Kapitel 20

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"Scarlett, wo bist du denn mit deinen Gedanken?", holt mich Moms Stimme aus den Tagträumen. Wir sitzen gerade am Frühstückstisch und Spencer schwärmt schon seit Zehn Minuten ununterbrochen vom neuen One Direction Album, das sie rauf und runter hört. Gestern Abend bin ich erst spät von der Arbeit nach Hause gekommen, weshalb ich mich zusammenreißen muss, nicht auf der Stelle einzuschlafen. Nachdem Logan ohne ein Wort verschwunden ist, haben sich auch viele andere Gäste auf den Heimweg gemacht und die Bar hat sich geleert. Trotzdem waren einzelne Tische noch bis weit nach Mitternacht besetzt.

Der Kampf war schrecklich. Nicht weil ich zusehen musste, wie Logan einen anderen Menschen bewusstlos geschlagen hat, sondern weil ein anderer Kerl auf Logan losgegangen ist und ihm schmerzvolle Schläge verpasste. Auch wenn ich ihn nicht leiden kann, musste ich die ganze Zeit an seine Familie denken, an Hannah und seine Mom. Sie wären entsetzt, wenn sie mitbekommen, was Logan alles macht, nur um ihnen ein besseres Leben zu finanzieren.

"Ich bin bloß etwas müde", versuche ich mich rauszureden. Dabei ist es nichtmal eine Lüge. Wenn man es genau nimmt, bin ich seit knapp einem Jahr müde, weshalb ich kurz vorm durchdrehen stehe. Und dann ziehe ich Kollateralschäden mit mir.

"Heute gehst du pünktlich ins Bett. Ich will nicht, dass du morgen auf der Benefizveranstaltung mit Augenringen und zerzausten Haaren aufkreuzt." Und da ist sie wieder, die Claudia Evans, die nur daran denkt, wie andere über uns urteilen könnten. Es ist keine Spur von ihr als Mom zu erkennen. So war das schon immer.
Am liebsten würde ich einfach nicht zur Gala gehen, aber ich möchte auch keinen Streit mit Mom und Dad anzetteln, weshalb ich nachgebe. Ivy wird hoffentlich auch auf der Veranstaltung sein, sie ist mein einziger Lichtblick.

Ich reiße mich zusammen. "Natürlich, werde ich machen. Ivy kommt nachher vorbei."

Spencer schaut sofort von ihrem Soja- Joghurt auf und strahlt mich an. "Oh ja, können wir in den Park fahren?"

"Natürlich." Fragend werfe ich meiner Mutter einen Blick zu.

"Macht nur, aber kommt nicht zu spät wieder. Kommt... Ist Rowan morgen deine Begleitung?"

Und schon sind wir wieder beim Thema Rowan. Ich könnte laut aufschreien. Verstehen sie denn nicht, dass uns so viel verbindet wie ein Stein und eine Kartoffel? Anscheinend nicht. Leider habe ich Rowan schon zugesagt, es war ein Fehler, aber jetzt doch noch abzusagen, ist unfair.

"Ja, wir treffen uns im Raddison." Es ist das Hotel, in dem die Veranstaltung stattfindet.

"Super, freut mich." Mhh, kann ich mir vorstellen.

Am Nachmittag stürmt Ivy in mein Zimmer. „Erzähle mir alles, jedes Detail!"

Ich zucke zusammen. „Oh Gott, Ivy, erschrecke mich doch nicht!"

Mit einem selbstgefälligen Grinsen lässt sie sich neben mich aufs Bett fallen. "Sorry, aber jetzt erzähl schon, ich platze vor Aufregung. Ist Logan ohne Oberteil wirklich so heiß, wie ich ihn mir vorstelle?"

Ich schnaube. "Erstens, wieso stellst du dir Logan Oberkörperfrei vor, das ist gruselig. Und Zweitens, woher willst du wissen, dass ich auf ihn geachtet habe? Ich musste schließlich arbeiten."

Meine beste Freundin bestraft mich mit einem zweifelnden Blick. Na schön, meine Ausrede kling echt erbärmlich. "Ich warte, Scarlett Evans."

Weil ich weiß, wie aufdringlich Ivy sein kann und erst dann nachgibt, wenn sie ihren Willen bekommen hat, gebe ich ihr was sie möchte. "Naja, selbst ein Blinder sieht, dass er gut gebaut ist. Das ist nichts Neues."

Ivy schmilzt beinahe vor meinen Augen. "Hab ich mir gedacht", sagt sie verträumt.

"Falls ich dich daran erinnern muss: Du hast einen Freund, Schätzchen."

"Na und? Ich darf doch wohl noch schwärmen." Ihre Miene wird ernster. "Aber mal im Ernst. Wie lief der Kampf?"

Vor einigen Tagen ist mir rausgerutscht, dass Logan an den Kämpfen teilnimmt. Natürlich habe ich kein Wort über Oscar oder diesen beschissenen Deal verloren. So dumm bin ich nicht. Wenn Oscar sagt, dass er den Leuten, die ich liebe, wehtut, falls ich reden sollte, dann glaube ich ihm.

