Prolog - Kassandra

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„Schauen Sie meine Tochter nur an! Jeder sieht, dass sie etwas Besonderes ist. Die Königin hat es gesehen, als sie neulich debütiert hat und auch der König hat ihr wohlwollend zugenickt. Und dann ist der Brief gekommen. Ohne Zweifel ist unsere Tochter einzigartig."

Die Stimme meiner Mutter schallt zu laut durch den Ballsaal, wie immer, wenn sie etwas getrunken hat. Vom vielen Wein sind ihre Wangen rot gefärbt und das Gesicht leicht aufgedunsen, daran kann auch der Fächer nichts ändern, mit dem sie sich exzessiv Luft zufächelt. Um sie herum drei Damen, die es geschafft haben, ihrer Lobeshymne bis zum jetzigen Zeitpunkt zu entgehen. Und das ist eine Kunst, denn meine Mutter hat gefühlt jedem ihrer Gäste bereits beim Empfang an der Tür die ganze Geschichte aufgetischt.

Wir haben nun eine Hofdame in der Familie. Baroness Theodora von Mühlen wird ihrer Familie alle Ehre machen - einer Familie, die gefühlt auf maximal drei Generationen zurückreicht und ihren Ursprung in der unrühmlichen Praxis des Rumschmuggels hat. Dieser Familienstamm entstand durch irgendeinen schlauen Sohn eines Urahnen, der den geistreichen Gedanken hatte, dem königlichen Haushalt aus einer finanziellen Krise zu helfen und das war der Beginn einer Familie, die nunmehr kaum noch Vermögen besitzt, dafür aber zu einem Adelstitel gekommen ist.

Kein Wunder, dass Theodora gefeiert wird wie eine Heldin. Der Aussage meiner Mutter nach ist dies genau der Schritt, der uns im Ansehen der Königsfamilie steigen lassen wird, mit dem eine neue Dynastie anbricht, die uns glorreich voranbringen wird. Was genau sie sich darunter vorstellt, habe ich noch nicht genau herausgefunden. Ich bezweifle, dass sie selber weiß, wovon sie redet.

Ich beobachte meine große Schwester, wie sie über die Tanzfläche wirbelt. Wenn ich sie so sehe, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie sich bei Hofe einen Namen machen wird. Ihre glänzenden schwarzen Haare und die dunklen Augen machen sie zu einer Schönheit und im Gegensatz zu mir ist sie ambitioniert und diszipliniert. Sie wird alles schaffen, was sie sich in den Kopf setzt. Nur weiß immer niemand so genau, was genau Sie sich in den Kopf setzt...

Ich versuche, sie mir in teuren Kleidern vorzustellen, an einer Tafel mit dem König. Sie wird ihre Rolle gut ausfüllen, aber ich frage mich, ob sie glücklich werden kann. Im Gegensatz zu meinen Eltern kenne ich die ungezähmte Seite an ihr. Ich kenne die Momente, in denen sie barfuß über die Wiesen im Park rennt, in denen der Saum ihres Kleides ganz nass wird, weil sie durch den kleinen Bach watet, der hinter unserem Haus verläuft. Dora ist ein Wildfang, den ich abgöttisch liebe. Und ich habe Angst, dass man ihr bei Hofe die Flügel stutzen wird.

„Was Ihre Tochter erreicht hat, ist wirklich außergewöhnlich, Baronin", höre ich die Frau in Blau sagen, die bei meiner Mutter steht. „Ich gönne Ihnen dieses Glück von Herzen, es wird hoffentlich den Kummer ein wenig aufwiegen, den Sie mit Ihrer zweiten Tochter haben."

Ich schlucke. Natürlich bin ich damit gemeint. Und natürlich höre ich so etwas nicht zum ersten Mal. Ich bin das Sorgenkind. Das Mädchen, das nicht laufen kann. Das zu ungeschickt für Handarbeiten ist, zu unbegabt zum Singen und zu tollpatschig für Malerei. Das nie einen Mann finden wird, das stets im Haus der Eltern wohnen wird, bis diese irgendwann einmal sterben.

Wen interessiert es, dass ich sieben Sprachen spreche, botanisch so bewandert bin, dass ich einen Garten planen könnte oder dass ich die Weltkarte auswendig kenne. Das alles sind Qualitäten, die ich wohlweislich geheim halte, weil sie niemanden stolz machen würden, sondern nur noch mehr Sorgen hervorrufen könnten. Nur Theodora weiß, womit ich mich beschäftige, nur sie ist stolz auf mich. Sie ist der Rettungsanker meiner Kindheit gewesen, obwohl sie nicht viel älter ist als ich. Mit ihr stöberte ich bis spät in die Nacht in Karten und Büchern, sie dachte sich Geschichten für mich aus und tröstete mich, wenn ich weinte. Sie war so lieb, zu versichern, dass ich genauso schön wäre, wie alle es von ihr sagten, dass ihr egal wäre, dass meine Beine gelähmt sind und dass ich unendlich viel schlauer wäre als alle laufenden Menschen, die sie kennt. Für meine Eltern war ich ein Unfall, ein Kind, das nicht geplant gewesen ist. Für Theodora bin ich die Schwester, die sie sich als Kind wünschte und sie ließ es mich jeden Tag spüren. Bei diesen Gedanken treten mir Tränen in die Augen. Was soll ich nur ohne sie tun? Ohne den einzigen Menschen, dem ich wichtig bin?

