Kapitel 1

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Ich habe wenige Minuten zuvor einen Beitrag im Internet gesehen. Eine Frau hat gefragt, wie wir uns an einem so wunderschönen Morgen fühlen. Ernsthaft?
Ehrlich gesagt fühle ich mich jeden Morgen gleich. Nicht bloß jeden Morgen, eigentlich sogar jeden Monat- wenn nicht sogar jedes verdammte Jahr!
Als ich noch klein war, und mit einer rosaroten Brille durchs Leben gelaufen bin, hatte ich eine Vorliebe fürs Puppentheater. Anfangs dachte ich tatsächlich, dass diese filigranen Holzfiguren leben und sprechen könnten. Daraufhin habe ich mir vom Taschengeld eine Eigene gekauft, und darauf gewartet, dass sie zu sprechen anfängt. Mom hielt mich für verrückt.
Trotzdem saß ich jeden Abend auf meinem überdimensionalen Bett und starrte die Holzfigur an.
Im laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass echte Menschen hinter einer Holzwand sitzen, und an den Strippen der Puppen ziehen. Jede Bewegung ist erzwungen, ohne dass sich die Puppe dagegen wehren kann. Wie heißt es so schön: Gute Miene zum bösen Spiel.
Ich hatte Mitleid mit den Puppen, und ein schlechtes Gewissen plagte mich, da ich so frei leben konnte, und die Puppen eben nicht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil die Figuren gefangen waren. Gefangen im eigenen Leben.

Jetzt, wo ich beinahe Erwachsen bin, kann ich über meine Gedanken nur noch lachen. Von wegen ich bin frei. Ich bin eins zu eins wie diese Holzpuppen, nur dass meine eigenen Eltern die Stippen ziehen.

Meine wirren Gedanken stehen im krassen Gegensatz zu dem, was ich sage. Denn ich sage im Grunde nie, was ich denke oder was ich mir wünsche.

Wie ich mich an diesem Morgen fühle? Wie eine verdammte Theaterpuppe! Und wenn ich mein Leben nicht so schnell wie möglich selber in die Hand nehme, dann wird es immer so sein.

„Scarlett Evans, Sie kommen zu spät zur Schule!" Die Stimme unserer Haushälterin durchbricht meinen gestellten Schlaf. Es ist noch viel zu früh um aufzustehen. Das orangene Farbspiel vom Sonnenaufgang lässt mein Zimmer schummrig erleuchten.
Harper arbeitet seit über Zehn Jahren für unsere Familie und ist eine Art Freundin geworden. Klar, sie ist Anfang sechzig, aber in diesem riesigen Anwesen, ist sie der einzige Lichtblick.

Auch wenn ich am Liebsten meine Augen wieder schießen möchte, reiße ich mich zusammen und blicke zu Harper. Sie trägt wie jeden Tag die typische Arbeitskleidung der Angestellten. Meiner Meinung nach sollten sie das tragen, was sie wollen, aber meine Eltern sehen dieses Thema etwas anders. Harper ist wie eine zweite Mutter für mich. Oft ist auch sie diejenige gewesen, die mich getröstet- oder andere mütterliche Zuneigungen gezeigt hat. Dafür, dass sie immer die Fröhlichkeit in Person ist, sieht sie heute Morgen irgendwie wütend aus.
Damit keiner von uns Ärger bekommt, schäle ich mich aus der weichen Bettdecke und gehe auf das anliegende Badezimmer zu. Die plötzliche Bewegung lässt das Zimmer vor meinen Augen ungewöhnlich schwanken.

„Tut mir Leid, ich habe den Wecker nicht gehört."

„Scarlett, die Ausrede funktioniert nicht. Du stellst dir nie einen Wecker weil ich dich jeden Morgen aus dem Bett zerren muss." Wo sie recht hat, hat sie Recht. Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen. Auch wenn Mom und Dad unzählige Aushilfskräfte eingestellt haben, bin ich der Meinung, dass ich alt genug bin, mir Klamotten raussuchen oder eine Scheibe Brot zu schmieren. Aber was soll's.

„Hast du schon die Neuigkeiten gehört?", fragt Harper.

„Welche Neuigkeiten?" Bis auf das Übliche habe ich nichts spannendes mitbekomme: Unser Bankberater hat eine neue Goldgrube auf dem Immobilienmarkt gefunden und meine Mom legt sich für eine Hautstraffung unters Messer. Mein Dad hat eine eigene Firma die Staubsauger verkauft und meine Mutter ist Immobilienmaklerin. Kurz gesagt: Das Geld fließt.

„Dein Vater fliegt am Wochenende nach Boston." Das kann doch nicht wahr sein! Meine Eltern sehen in mir schon seit der Kindheit eine Medizinstudentin. Die Harvard University ist dabei das einzige College, welches in Frage kommt. Ich hingegen will unbedingt Moderne Kunst studieren. Egal wie oft ich mit ihnen rede, es bringt nichts. Es endet immer im Streit und wir schreien einander an.

Out Of The BlueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt