Kapitel 6

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Sobald Spencer und ich zu Ivy in den Wagen gestiegen sind, deute ich meiner Besten Freundin an nach Downtown zu fahren.
„Hast du Hannahs Adresse?", frage ich meine Schwester, die auf der Hinterbank sitzt und mich mit offenem Mund anstarrt.

„Wieso?" Ihre Augen weiten sich auf die Größe von Schallplatten.

„In der Zeit wo Ivy und ich Shoppen gehen, kannst du dich mit Hannah treffen. Oder möchtest du nicht?" Ein riesiges Grinsen breitet sich auf Spencers Gesicht aus. Sie steckt mich sofort an, so war es schon immer. Wenn meine Kleine Schwester lacht, dann geht die Sonne freudestrahlend auf. Bei ihr ist es nicht bloß ein klischeehafter Spruch, der von Pinterest stammen könnte, bei ihr ist es die Wahrheit.

„Doch!" Ha, ich wusste es. "Aber ich werde von Mom und Dad ärger bekommen."

Ich blicke sie zuversichtlich an. "Mach dir darum keine Sorgen. Jetzt fahren wir erstmal zu ihr." Auf der Fahrt unterhalten wir uns hauptsächlich darüber, wie der Plan ablaufen wird. In drei Stunden werde ich Spencer wieder abholen und nach Hause bringen. Wir alle erzählen meinen Eltern dieselbe Geschichte, so wird niemand etwas merken.
Ivy lenkt das Auto nach Downtown. Am Straßenrand reihen sich kleine Souvenirläden aneinander und die dreckigen Straßen bestehen hauptsächlich aus Schlaglöchern. Diese Gegend zu sehen macht mich auf bedrückende Weise traurig. Augenblicklich bekomme ich ein schlechtes Gewissen weil meine Familie mehr Geld hat, als wir benötigen, während die Kinder in Downtown am Existenzminimum leben. Klar, meine Eltern spenden monatlich Geld an Organisationen und Stiftungen, aber das nicht, weil ihnen die Kinder so sehr am Herzen liegen, sondern weil sie ihr Image damit verbessern können.

"Hier ist es", ruft meine Schwester und zeigt auf ein ramponiertes Mehrfamilienhauskomplex aus kaltem Beton. Hier wohnt Hannah? Ivy lenkt das Auto auf den Parkplatz. Ihr roter Luxuswagen sieht in dieser Gegend verdammt lächerlich aus. In etwa so dämlich, wir im Chinesischen Restaurant Pizza zu bestellen.

"Dann komm, ich bringe dich nach oben." Ich ziehe Spencer hinter mir her, während Ivy im Wagen wartet. Nach und nach kommt mir die Idee immer bescheuerter vor. Was soll ich unseren Eltern sagen, wenn meiner Schwester tatsächlich etwas zustößt? Ich schiebe die Zweifel beiseite und betrete das Treppenhaus. Es riecht nach abgestandener Luft, gemischt mit Putzmittel und Zigarettenduft. Das Licht in der Eingangshalle flackert wie in einem schlechten Horrorfilm. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Genau, rein garnichts! Aber jetzt wo wir schon mal hier sind, werde ich bestimmt keinen Rückzieher machen und den nicht vorhandenen Schwanz einziehen. Wenn ich es mir richtig überlege, kann ich mich beim besten Willen nicht dran erinnern, jemals in einem Haus gewesen zu sein, das keine Fünf Bäder und Zwei Küchen hat. Noch nie habe ich mich so sehr geschämt, wie in diesem Augenblick.

"Komm, sie wohnt im dritten Stock", ermutigt mich Spencer und lässt mir keine Möglichkeit zu antworten. Ihr scheint diese Gegend nichts auszumachen, sie nimmt die abbröckelnde Wand und den dreckigen Boden überhaupt nicht wahr. Sie ist mutiger als ich. Das ist erniedrigend.
Wir kommen vor einer braunen Tür zum stehen. Das Klingelschild lässt die Beschriftung Campbell vermuten, aber so sicher bin ich mir nicht, denn die Buchstaben sind bereits ausgeblichen und eher gelb als weiß. Aus welchem Grund auch immer, geht mein Puls in die Höhe und droht sich zu überschlagen.

"Bist du sicher, dass du nicht mit shoppen kommen möchtest?", frage ich meine Schwester, in der Hoffnung, dass sie es sich doch noch anders überlegt. Wenn man erstmal ein ungutes Gefühlt im Magen hat, dann verschwindet es auch nicht so schnell wieder. Es zieht sich lang wie ein Kaugummi.

"Natürlich, ich habe Hannah schon geschrieben." Na toll. Dass meine Schwester mit 12 Jahren schon ein Handy hat, fand ich noch nie gut, aber anscheinend ist sie nicht die Einzige. Mit Zwölf Jahren habe ich Radios aus Zeitschriften gesammelt um damit zu spielen. Zeiten ändern sich.
Ich drücke auf die Klingel. Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher. Auf der anderen Seite der Tür höre ich leises Getuschel. Instinktiv schiebe ich mich ein Stückchen weiter vor Spencer. Leider bin ich so beängstigend wie ein Marienkäfer, weshalb es sowieso nichts nützen würde.
Die Tür geht abrupt auf und eine ältere Frau steht in der Tür.

"Hallo", begrüßt sie uns. Ihre Stimme ist rau, wahrscheinlich liegt das an Zigaretten. Sie hat schulterlanges schwarzes Haar und an der Lippe befindet sich ein Piercing. Früher wollte ich auch immer eins, aber mehr als Ohrlöcher durfte ich nie haben.