Die Musiker spielen ihre letzten Takte und Dora verabschiedet sich höflich von ihrem Tanzpartner, bevor sie zu mir hinüberkommt. Ich versuche, ihr ein fröhliches Lächeln zu schenken, aber es will mir nicht so ganz gelingen. Und ich ärgere mich darüber, dass ich meine Schwester nicht einmal auf ihrem eigenen Ball unbeschwert sein lassen kann.

„Du siehst nicht gut aus, Sandra", bemerkt sie und Furchen ziehen sich über ihre Stirn. „Warum bist du so eng geschnürt? Und was ist das für ein scheußlich unbequemer Stuhl, auf dem du da sitzt?" Ich verziehe das Gesicht. Tatsächlich waren die letzten Stunden eine Qual in dieser Position. Doch um sie zu verändern, bin ich auf andere angewiesen.

„Mutter ist der Meinung, der Stuhl und das enge Korsett würden meine Haltung verbessern. Und hier in der Ecke bin ich außerdem niemandem im Weg." Ich kann nicht verhindern, dass diese Worte flapsig klingen. Dabei ist meine Schwester die Letzte, der ich ein schlechtes Gewissen bereiten möchte.

Theodora verzieht das Gesicht. „Das ist Unsinn. Du bist mein Ehrengast. Ich sorge sofort dafür, dass du es bequemer hast."

Bevor ich sie davon abhalten kann, hat sie zwei Bedienstete aufgefordert, mir auf ein nahegelegenes Sofa zu helfen. Sie selbst schiebt mir ein Kissen in den Rücken und lässt sich neben mir nieder. Obwohl es mir peinlich ist, dass so viel Aufhebens gemacht wird, bin ich ihr unendlich dankbar. Es geht mir augenblicklich besser.

„Wenn ich aus einem Grund am liebsten nicht nach Cala fahren würde, dann ist es der, dass du alleine hierbleibst. Es regt mich auf, dass Mutter und Vater sich nicht besser um dich kümmern." Unwillkürlich blicke ich mich um, ob uns jemand zuhört, denn Dora hat ziemlich laut gesprochen. Sie nimmt selten ein Blatt vor den Mund, wenn sie etwas aufregt.

Ich zucke mit den Schultern. „Vater meint, es liegt am Geld, dass er mir nicht die nötige Behandlung zukommen lassen kann." Theodora schnaubt. „Es liegt doch immer am Geld. Aber es ist kein finanzieller Aufwand, dein Korsett etwas lockerer zu schnüren oder dir eine bequeme Sitzgelegenheit zuzuweisen. Das ist nur dem dummen Glauben unserer Mutter zu verdanken, die meint, sie müsse sich für dich entschuldigen."

Meine Schwester seufzt frustriert. „Aber vielleicht hat Vater ja Recht. Womöglich liegt es wirklich am Geld. Und möglicherweise ist es ganz gut, dass ich an den Hof gehe und ihr dafür eine finanzielle Entschädigung erhaltet. Ich habe mit Vater geredet und ihn darum gebeten, eigenes Personal für dich einzustellen. Dass du Hilfe und Gesellschaft hast. Das könnt ihr euch dann zweifellos leisten."

Ich beiße mir auf die Lippe. „Ich will kein Geld und kein Personal. Ich will, dass du bleibst. Außerdem, wie lange wird der Geldsegen anhalten? Bis du verheiratet bist? Mit achtzehn Jahren hast du jetzt schon das Alter dafür und ich habe das Gefühl, dass sie für manche Hofdamen schon nach einigen Monaten die Werber entgegennehmen." „Ja", bestätigt Theodora, „das habe ich auch schon gehört. Aber bei den richtig guten Hofdamen, die das Prestige der Königsfamilie zu stärken wissen, kann es auch viele Jahre dauern. Und wenn ich weiß, dass es dir hilft, werde ich alles dafür tun, um möglichst lange unverheiratet zu bleiben." Ich muss lachen. „Lass das nicht unsere Mutter hören. Sie würde dich am liebsten schon morgen mit einem wohlhabenden Grafen verlobt sehen, der unsere Blutlinie aufbessert."

Unvermittelt schließt meine große Schwester mich in die Arme. „Was Mutter will, ist mir egal", flüstert sie mir ins Ohr. „Was ich tue, werde ich für dich tun. Und vielleicht finde ich ja auch irgendwann einen Mann, der versteht, wie wichtig du mir bist."

Ich schaue ein wenig skeptisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Adlige – oder überhaupt irgendwelche Menschen – gibt, die so über meine Behinderung hinweg sehen können, wie Theodora es kann. Und doch bewirken ihre Worte wie immer genau das, was sie damit beabsichtigt: Dass ich wieder Hoffnung schöpfe.

Die FürstinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt