt starten. Eine Schule vielleicht oder ein Therapiezentrum. Meine Nichte hat lange Zeit Angstzustände gehabt und ich habe sie mit der Zustimmung des Fürsten viel zu den Pferden mitgenommen. Sie hat auch einen Kunstkurs belegt. Das hat ihr unglaublich geholfen. Womöglich gibt es ja noch mehr Kinder, die mit solchen Problemen kämpfen, die aber nicht die Chance haben, solche Angebote wahrzunehmen."
Ich sinne einen Moment über die Idee nach. „Ich finde, das ist ein fantastischer Ansatz. Vermutlich würde mir der König den Titel aberkennen, wenn ich ein Therapiezentrum im Adelssitz von Mühlen einrichte, aber damit wären ja dann zwei Probleme mit einem Mal erledigt. Ich bräuchte natürlich Unterstützung. Und meinen Sie, Ihre Verwandtschaft würde sich mit mir darüber unterhalten?"
„Sie würden sich glücklich schätzen. Und wenn Sie wollen, hätten Sie auch meine Hilfe."
Ich lächele zu ihm auf und lehne mich dann vorsichtig an seine Schulter. Ich sehe Theodora, die mir mit wissendem Blick zuwinkt, Alfons, der ihr ein Glas Limonade reicht und versucht, ihr unter dem großen Strohhut einen Kuss auf die Wange zu geben und ich bin mir bewusst, dass ich ein fantastisches Leben habe.

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