Die ersten trüben Sonnenstrahlen dringen durch die Fenster und malen Lichtstreifen an die Decke. Ein Lächeln liegt auf meinen Lippen und ich denke an den vergangenen Abend und die Nacht, die ich mit Theodora auf dem Ball verbracht habe.
Ich habe einiges über sie gelernt. Wie sie aufgewachsen ist, wie sie tickt, was ihr peinlich ist und worauf sie insgeheim auch stolz ist. Aber als größeren Erfolg betrachte ich die Tatsache, dass sie auf meinen Charme, auf meinen spielerischen Flirt eingegangen ist und nicht wie sonst ihre eigensinnige, fast stachelige Fassade zur Schau getragen hat.
Ja, Theodora von Mühlen ist und bleibt, trotz aller Besonderheiten, eine Frau. Und als solche genießt sie es, wenn man um sie wirbt und sie herausfordert. Auch, wenn es bei ihr wohl mehr Arbeit bedeutet, als bei anderen Damen.
Ich denke an die Tänze zurück, die wir miteinander getanzt haben. Einmal auf der Tanzfläche, haben wir sie nur für kurze Pausen zwischendurch verlassen. Theodora von Mühlen gehört nicht zu den jungen Frauen, die auswendig gelernte Schritte reproduzieren, sondern neben all der Eleganz, die sie ausstrahlt, konnte ich auch ihr Temperament spüren. Es fällt mir nicht schwer, sie mir vorzustellen, wie sie barfuß über eine Wiese rennt oder mit gerafftem Kleid in einem Bach steht. Sie verkörpert diese Freiheit, die ich selbst in mir trage, die meine Mutter an mich weitergegeben hat und die ich einst auch an meine Kinder weitergeben möchte.
In aller Ruhe stehe ich auf, kleide mich an und nehme dann ein kurzes Frühstück zu mir. Ich versuche nicht daran zu denken, dass in Kürze all die politischen Fragen, wegen derer ich hier bei Hofe bin, meine gute Laune und meine Erinnerungen an gestern überdecken könnten.
Der König hat für heute Vormittag eine Verhandlung zur Calia-Kroesus-Frage anberaumt, vermutlich, weil er wusste, wie ungelegen mir dieses langwierige Hin und Her nach einem wunderschönen Ballabend sein würde. Ich kann es ihm nicht vorwerfen, ich hätte den Zeitpunkt wohl genauso gewählt.
Aus diesem Grund stehe ich eine knappe Stunde später vor der Tür zu seinem Studierzimmer und lasse mich ankündigen. Es dauert nicht lange und die Pagen öffnen mir.
Der König thront entspannt hinter seinem Schreibtisch, während zwei ältere Herren rechts und links neben ihm Platz genommen haben und eifrig ihre Papiere sortieren. Offenbar hat er sich Verstärkung besorgt.
In mir steigt Unwillen auf. Ich will das alles nicht diskutieren. Ich will einfach Frieden schließen in dieser Sache. Irgendwann ist es doch an der Zeit, dass das Königshaus die Umstände hinnimmt, wie sie sind.
„Guten Morgen, Durchlaucht", begrüßt mich der König mit einem Nicken. „Nehmen Sie doch Platz, wir können gleich anfangen."
Tatsächlich beginnt er ohne Umschweife seine Ausführungen.
„Wenn ich Ihnen zunächst die beiden anwesenden Herren vorstellen dürfte: Zu meiner Rechten ein geschätzter Berater, Gernot von Fassbach, studierter Historiker und Politologe. Und zu meiner Linken mein persönlicher Finanzberater und einer der Schatzmeister Calias, Ruben zu Sandel-Kachlingen. Meine Herren, der junge Fürst Alfons von Kroesus."
Ein knappes Nicken in beide Richtungen.
Der König lächelt gewinnend. Zumindest nehme ich an, dass das seine Absicht ist. Für mich erscheint er wie ein Wolf auf der Lauer.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, Durchlaucht, würde ich gerne Herrn von Fassbach zuerst das Wort erteilen."