Ich sehe den Kampf vor meinen Augen. Wie Neil und Logan um sich schlagen, nur um die Menge zu begeistern. Es war wie im Film. "Logan hat gewonnen. Aber es war schrecklich."

"Wieso?", fragt Ivy. Ernsthaft? Wieso? Als würde das nicht auf der Hand liegen.

"Ivy, die haben sich bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Das ist doch nicht normal." Ich merke selber nicht, wie meine Stimme immer lauter wird.

Meine Freundin setzt sich aufrecht aufs Bett und spielt mit den Fransen vom Kissen. "Warum macht er denn überhaupt mit?"
Ich hatte bisher noch nie ein Geheimnis gegenüber Ivy. Wir erzählen uns alles und sie kennt mich besser, als ich mich selbst kenne. Bis heute.

"Das weiß ich nicht. Wir reden außerhalb vom Unterricht nicht viel miteinander." Lüge Nummer Eins. "Außerdem interessiert es mich auch garnicht." Lüge Nummer Zwei. "Und ihm wird schon nichts passieren." Hoffentlich nicht Lüge Nummer Drei.

"Wenn du meinst." Ivy sieht aber nicht so aus, als würde sie mir glauben.

Ich versuche so schnell wie möglich das Thema zu wechseln. "Spencer hat mich gefragt, ob wir in den Park fahren können. Sie will Enten füttern."

Ihre angespannte Miene lockert sich. "Klar. Aber wir sind mit dem Gespräch noch nicht fertig."

Mit einer gemurmelten Zustimmung verlassen wir mein Zimmer und gehen zu Spencer.





Eine halbe Stunde später stehen wir im Stadtpark vor einem wunderschönen See. Das Sommerwetter hat viele Menschen ins Grüne gezogen. Manche spielen Frisbee, manche joggen entlang der Laufwege und Kinder spielen Fangen. Das pure Leben. Schon früher sind wir mindestens einmal pro Woche mit einer riesigen Tüte Brot hier her gefahren. Es ist ein Ritual, das wir Drei nicht aufgeben wollen. Aber spätestens wenn Ivy und ich in anderen Staaten studieren, wird sich viel verändern. Und davor habe ich angst.

Spencer ist gerade dabei, das letzte Stück Brot zu verfüttern, als mich meine  beste Freundin beiseite zieht. "Bist du morgen auch im Raddison?"

Meine Laune sinkt in Keller. "Ja. Leider."

"Mit Rowan?", fragt Ivy. Sie kann ihn auch nicht leiden.

"Ja, ich rede bei meinen Eltern gegen Wände. Es ist ihnen scheiß egal ob ich Rowan mag oder nicht. Kommst du auch?" Bitte sag ja. Bitte.

"Mitchell hat mich gefragt ob ich ihn begleite." Im selben Moment fällt eine tonnenschwere Last von meinen Schultern.

Aus dem Augenwinkel erkenne ich Spencer auf mich zulaufen. "Scar, hast du noch ein Brötchen?"

"Du hast schon alles verfüttert, Spence", sage ich lachend.

Ein trauriger Zug umspielt ihre Augen. "Kannst du noch ein Brot kaufen? Bitte." Bei diesem Hundeblick kann ich einfach nicht nein sagen.

"Na schön. Wartet hier."

Drei Blocks entfernt gibt es ein Bäckerei, in der ich mich schon oft mit meinen Freunden getroffen habe. Mit 15 habe ich dort heimlich gearbeitet, bis Mom und Dad vom Job mitbekommen haben. Sie sind so sehr ausgerastet, dass ich für einen Monat Hausarrest hatte. Natürlich musste ich trotzdem auf jeder Veranstaltung aufkreuzen.

Kurz vor dem Backshop bleibe ich stehen. Ist das...? Ja, Hundert Meter von mir entfernt steht Logan vor einer Tür. Was macht er hier?

Ich verlangsame meine Schritte und beobachte ihn. Im selben Moment geht die Tür auf und eine wunderschöne Blondine lächelt ihn an. Sie greift nach seinem Kragen und drückt einen langen Kuss auf seine Lippen. Ich spüre einen Stich in meinem Magen.

Dieses Flittchen frisst ihn beinahe auf. Logan scheint es nicht zu stören, im Gegenteil, er umfässt ihre Hüfte und schiebt die Blondine in die Wohnung. Auch wenn ich zu weit entfernt stehe, höre ich beinahe ihr schrilles Kichern.

Perplex bleibe ich stehen. Bis dahin habe ich garnicht gemerkt, dass ich meine Luft angehalten habe. Es sollte mich nicht stören. Mit schnellen Schritten laufe ich zurück zu Spencer und Ivy, aber das ekelerregende Gefühl verschwindet nicht.

Das Brot habe ich vergessen.

Out Of The BlueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt