Ich schaue ihr hinterher, wie sie den Gang hinuntereilt. Zu spät fällt mir auf, dass ich einen weiteren Versuch hätte starten können, ihr zu entlocken, wie sie heißt.
Ich schüttele den Kopf, um mich zu fokussieren und stoße die Tür zu meinen Gemächern auf. Der Raum ist groß und mit dunklen, schweren Holzmöbeln eingerichtet. Die Tapete ist aus braunem Leder und ergänzt sich wunderbar mit den dunkelgrünen Vorhängen. Ich fühle mich wohl hier, in diesem robusten Raum und einen Moment lang bilde ich mir ein, dass diese Frau sich extra überlegt haben könnte, welche Gemächer zu mir passen. Doch ich verwerfe den Gedanken schnell wieder.
Es passt so gar nicht zu mir, irgendetwas in Blicke, Worte und Gesten hinein zu interpretieren. Eigentlich ist die Welt für mich klar. Ich verlasse mich auf das, was ausgesprochen wird und alles andere sind unwichtige Spekulationen. Doch diese Dame wirbelt durch meinen Kopf und versagt mir jeden klaren Gedanken. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich Rücksicht auf den König nehmen würde oder auf irgendetwas anderes, was hier bei Hofe vonstattengeht. Ich bin doch extra heute angereist, um König Ursus so viele Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten. Und doch reicht ein Blick aus dunklen Augen, der mich trifft wie ein Blitzschlag und ich knicke ein vor einer Frau, deren Name ich nicht kenne.
Ich streife mir die schlammigen Schuhe von den Füßen und den Mantel von den Schultern und werfe mich aufs Bett. Sofort versinke ich in weichen Daunendecken.
Mein Vater hat so Recht gehabt, als er mir damals sagte, Politik und Liebe gingen nicht zusammen. Mein Fokus sollte auf den Verhandlungen liegen, die ich in guter Tradition fortführen muss. Aber sobald ich die Augen schließe, schwebt ihr Gesicht vor meinem inneren Auge.
Frustriert boxe ich in die Kissen. „Von wegen, du bist mächtig!", sage ich zu mir selbst. „Von wegen du bist intelligent und beherrscht und nicht von deinem Kurs abzubringen!" Ich vergrabe mein Gesicht in den Kissen. Im Moment bin ich nur eines: Auf den ersten Blick verliebt.
***
Ein hartnäckiges Klopfen vertreibt den letzten Traumfetzen und ich schlage frustriert die Augen auf. Von dem verschwommenen, glückseligen Gefühl meines Halbschlafes ist nichts mehr da, stattdessen bemerke ich, als ich mich aufsetze, dass sich mein Zimmer um einiges verdunkelt hat.
Ein erneutes Klopfen bringt mich zum Aufstehen und ich öffne brummend die Tür. Santos strahlt mir entgegen.
„Sei gegrüßt, mein Freund, ich hoffe, ich darf eintreten", sagt er und schiebt sich sogleich an mir vorbei. Ich stöhne. „Du hast mich geweckt, Santos", bemerke ich mies gelaunt, doch meinen Freund lässt das kalt.
„Das sehe ich. Und es überrascht mich, ehrlich gesagt. Der Ball beginnt in weniger als einer Stunde. Solltest du um diese Zeit nicht beim König sein und ihm ein bisschen Stress bereiten?" Er sieht sich in meinem Zimmer um und ich bemerke meine Kleidertruhe, die wohl vom Schlosspersonal heraufgebracht worden sein muss, während ich geschlafen habe.
„Das war der Plan", sage ich, während ich so langsam munterer werde und die schlechte Laune immer mehr verfliegt. In Santos' Gegenwart kann ich auch gar nicht lange schlecht gelaunt sein. „Aber Pläne ändern sich. Durch ungeplante Rettungsaktionen, dunkle Augen und einen ausgiebigen Mittagsschlaf."
Mein Freund sieht mich verständnislos an. „Ich glaube, du steckst immer noch in deinem Mittagsschlaf fest. Was ist los mit dir? Seit wann bist du so unentschlossen?" Ich schüttele den Kopf. „Ich bin nicht unentschlossen. Nur anders entschlossen. Was machst du eigentlich hier? Ich weiß, dass dein Bekanntenkreis im Palast ein und aus geht, aber dass du selbst Zutritt hast, ist mir wohl entgangen."
Mein Freund zuckt mit den Schultern. „Beziehungen. Ich konnte mich als Begleitung für eine Cousine dritten Grades einschleusen. Wie du weißt, gibt es durchaus Damen, die meine Gesellschaft genießen. Ich musste ihr nur versprechen, die erste Tanzrunde mit ihr zu bestreiten, da sie andernfalls einem Freund der Familie verpflichtet wäre, der sich bei ihr ernsthafte Chancen einräumt."