Ich lehne mich zurück und mache keine Anstalten, zu widersprechen, was offenbar als Zustimmung ausreicht. Gernot von Fassbach schiebt noch einmal eifrig seine Papiere umher, bevor er mit der Gewichtigkeit eines eingebildeten Beamten beginnt:
„Durchlaucht, ich habe die vergangenen Jahre meiner Arbeit der Calia-Kroesus-Frage gewidmet. Die Krone sicherte demnach Kroesus die Unabhängigkeit zu. So streitbar dieser Punkt von unserer Seite auch ist, ich möchte ihn zunächst übergehen, denn wir möchten ein weiteres Argument anführen. Schlussendlich – und das ist nicht in dem Vertrag von damals berücksichtigt – haben sich die Gesetze Calias weiterentwickelt. Unsere Rechtsnormen wurden überarbeitet und das Verhältnis, in dem die Fürstentümer, Baronien und Grafschaften als kleinere Parteien zu Calia und der Krone stehen, hat sich verändert. Kroesus ist und bleibt ein Teil des Königreiches und als solches hat es die Pflicht, sich der großen Gesetzgebung anzugleichen. Ziel der Krone ist es gegenwärtig nicht, Ihnen Ihre Macht zu nehmen oder Kroesus seine Gerichte zu verweigern. Aber Seine Majestät und der Rat dringt darauf, das Maß zu vereinheitlichen, mit dem gemessen wird. Eine Strafe darf in Kroesus nicht geringer ausfallen als in Calia für den gleichen Tatbestand."
Er beginnt, seine Forderung zu untermauern mit Argumenten, die er auf scheinbare Lücken im Calia-Kroesus-Vertrag zurückführt. Schließlich bringt er seine Ausführungen zu einem Schluss und Herr von Sandel-Kachlingen schließt sich an.
„Eine weitere Ungenauigkeit bietet der Stichpunkt der finanziellen Unabhängigkeit. König Petter von Calia versichert Kroesus, dass das Jahreseinkommen des Fürstentums in den Besitz des Fürsten und die Ländereien eingehen soll, die dieser besitzt. Bis dato schloss sich daraus immer, dass Kroesus keine Abgaben an die Krone zu zahlen hat. Allerdings sind auch hier die historischen Einflüsse außer Acht gelassen und so wird nach wie vor vernachlässigt, dass Kroesus mittlerweile ein Einkommen jährlich erzielt, dass mehr als doppelt so hoch ist wie zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses."
Herr von Sandel-Kachlingen führt nun einige Gründe an, nach denen das veränderte Einkommen des Fürstentums einen Einfluss auf dessen finanzielle Unabhängigkeit haben sollte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sind die beiden Berater mit ihrer Beratung am Ende und mir schwirrt der Kopf. Die drei Herren mir gegenüber mustern mich abwartend.
„Um Ihre Forderungen mal drastisch zu verkürzen: Sie wollen, dass Kroesus erstens seine Gesetze denen Calias angleicht, sodass im Königreich wie im Fürstentum nach gleichem Maße Recht gesprochen wird. Und das soll auch in Zukunft gelten, für jede Änderung, die der calische Rat beschließt. Und zweitens fordern Sie, dass jeder finanzielle Gewinn, der über die Größenordnung hinausgeht, die zu Vertragsschluss bestand, an die Krone übergeht."
Der König sinnt einen Moment lang über meine Worte nach, dann bestätigt er: „In aller Kürze haben Sie das richtig verstanden. Und im Gegensatz dazu wird dem Fürstentum Kroesus die ewige, unanfechtbare Unabhängigkeit bescheinigt."
Ich lasse mir dieses Ansinnen durch den Kopf gehen. Ich habe dem König versprochen, dass ich Offenheit mit an den Verhandlungstisch bringen würde. Mein Vater und seine Vorfahren hätten aus Prinzip allem widersprochen, was die Krone unterbreitet, doch mittlerweile habe ich ein ehrliches Interesse daran, dass dieser Streit zu einem Ende kommt. Ich möchte in Zukunft nicht als der Fürst gelten, der generationenalte Argumente verteidigt hat, sondern ich würde gerne derjenige sein, der eine Lösung herbeigeführt hat. Eine dauerhafte, kluge Lösung, die für beide Parteien zufriedenstellend ist.
Doch aus meiner Sicht ist das, was der König da vorstellen lässt für Kroesus nicht zufriedenstellend.
„Nein", sage ich schlicht. „Dem stimme ich nicht zu." Der König bekommt einen bitteren Zug um den Mund und blickt mich grimmig an. „Was habe ich auch erwartet von einem Kroesus-Fürsten. Unbegründete Sturheit und Pochen auf die unrechtmäßige Legitimation."