"Hey, ich bin Scarlett, Spencers Schwester." Die Frau mustert uns von oben bis unten. Wie es aussieht gefällt ihr nicht, was sie sieht. Da wird mir bewusst, wie wir auf sie wirken müssen. Wir tragen teure Kleider und gestylte Haare, während Hannahs Familie wahrscheinlich ihre Klamotten aus Walmart hat.

"Freut mich, ich bin Moana. Hannah, deine Freundin ist da", ruft sie durch die Wohnung.

Wenige Sekunden später stürmt ein dunkelbrauner Lockenkopf auf uns zu. "Spencer! Wie schön."
Das ist also Hannah. Sie trägt eine knielange Shorts und ein zu großes T-Shirt. Das Komplette Gegenteil von meiner Schwester. Trotzdem ist Hannah unnormal süß und ihre grauen Augen strahle pure Lebensfreude aus. Ihr Anblick lässt mich entspannen. Ich bin überzeugt, dass Spencer hier gut aufgehoben ist, auch wenn Mom anders denken würde.

"Möchtest du auf einen Kaffee mit reinkommen?", fragt mich die ältere Frau. Dieses plötzliche Angebot überrascht mich.

"Gerne." Auf dem Weg in die Wohnung schreibe ich Ivy auf die Schnelle eine Nachricht, dass sie noch etwas warten soll. Hannah und Spencer verschwinden im Kinderzimmer, während ich mich unauffällig umschaue. Die Wohnung ist die reinste Überraschungstüte. Während in unserem Anwesen alle Möbelstücke aufeinander abgestimmt sind, scheint hier jeder Schrank aus etwas anderem zu bestehen. Der Flur ist eng und auch die Räume sind kleiner als mein Zimmer. Überall hängen Bilder und Zeichnungen. Ein Blick auf eines der Fotos verrät mir, dass Moana noch einen älteren Sohn haben muss, der dieselben lockigen Haare und graue Augen hat.

"Möchtest du Zucker oder Milch?", unterbricht Moana meine Besichtigung.

"Etwas Milch wäre nett." Mit einem Nicken wendet sie sich wieder dem Wasserkocher zu und ich setze mich auf einen der Holzstühle. Mir fällt auf, dass der Essensvorrat zum größten Teil aus Konserven und Tiefkühlprodukten besteht. Wenn Mom das sehen würde...
Moana reicht mir eine Tasse Kaffee und der angenehme Geruch steigt mir in die Nase. Sie setzt sich mir gegenüber, während sie selber einen Tee trinkt. Die Stille ist irgendwie unangenehm und unter ihrem prüfendem Blick fühle ich mich klein.

"Soso. Ihr seid die Töchter von Peter und Claudia Evans", stellt Moana trocken fest und ich blicke von meiner Tasse hoch.

"Woher wissen sie das?" Ich bezweifle irgendetwas in der Art gesagt zu haben.

"Ich habe euch schon einige Male auf Titelseiten von Zeitschriften oder im Fernsehen gesehen. Ihr schwimmt förmlich in Geld, nicht wahr? Wie kommt es dazu, dass Hannah und Spencer befreundet sind?"
Ihre Augen durchbohren mich. Ich bin sprachlos. Was soll ich darauf antworten? Wenn ich ihr sage, dass meine Schwester heimlich hier ist und unsere Elter auf keinen Fall wollen, dass die Kinder in Kontakt stehen, dann wird sie uns nur noch mehr verachten.
Also sage ich, was mir am sinnvollsten erscheint.

"Wieso denn nicht? Es ist nur Geld. Hannah ist ein bezauberndes Mädchen, genau wie Spencer." Moanas Blick wird sanfter. Anscheinend hat ihr meine Antwort gefallen.

"Stimmt. Hannah findet nicht oft neue Freundinnen. Also sei mir nicht böse weil ich mich wundere, wenn die High Society hier aufkreuzt." Dass sie uns die High Society nennt, gefällt mir nicht, aber ich kann sie verstehen.

"Hannah ist echt süß." Sie erinnert mich ein bisschen an Vaiana aus dem Disneyfilm. Witziger Weise ist es Spencers Lieblingsfilm.

"Sie kommt nach ihrem Vater", sagt Moana. Umso mehr wir miteinander reden, desto netter wirkt sie auf mich. Ihre Mundwinkel fallen nach unten und sie sieht bedrückt aus. "Er wohnt hier nicht mehr und hat mich ohne Geld mit zwei Teenagern zurückgelassen."

"Das tut mir unheimlich leid." Ich kann mir gar nicht vorstellen, alleine Zwei Kinder großzuziehen. Mein Respekt gegenüber dieser Frau wächst von Minute zu Minute an.

"Muss es nicht. Wir brauchen kein Geld um glücklich zu sein. Ich habe schließlich meine Kinder." Aus ihrer Stimme höre ich etwas bitteres heraus. Moana blickt gedankenverloren zu der Tür, hinter der Hannah und Spencer gerade spielen.

Im selben Moment öffnet sich die Haustür. "Oh, da ist er ja!" Schritte nähern sich und eine große, breitgebaute Gestalt tritt in die Küche. Shit!

"Hey, das ist Scarlett, Spencers Schwester." Moana blickt mich mit einem aufrichtigen Lächeln an. "Scarlett, das ist mein Sohn Logan."

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