Kapitel 30 - Alfons

477 58 3
                                    

Das Torhaus ist ein kleines, gedrungenes Steinhaus, das an die Überreste einer kleinen Mauer angrenzt. Offenbar handelt es sich hier um eine ehemalige Grundstücksgrenze. Ein Trampelpfad führt darauf zu, auf dem Theodora so entschlossen voranschreitet, als würde sie die Zweige und das Gestrüpp am Wegesrand gar nicht bemerken, welches sich immer wieder in ihrem weiten Rock verfängt. Und als hätten ihre Eltern nicht soeben ihre komplette Vergangenheit und die Familienbande zerstört.
Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie, denn solch eine Verletzung wird Spuren hinterlassen. Sie wird ihr gesamtes Leben hinterfragen und womöglich anfangen, an sich zu zweifeln. Noch schiebt sie die Gedanken so weit weg wie möglich, getrieben von der Sorge um ihre Schwester. Aber früher oder später wird der Zeitpunkt kommen, da sie sich mit all dem auseinandersetzen muss.
Mir fällt auf, wie nahe wir uns sind. Sie hat sich in den vergangenen Stunden von mir führen und beruhigen lassen, hat zugelassen, dass ich die Kontrolle übernehme und Entscheidungen treffe, weil sie es nicht konnte. Sie zögert auch jetzt keine Sekunde, mich mit zu ihrer Schwester zu nehmen. Und obwohl sie momentan vermutlich viele Verunsicherungen spürt, hat sie keine Angst, dass ich über die urteilen könnte nach dem, was sich mir geboten hat. Wir kennen uns. Ich kenne sie besser als jeden Menschen sonst.
Theodora bleibt vor der schlichten Holztür stehen, atmet tief durch und klopft dann. Eine Weile ist es still, dann ertönt von drinnen ein heiseres „Komm rein, Fine."
Theodora drückt die Klinke herunter, öffnet die Tür und tritt in den Raum, der sich dahinter öffnet. Er ist nicht groß. Die Wände sind notdürftig verputzt, die Möbel eher wahllos arrangiert und bereits deutlich abgenutzt. Auf einem fadenscheinigen olivgrünen Sofa, das vor einem schwach glimmenden Kamin steht, kauert – eingehüllt in eine Wolldecke – eine junge, dünne Frau, die Augen geschlossen und sichtbar zitternd. Sie sieht absolut elend aus und doch sieht sie Theodora so ähnlich, dass sich in mir sofort ein Beschützerinstinkt regt.
„Ich bin nicht Fine", sagt Theodora leise. „Aber ich hoffe, ich darf trotzdem reinkommen."
Kassandra von Mühlen hebt flatternd die Lider, blickt ihre Schwester aus glasigen Augen an und fängt dann an zu schluchzen. In schnellen Schritten ist Theodora bei ihr und die beiden fallen sich in die Arme, klammern sich aneinander und weinen. Es ist ein furchtbarer und doch wunderschöner Moment.
„Du glühst ja. Seit wann hast du Fieber? War schon ein Arzt da, um nach dir zu sehen?" Theodoras Gesicht ist deutlich besorgt. Ihre Schwester seufzt. „Ich kann einen Arzt weder herbestellen, noch ihn bezahlen. Das Fieber habe ich seit zwei Tagen. Fine tut, was sie kann. Vielleicht erinnerst du dich an sie. Sie hat schon damals für uns gearbeitet." Theodora nickt. „Ja, wir haben sie getroffen. Sie hat uns gesagt, wo du bist."
„Uns?", hakt Kassandra heiser nach. Dann wandert ihr Blick zu mir, scheinbar hat sie mich vorher nicht gesehen. „Und wer ist dieser gutaussehende Herr?" Trotz Krankheit und Erschöpfung sehe ich, wie ihre Augen vor Neugier aufleuchten und ihrem Gesicht wieder Leben einhauchen. Es ist das erste Mal, dass ich den Menschen aufblitzen sehe, der sie sein könnte, wenn sie nicht einsam und auf sich allein gestellt wäre.
Theodoras Wangen überziehen sich mit einer leichten Röte. „Ich bin Alfons von Kroesus", stelle ich mich vor und trete ein paar Schritte näher. „Ich bin ein Freund von Theodora und habe ihr meine Begleitung angeboten."
„Koesus?" Kassandra reißt die Augen auf. „Die reichste Region Calias mit dem fortschrittlichsten Rechtssystem, kostenloser Bildung bis zum 16. Lebensjahr und der talentiertesten Handwerksgilde im Reich? Da müssen Sie aber ein sehr guter Freund von Theodora sein, dass Sie hier in meiner Hütte stehen, statt Ihr Fürstentum zu regieren."