Wieder einmal schüttele ich den Kopf über Santos. Er hat jahrelang bei der Marine gearbeitet, ehe er bei meinem Vater als Verwalter angefangen hatte. In seinen zwei Jahren Dienst brachte er das Fürstentum ganz schön auf Vordermann, denn ihm fehlt es weder an geschäftlichem Verständnis, noch an Menschlichkeit. Irgendwann reichte er dann seine Kündigung ein und niemand nahm es ihm übel. Santos braucht die Abwechslung und das Abenteuer, wie andere Menschen Liebe oder Anerkennung. Momentan arbeitet er für die bestverlegte Adelszeitung, aber in drei Monaten kann es schon wieder anders aussehen. Trotz seiner Sprunghaftigkeit sind wir seit seinem Fortgang gute Freunde geblieben. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, kennt mich manchmal besser, als ich mich selber und lässt mich mein Ding durchziehen, wie ich es für richtig halte.
Santos ist kein Mann von Adel, doch seine Verwandtschaft ist riesig und erstreckt sich gefühlt über alle Gesellschaftskreise. Er hat einen unglaublichen Wissensschatz und streut mehr Gerüchte und Tratsch als jedes Marktweib. Und im Gegensatz zu mir ist er wirklich nie griesgrämig.
Mit einer fließenden Bewegung zieht er nun seine Uhr aus der Tasche und wirft einen Blick darauf. „So leid es mir tut, mein Freund, eine Dame lässt man nicht warten. Und einen königlichen Ball erst recht nicht. Nirgendwo kann man so viele und interessante Menschen kennenlernen, wie auf dem Parkett. Und außerdem können einem die Damen nicht davonlaufen, wenn du sie erst einmal auf die Tanzfläche bekommen hast.
Meine Familie hat einige Gästeräume in einem weniger hübsch eingerichteten Seitenflügel. Ich werde mich schnell ein wenig auffrischen und dann noch einmal bei dir vorbeischauen." Und ohne eine Reaktion abzuwarten, ist er verschwunden.
Ohne, dass ich bewusst darüber nachgedacht hätte, kommt nun auch Bewegung in mich. Ich krame in meiner Kleidertruhe und ziehe die Abendgarderobe heraus. Zum Teufel mit meinen Prinzipien! Ich habe das Gefühl, meinen anfänglichen guten Eindruck bei der jungen Dame durch das Gespräch wieder zunichte gemacht zu haben. Umso mehr ist es an der Zeit, mir endlich mal ein wenig Mühe zu geben.
***
Gefühlt zum fünften Mal versuche ich, dieses alberne Halstuch zu binden. Jetzt, wo ich in diesen schicken Sachen stecke, weiß ich wieder, warum ich ursprünglich gar nicht vorhatte, sie anzuziehen. Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so in Schale geworfen habe. Vermutlich in einem Alter, in dem meine Mutter mich noch dazu zwingen konnte. Gerade bei Hofe genieße ich es, mit meinem Auftreten meine Gleichgültigkeit zu zeigen. Dieser Haufen an Speichelleckern und fetten Adligen, die sich auf ihrem Vermögen ausruhen, sollen nicht einmal auf den Gedanken kommen, dass ich sie in irgendeiner Weise respektieren könnte. Und doch stehe ich hier vor dem Spiegel und gebe alles dafür, einigermaßen passabel auszusehen.
Santos betritt, dieses Mal ohne zu klopfen, das Zimmer. Als er mich vor dem Spiegel erblickt in meinen besten Kleidern und einem leichten Lächeln im Gesicht, bleibt er abrupt stehen und runzelt die Stirn.
„Ich habe mir doch vorhin schon gedacht, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt. Was, mein lieber Freund, soll das bitte werden?" Ich trete einen Schritt zurück und begutachte mein Spiegelbild. „Was meinst du, bin ich anständig genug gekleidet für einen Ball?", beantworte ich indirekt seine Frage. Er lacht kurz auf, doch seine Augen lachen nicht mit. Offenbar zweifelt er an meinem Verstand.
„Wolltest du nicht den Ball schwänzen und dadurch dein Misstrauen zum Ausdruck bringen?" Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe es mir kurzfristig anders überlegt." Santos verschränkt die Arme vor der Brust. „Anders überlegt, soso. Hat dich jemand bestochen?" „Was?", frage ich verwirrt. „Du weißt doch, dass ich nicht bestechlich bin." Mein Freund beginnt, auf und ab zu tigern. „Ich glaube es zu wissen. Ich glaube auch zu wissen, dass ein Ballsaal der letzte Ort ist, an dem man dich finden würde. Ich weiß, dass du allein der Festlichkeit wegen niemals auf einen Ball wollen würdest. Und es gibt keine Macht auf Erden, die stärker ist als dein Wille."
