Fröhlich pfeifend schlüpfe ich in meinen Lieblingsmantel, ein abgewetztes Stück, das schon meinem Vater gehört hat. Vermutlich sollte ich jetzt gerade nicht guter Laune sein, sondern eine äußerst besorgte Miene zur Schau tragen und mir Sorgen darüber machen, wie die Zukunft meines Fürstentums aussieht.
Aber tatsächlich bin ich gelassen. Dies ist ein Streit, den schon meine Eltern mit dem Königshaus geführt haben. Und davor meine Großeltern. Diese Uneinigkeit mit den Herrschenden Calias gehört zu meiner Familiengeschichte ebenso dazu, wie der jahrhundertelange Stammbaum oder das Anwesen, das ich vor zwei Jahren, nach dem Tod meines Vaters, als junger Fürst geerbt habe. Dieser Konflikt, dem ich nicht ausweichen kann, verbindet mich mit meinen Eltern und Ahnen. Es macht mich stolz, für etwas zu kämpfen, das mir und allen Bürgern des Fürstentums Kroesus so wichtig ist: Die Unabhängigkeit.
Ich bin noch ein Kind gewesen, als mein Vater begann, mir die Geschichte unserer Familie nahezubringen. Ich hörte die Erzählung über meinen Urururgroßvater wohl hunderte Male und jedes Mal empfand ich sie als so spannend wie das Mal davor, obwohl ich mir einbilde, dass sie immer mit den gleichen Worten erzählt worden ist.
Nathanael von Kroesus, mein Vorfahre, soll ein furchtbar ehrgeiziger Mann gewesen sein. Er war gerecht und um die Menschen in seinem Fürstentum ebenso besorgt, wie um seine eigene Familie. Seine Untergebenen und Freunde liebten ihn, die Menschen, die mit ihm im Zwist standen, fürchteten ihn. Außerdem soll er eine sehr schöne Schwester namens Gelinda gehabt haben, für die er die Vormundschaft trug. Überlieferungen zufolge verliebte sich der damalige König, Petter von Calia, in Gelinda von Kroesus und hielt mehrfach um ihre Hand an, nachdem seine erste Frau in jungen Jahren an der Geburt des Thronfolgers gestorben war. Nathanael verweigerte eine Vermählung, setzte Gelinda bei regelmäßigen Besuchen dem König jedoch immer wieder vor die Nase in – so heißt es – wenig züchtigen Kleidern.
Nach einem Jahr war Petter so vollständig der Kopf verdreht, dass er womöglich allem zugestimmt hätte, was Nathanael als Gegenleistung für die Hand von Gelinda forderte. Und mein Urahn forderte die Unabhängigkeit seines Fürstentums. Fortan war Kroesus zwar noch ein Teil des Königreiches Calia und folgte auch dem calischen Recht, doch Nathanael setzte eigene Richter ein, die mit größerer Transparenz und Milde richteten, er entzog sich der Pflicht, Abgaben an das Königshaus zu entrichten und revolutionierte die Bildung in seinem unabhängigen Fürstentum. Unter der Fürstenfamilie – auch in den nachfolgenden Generationen – blühte Kroesus auf und ist bis heute der wohl fortschrittlichste und reichste Teil des Landes.
Zugegeben, die Königsfamilie hatte damals ziemlich Pech gehabt. Nathanaels Schwester konnte König Petter nicht ausstehen und floh noch in der Hochzeitsnacht aus dem Palast. Niemand wusste wirklich wohin, bis einige Generationen später ein Nachfahre Gelindas den Anspruch auf sein Erbe geltend machte. Der Fürst zu dieser Zeit lehnte den Antrag ab, denn Nathanael hatte Gelinda nach ihrer Flucht jeglichen Zugriff auf ihr Erbe entzogen. Scheinbar hatte sie sich ins Ausland abgesetzt und dort einen Tuchhändler geehelicht.
Seit der Hochzeitsnacht von damals besteht also der Konflikt, denn Petter forderte die Herrschaft über Kroesus zurück. Doch Nathanael wachte über den unterschriebenen Vertrag mit Adleraugen und da Petter damals nicht das Rückgrat besaß, die genauen Umstände der Flucht aufzuklären und wie weit die Ehe eigentlich vollzogen worden war, tappten alle Generationen, bis heute, im Dunkeln. Alle Fürsten und Könige nach Nathanael und Petter führten diesen Streit weiter, nur dass niemand sicher sagen kann, wer im Recht ist.