Theodora räuspert sich warnend, während ich vollkommen perplex bin, dass diese junge Frau die größten Stärken meines Fürstentums sofort parat hat.
„Ich glaube, du gehörst ins Bett, Kassandra", sagt ihre große Schwester bestimmt. Die Angesprochene seufzt. „Das Zimmer ist eiskalt und die Laken durchgeschwitzt. Fine hat es das letzte Mal nicht geschafft, sie zu wechseln." „Gut, dann werde ich sie wechseln und Feuer machen. Seine Durchlaucht kann solange..." „...hierbleiben und sich mit mir unterhalten. Sehr gute Idee, Dora. Du weißt, wie spannend ich fremde Menschen finde."
Theodora setzt an, etwas zu erwidern, überlegt es sich dann aber anders. Sie lächelt nachsichtig auf ihre kleine Schwester herab. „In Ordnung. Aber blamiere mich nicht." Sie blickt mich an. „Ich hoffe, das ist Ihnen recht?" Ich nicke. „Selbstverständlich. Nachdem ich den... schwierigen Teil Ihrer Familie kennengelernt habe, freue ich mich nun auf den vernünftigen."
Kassandra lächelt. „Ich glaube, ich mag Sie." Theodora verlässt das Zimmer und ich ziehe mir einen Hocker in gebührenden Abstand an das Sofa und lasse mich darauf nieder.
„Ich muss zugeben, ich bin geschmeichelt, dass Sie so viel über mein Fürstentum wissen." Kassandra zuckt mit den Schultern. „Ich lese viel. Wirklich anderes habe ich hier auch nicht, um mir die Zeit zu vertreiben. Aber sagen Sie – wenn Sie so gut befreundet sind, dass Sie mit meiner Schwester reisen, warum nennt Theodora Sie immer noch Durchlaucht? Bestehen Sie darauf? Oder ist ihr die höfische Etikette in Fleisch und Blut übergegangen?"
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Sie nennt mich bei meinem Vornamen. Ich glaube, sie wollte nur verschleiern, wie nah wir einander stehen. Oder Ihnen deutlich machen, wie Sie mich korrekt anzureden haben." In Kassandras Augen blitzt es amüsiert. Ich glaube, allein unsere Gegenwart beschleunigt bereits ihre Genesung.
„Ich nenne Sie Kroesus. Ich habe seit Jahren keine Titel mehr benutzt und werde jetzt nicht damit anfangen. Und mir scheint es so, als wären Sie der Typ Adliger, den das auch nicht sonderlich stört. Wie haben Sie meine Schwester denn kennengelernt?"
„Auf dem Weg in den Palast", gebe ich bereitwillig Auskunft. Ich bin nie sonderlich zurückhaltend mit meinen Worten, aber darüber hinaus ist es einfach unglaublich leicht, sich mit Kassandra von Mühlen zu unterhalten. Ich kann verstehen, warum die beiden Schwestern sich so nahestehen. Sie sind sich im Grunde sehr ähnlich, nur dass Theodora gelernt hat, ihre Gefühlswelt hinter höfischer Etikette zu verbergen.
„Es hat geregnet und Theodoras Kutsche hatte eine Panne. Die Kutsche drohte mitsamt den Pferden einen Hang hinunter zu stürzen und der Kutscher war verletzt. Ich war bereit, das Problem zu lösen, aber Ihre Schwester hat mich stattdessen herumkommandiert und genau aufgetragen, was ich tun soll."
„Ich habe Sie nicht herumkommandiert", vernehme ich Theodoras Stimme. Sie lehnt im Türrahmen und betrachtet uns. „Ich habe Ihnen nur gesagt, wobei genau ich Ihre Hilfe brauche."
Kassandras Blick wandert zwischen uns hin und her.
„Dein Bett ist jetzt bezogen. Und das Zimmer sollte auch gleich warm sein."
„Wenn Sie erlauben, Baroness, kann ich Sie hinübertragen", biete ich an. Kassandra lächelt. „Sehr freundlich, Kroesus. Und mit Sicherheit angenehmer, als von Fine herumgeschleift zu werden."
Ich beuge mich zu ihr hinunter und hebe sie vorsichtig hoch. Es erstaunt mich, wie selbstverständlich sie Hilfe von einem völlig Fremden annimmt. Nach meinem Empfinden ist sie viel zu leicht.
Ich trage sie in eine kleine, angrenzende Kammer und setze sie vorsichtig auf dem Bett ab. „Ich lasse Sie jetzt mal allein", sage ich. „Erholen Sie sich gut."
Ich verlasse das Zimmer und Theodora schließt die Tür hinter mir.