Ich zupfe gedankenverloren an meinem Rockärmel. „Das dachte ich auch. Bis heute. Und dann..." „Und dann? Was ist dann passiert?", hakt er, jetzt neugierig geworden, nach. Ich seufze. „Eine Frau."
„Ha!", Santos lässt einen trockenen Lacher hören, als könne er mir nicht so recht glauben. „Eine Frau? Du siehst Frauen nicht einmal an! Sie sind dir egal! Glaub mir, ich weiß das, denn deine Eltern haben mehr als nur einen Versuch unternommen, dich unter die Haube zu bringen. Da gab es doch diese hübsche, sanfte Brünette, die du ganz eiskalt abgelehnt hast. Oder die große Blonde mit dem Schmollmund. Sie waren dir egal. Und in den letzten zwei Jahren ist nicht eine einzige Dame über die Schwelle deines Anwesens getreten."
Ein albernes Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. „Dann muss ich mich wohl korrigieren, mein Freund. Nicht eine Frau, sondern die Frau. Ursprünglich, rein, willensstark und ein klein bisschen motzig..." Santos schnaubt. „Du bist albern. Und hast offensichtlich deinen Verstand verloren." Ich räuspere mich gewichtig. „Nein, ich glaube, da muss ich dir widersprechen. Ich habe mein Herz verloren, aber mein Verstand arbeitet noch einwandfrei. Ihre Kutsche hatte eine Panne, eine der königlichen Kutschen. Und sie fuhr gen Palast. Und da sie eine ausgesuchte Schönheit ist, liegt die Deutung nahe, dass ich sie heute auf dem Ball finden werde. Außerdem hat sie die Dienerschaft herumgescheucht, als wäre sie die Königin persönlich."
Santos nickt bedächtig. „Aha. Das meintest du also mit ungeplanten Rettungsaktionen und dunklen Augen. Wer ist denn die Auserwählte?" Ich seufze. „Ich habe absolut keine Ahnung. Sie war blitzschnell darin, zu durchschauen, wer ich bin, aber ich bin daran gescheitert, ihren Namen zu entlocken. Offenbar verschafft es ihr eine gewisse Genugtuung, in dieser Angelegenheit im Vorteil zu sein."
Auf Santos' Gesicht tritt ein amüsierter Ausdruck. „Das klingt danach, als wäre sie dir recht ähnlich. Und das wiederum finde ich äußerst spannend. Ein solch eigener Charakter, wie du ihn besitzt, ist bisweilen bei einem Mann schwer zu ertragen. Aber eine Frau mit solchen Zügen kann sich als echte Herausforderung erweisen. Du weißt, dass mir im Grunde egal ist, was du mit deinem Leben anfängst, aber meinst du nicht, dass du dich im Moment auf andere Dinge konzentrieren solltest, als dunkle Augen? So sehr dich diese Dame auch beeindruckt haben muss, ist sie es wert, dass du deine Pläne über den Haufen wirfst? Vielleicht ist sie ein Schoßhündchen des Königs und er setzt sie ein, um dich zu manipulieren."
Nun ist es an mir, trocken aufzulachen. „Du machst dir zu viele Sorgen, mein Freund. Glaub mir, egal zu welcher Familie sie gehört, sie ist niemandes Schoßhündchen, sondern besitzt einen eigenen Willen. Und das gefällt mir sehr. Würdest du mir nun bitte helfen, dieses alberne Tuch zu binden? Ich habe vor, einen guten Eindruck zu hinterlassen."
Santos seufzt, kommt dann aber meiner Bitte nach und bindet mir den Knoten mit flinkem Geschick. „Was immer du tust, lasse nicht deinen Verstand außer Acht. Und unterstehe dich, mir den Abend zu verderben. Ich habe vor, mich heute zu amüsieren." Ich rolle mit den Augen. Für meinen leichtlebigen Freund ist eine solche Veranstaltung nur ein Spiel. Für mich gleicht es eher einer Quälerei. Aber muss ein Mann nicht bereit sein, sein Wohlbefinden zu opfern, um die Frau kennenzulernen, die ihn begeistert? Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich weiß nicht, ob diese junge Dame sich letztlich wirklich als die Person erweist, mit der ich glücklich werden könnte. Doch ich weiß, dass ich noch nie so nahe daran war, mir eine Zukunft mit einer eigenen Familie auszumalen, wie heute.
DU LIEST GERADE
Die Fürstin
Historical FictionEine berühmte Hofdame. Ein einflussreicher, junger Fürst. Ein Konflikt zwischen Liebe und politischem Streit. Theodora von Mühlen zählt als eine der einflussreichsten Personen am calischen Hof und stützt als Hofdame das Prestige der Königsfamilie. F...