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Sie unterschätzen mich, Majestät. Ich versuche, offen gegenüber diesen Vorschlägen zu sein, aber ich sehe darin keinen Vorteil für Kroesus. Wie soll ich solch eine Vereinbarung vor den Bürgern meines Fürstentums rechtfertigen? Mit einer bescheinigten Unabhängigkeit, von der bereits alle überzeugt sind, dass wir sie schon besitzen?
Zum einen: Ich bin stolz auf die Rechtsprechung in Kroesus und auf die humanen Bedingungen, unter denen die Bürger leben. Ich empfinde sie als gerecht. Und mein Ziel ist es, dass jeder Mensch in meinem Fürstentum auch weiterhin gerechten Strafen ausgesetzt ist, gerechte Chancen bekommt und gerecht für seine Arbeit entlohnt wird. Unser wirtschaftlicher Erfolg stützt sich auf die Gesetzgebung zu Abgaben und Eigentumsrecht, die Tendenz zu höheren Bildungsabschlüssen fußt auf dem Recht auf Bildung. Ich werde die Gesetze von Kroesus nicht den calischen angleichen, denn ich bin überzeugt, dass dies mehrere Schritte rückwärts bedeuten würde. Die soziale, wirtschaftliche und finanzielle Stärke des Fürstentums spricht dafür.
Des Weiteren: Kroesus lebt davon, einen Großteil des erwirtschafteten Kapitals zu investieren. Das Fürstentum hängt in seinem Wohlstand davon ab, dass wir das Kapital nutzen, das uns zur Verfügung steht. Die Größenordnung, in der meine Vorfahren damals gewirtschaftet haben, reicht für heutige Ansprüche nicht mehr aus. Selbst wenn ich wöllte, ich könnte nicht einfach die Hälfte des Einkommens an die Krone zahlen. Davon abgesehen sehe ich nicht den Nutzen, den Kroesus davon hätte."
Der König starrt vor sich hin, sein Gesicht ohne jede Regung. „Durchlaucht, sind Sie überhaupt daran interessiert, an einer Lösung für die Zukunft zu arbeiten?", fragt er und klingt dabei fast gelangweilt.
In mir keimt Ärger auf. „Ich bin an einer Lösung dieses ewigen Streits interessiert, Majestät. Das mag vor ein paar Tagen noch nicht so gewesen sein, aber mittlerweile sehe ich es nicht mehr als verantwortungsvoll an, diesen Konflikt der nächsten Generation zu übergeben. Aber für eine gute Lösung müssten Sie aufhören, mir Gleichgültigkeit zu unterstellen und an meinen guten Absichten zu zweifeln. Und Sie sollten an einem Entwurf arbeiten, der nicht nur Calia, sondern auch Kroesus nützt."
Der König verschränkt seine Arme. „Durchlaucht, es ist nicht meine Aufgabe, herauszufinden, was dem Fürstentum Kroesus nützen würde. Das ist Ihre Aufgabe. Ich denke, Herr von Fassbach und Herr zu Sandel-Kachlingen haben deutlich gemacht, was die Partei Calia möchte. Nun sollten Sie uns unterbreiten, was die Partei Kroesus möchte. Und selbstverständlich können Sie darüber nachdenken."
Damit ist die Verhandlung vorerst beendet. Ich verlasse nach einer knappen Verabschiedung den Raum und frage mich, in welcher Hinsicht Kroesus von Calia profitieren könnte. Wir sind die reichste Gegend des Königreiches. Wir haben im Schnitt den besten Bildungsgrad. Wir haben eine florierende Wirtschaft und eine gute Rechtsprechung.
Mir geht auf, dass sich meine Familie, meine Vorfahren nie Gedanken über eine Lösung der Calia-Kroesus-Frage gemacht haben, denn es gibt keine Ansätze, was Kroesus fordern könnte, was uns noch besser machen könnte. Ich habe mir immer etwas darauf eingebildet, dass dieses Fürstentum so stark ist. Vielleicht übersehe ich dadurch die Schwachstellen, die es hat. Denn es muss welche haben. Nichts auf dieser Welt ist je perfekt.
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Die Fürstin
Historical FictionEine berühmte Hofdame. Ein einflussreicher, junger Fürst. Ein Konflikt zwischen Liebe und politischem Streit. Theodora von Mühlen zählt als eine der einflussreichsten Personen am calischen Hof und stützt als Hofdame das Prestige der Königsfamilie. F...