Die Familie von Kroesus beruft sich seither auf den unterschriebenen Vertrag, der auch von mir sicher bewahrt und gehütet wird. Das Königshaus verweist auf den Vertragstext, der besagt, dass die Unabhängigkeit im Falle einer gültigen Ehe besteht. Und ein Ehevollzug in der Hochzeitsnacht sei, so das Königshaus, nicht möglich, wenn Nathanaels Schwester bereits in derselben Nacht geflohen sei. Einen Beweis dafür gibt es jedoch nicht.
Ich taste nach dem gefalteten Brief in meiner Tasche. Es ist eine Einladung an den königlichen Hof. Die dritte, die ich seit dem Erbe des Titels und des Fürstentums erhalten habe. Und auch diese ist schon wieder ein halbes Jahr alt.
So sehr dieser Zwist auch zu Feindseligkeit zwischen der Familie von Kroesus und der Familie von Calia geführt hat, das Königshaus ist auf unser Land angewiesen. Ich besitze ein Viertel der Ressourcen Calias. Ich bin mächtig. Würde ich mich in die Belange des Reiches einmischen wollen, dann hätte mein Wort Gewicht. Nach dem König besitze ich am meisten Einfluss. Das bedeutet, dass ich es mir leisten kann, die Einladung auszuschlagen. Ich kann es mir leisten, am königlichen Hof aufzutauchen, wann es mir beliebt. Ich kann es mir leisten, unhöflich und unverschämt zu sein. Weil König Ursus derjenige ist, der weniger in der Hand hat und der im Grunde nichts gegen einen unterschriebenen Vertrag seines Ahnen ausrichten kann. Weil es der König ist, der mit mir verhandeln will. Nicht andersherum. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.
Als Kind musste ich darüber lachen, wie dumm König Petter doch gewesen sein muss. Und ich hatte mich gewundert, dass mein Vater nicht mit mir lachen konnte. Er hatte mich nur ernst angeschaut und gemeint: „Aus Liebe tun wir alle sehr dumme Dinge. Ich hatte nur das Glück, dass damals, als ich um deine Mutter geworben habe, niemand meine Dummheit ausnutzen wollte. Vergiss nie: Politik und Liebe passen nicht zusammen."
Ich verlasse das Haus und begebe mich in die Kutsche. Eigentlich wollte ich zu Pferd bei Hofe aufkreuzen – einfach, weil ich weiß, dass es die feinen Herrschaften stören würde. Doch am Himmel brauen sich dunkelgraue Wolken zusammen und ich will nicht riskieren, in einen Regenguss zu geraten.
Während die Kutsche anfährt, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Santos hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Auch wenn er mich in dem Eifer, mich dem Königshaus zu widersetzen, nicht wirklich verstehen kann, verweigert er mir doch nicht seine Unterstützung. Im Gegenteil: Er teilt mit mir das Wissen und das Neue aus Cala, der Palaststadt und dem Palast selber, welches er bei zahlreichen Bekannten aufschnappt. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn als meinen besten Freund betrachte. Dank ihm ist es mir möglich, genau dann aufzutauchen, wenn ich unerwünscht bin.
„Du musst die Einladung des Königs irgendwann annehmen", hatte er mir nach dem zweiten Brief zu verstehen gegeben. Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Aber es bleibt mir überlassen, wann", hatte ich eingeworfen. „Ich habe vor, mir einen Zeitpunkt zu wählen, an dem die Gedanken des Königs sich um viele Dinge drehen. Ich werde diesen Moment abwarten und wenn er da ist, unangekündigt auftauchen."
Santos hatte es hingenommen. Und ich habe über ein halbes Jahr gewartet. Bis heute.
Durch Santos weiß ich, dass der gesamte Hofstaat brummt, wie ein Bienenstock. Heute Abend findet die große Verlobungsfeier für Katharina Mollock, eine der Hofdamen statt. Zu solchen Anlässen geht es im Palast hoch her. Es sind Zeremonien, die das Prestige des Königshauses nach außen tragen. Alles muss perfekt laufen. Der König muss wortgewaltige Reden halten. An die Verlobung werden sich die Vorbereitungen für das Hochzeitsbankett anschließen, das wohl schon nächste Woche stattfinden soll. Warum das bald verlobte Paar seine Vermählung so überstürzt, weiß ich nicht genau, aber mir spielt die daraus resultierende Hektik gehörig in die Karten. Dem König wird es gar nicht passen, dass ich mich ausgerechnet jetzt dazu herablasse, mit ihm über die Unabhängigkeit meines Fürstentums zu sprechen.
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Die Fürstin
Historical FictionEine berühmte Hofdame. Ein einflussreicher, junger Fürst. Ein Konflikt zwischen Liebe und politischem Streit. Theodora von Mühlen zählt als eine der einflussreichsten Personen am calischen Hof und stützt als Hofdame das Prestige der Königsfamilie. F...