***

Als Theodora eine halbe Stunde später den Wohnraum wieder betritt, habe ich Feuer gemacht und mich im Rest des Torhauses umgesehen. Es ist gar nicht so klein, aber allgemein in keinem guten Zustand. Die Wände sind teilweise feucht, die Möbel eher notdürftig und überall ist es zugig. Neben einer Küche und einem winzigen Badezimmer gibt es noch eine zweite Kammer mit einem schmalen Bett. Auch in diesem Zimmer habe ich den Kamin angeheizt. Mit Hilfe des Kutschers habe ich außerdem unsere Sachen herbringen lassen und in einer leeren Vorratsnische verstaut. Für mich besteht kein Zweifel, dass wir mindestens so lange hierbleiben werden, bis Kassandra von Mühlen wieder gesund ist.
Theodora sieht erschöpft aus. Ich weiß, dass die Erschöpfung nicht körperlicher Natur ist, sondern dass sie einfach viel zu viel verarbeiten muss. Ich sehe ihr an, wie es sie verletzt, ihre Schwester so krank zu sehen.
Sie lässt sich neben mir auf dem Sofa nieder. „Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie waren großartig heute. Und ich weiß, es ist viel verlangt, aber ich würde gerne hierbleiben. Kassandra braucht mich jetzt."
Ich nicke. „Ich habe im anderen Zimmer schon Feuer für Sie gemacht. Und Ihre Koffer sind in der Vorratsnische. Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen einen Koffer ins Zimmer tragen soll."
Theodora schaut mich erstaunt an. „Woher wussten Sie...?" „Ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, dass Sie Ihre Schwester jetzt nicht allein lassen können. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, hätte es mir mein Gewissen gesagt. Ihre Schwester ist ein ganz besonderer Mensch und sie braucht jetzt die Sorge, die ihr zusteht. Ich bin mir bewusst, dass Sie heute sehr von Ihrer Familie verletzt und enttäuscht wurden. Aber seien Sie dankbar für die Beziehung, die Sie zu Baroness Kassandra haben. Sie ist Ihre Familie."
Theodoras Augen werden feucht und aus einem Impuls heraus nehme ich sie in den Arm. Sie weint an meiner Schulter, aber es sind nicht nur Tränen der Traurigkeit, sondern auch Tränen der Erleichterung. Ich spüre ihre Wärme an meinem Körper, ihre Arme um meinen Hals und rieche den Duft ihrer Haare. Und mich überkommt das Gefühl, dass ich noch nie in meinem Leben an einem Ort so richtig gewesen bin wie in diesem Moment in diesem kleinen, schäbigen Haus mit dieser wundervollen Frau.

Ihr Lieben,
vielen Dank für eure Kommentare und Likes in der letzten Zeit! Ich finde es wirklich schön, auf diese Weise von euch in meinem Schreibprozess begleitet zu werden.
Leider stecke ich gerade wieder mitten in der Prüfungszeit und werde deshalb bis Ende März keine weiteren Kapitel hochladen. Habt bis dahin eine gute Zeit und bleibt gesund!

Eure MissOpenBook

Die FürstinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt