Kapitel 8

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Die Tür fällt beinahe geräuschlos ins Schloss. Ich stehe wie erstarrt in meinem Zimmer und lasse mich auf das wackelige Bettgestell fallen. Warum verdammt nochmal muss Hannah mit der Schwester dieser eingebildeten und in Geld schwimmenden Zicke befreundet sein? Auf der Washington High wird es wohl noch andere Mädchen in ihrem Alter geben, die weniger abgehoben sind.

Wenn ich ehrlich bin, schüchtert Scarlett mich einfach ein und das kotzt mich regelrecht an. Ich habe mich mit Absicht seit 19 Jahren von der Oberschicht ferngehalten, denn während diese in Champagner baden und alle Probleme mit Geld regeln können, müssen Leute wie ich darum kämpfen, etwas ordentliches auf den Tisch zu bekommen.

Bei ihr sitzt jedes Haar perfekt und es ist keine einzige Falte in ihren Klamotten zu erkennen. Ihr Bild passt nicht im geringsten zu dem Mädchen, das ich im Hilten kennengelernt habe. Oscar hat sie angeblich schon seit einigen Wochen im Blick, auch wenn seine Flirtversuche bei ihr nicht angeschlagen haben. Scarlett hat ihn angeekelt angeschaut. Würde mir als Frau mit gesundem Menschenverstand nicht anders gehen. Im Hilten wirkte sie selbstbewusst auf mich, während sie heute wie ein hilfloses Schaf ausgesehen hat.

Außerdem weiß Scarlett zu viel. Mom denkt, dass ich nicht mehr mit Oscar befreundet bin und diese Phase hinter mir habe. Tja, falsch gedacht. Durch Oscar und seine Clique verdiene ich mein Geld, mit dem ich Hannah und Mom ein besseres Leben finanzieren kann. Sie denken, dass ich immer noch in der Werkstatt arbeite, wo ich vor wenigen Wochen gefeuert wurde. Zu oft bin ich nicht zu den Arbeitszeiten aufgekreuzt und habe mich stattdessen vollgesoffen. Mom wäre enttäuscht von mir, also bin ich Oscar Clique beigetreten. Aus der man auch nicht wieder aussteigen kann, wie ich im Nachhinein feststellen musste.

Manchmal glaube ich, ich bin schizophren- was natürlich kompletter Mist ist. Eine gespaltene Persönlichkeit. Ich habe so viel um die Ohren, so viel um dass ich mich kümmern muss, von dem meine Familie nichts mitbekommen darf, dass mein Kopf explodiert.
Mein Problem sind dann immer die Stimmen. Keine Echten Stimmen, sondern die, die in meinem Kopf auf mich einreden und unverschämt laut brüllen. So wie in diesen Bärendokumentationen, wenn zwei von ihnen im ein Weibchen kämpfen- nur eben noch schlimmer. In diesen Momenten presse ich meine Hände gegen meine Ohren, damit der Lärm endlich verebbt. Fehlanzeige. Es. Hilft. Rein. Garnicht. 

Auf der Highschool hatte ich einen Vorgeschmack bekommen. Unsere Kunstlehrerin stand zwei Meter vor mir, als sie wie ein sterbende Schwan zusammengeklappt ist. Doch sie war nicht tot. Burnout.
Als sie Monate später wiedergekommen ist, hat sie uns von der Zeit erzählt, als sie taub war. Nicht, weil ihre Ohren nicht funktionierten, die waren einwandfrei, sondern weil die Stimmen in ihrem Kopf so laut waren, dass sie alles andere übertönten. Und eines weiß ich: So will ich keines Falls nicht enden.

Die Zimmertür wird aufgerissen und meine kleine Schwester stürmt auf mich zu. Sie sieht aus wie ich, nur eben als Mädchen. Wir kommen beide nach unserem Versagervater, der uns im Stich gelassen hat und mit einer anderen Frau durchgebrannt ist.

"Logan! Können wir einen Film gucken?", fragt sie mit schriller Stimme und lässt sich neben mich Fallen. Das Bett macht dabei unschöne Geräusche.

"Na Han, hattest du einen schönen Nachmittag?" Ihr Gesicht hellt sich augenblicklich auf und sie nickt energisch. Spencer wurde vor wenigen Minuten abgeholt, weshalb ich endlich wieder Ruhe habe und das Gekreische ein Ende hat.

"Oh ja, Spencer ist Toll! Ihre Schwester hat uns einen neuen CD-Player geschenkt. Der hat sogar ein Display. Ist das nicht nett?" Damit ich ihre Seifenblase nicht zerplatze, setzte ich ein gekünsteltes Lächeln auf. Meiner Meinung nach, will sie sich bestimmt nur Einschleimen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Leute wie Scarlett und Spencer mit Leuten wie uns abhängen. Scarlett sieht gut aus. Gut ist sogar untertrieben. Auch wenn ich sie nicht leiden kann, bin ich nicht blind auf den Augen. Mit ihren langen Beinen, diesen blauen Augen und den irgendwie niedlichen Grübchen, die beim Lächeln auftauen, sieht sie atemberaubend schön aus. Dabei trägt sie nichtmal viel Make-up. Oscar scheint dasselbe bemerkt zu haben. Dieser Wichser hat Scarlett für eine Prostituierte gehalten. Er wollte ihr sogar hinterherfahren, als sie gegen drei Uhr morgens Schichtende hatte. Zum Glück kann ich sehr überzeugend sein, weshalb Oscar dann doch bei uns geblieben ist.

"Ist echt korrekt von ihr", beantworte ich Hannahs Frage, und rutsche ein Stück beiseite, damit sie sich neben mich setzen kann. "Was möchtest du denn gucken?" Die Auswahl fällt klein aus. Bis auf wenige DVD's die wir schon unzählige Male geschaut haben, besitzen wir weder Netflix noch Amazon Prime Video.

"Die Schöne und das Biest", ruft Hannah und schaltet den Fernseher an. Ein Klassiker, ihr Lieblingsfilm. Ja, der Film ist gut, aber Ernsthaft? So viele Klischees innerhalb von Eineinhalb Stunden können echt deprimierend sein. Gerade wenn der Film zu Ende ist und man anfängt zu realisiert, dass es sowas wie die Große Liebe und all den Schwachsinn, nicht gibt.

"Dann komm her." Für die nächsten Zwei Stunden tauchen wir in die Welt von Disney. Gegen Neun Uhr abends klingelt mein Handy. Hannah ist eingeschlafen und liegt in meinem Arm. Niemand bedeutet mir ansatzweise so viel wie sie und Mom.

Damit ich sie nicht wecke,  greife ich behutsam nach dem Handy und versuche mich möglichst wenig zu bewegen. Ein Blick verrät mir, dass die Nachricht von Phil kommt. Er ist genau wie ich Mitglied von Oscars Gruppe und die einzige Person, der ich vertraue. Wir sind ungefähr im selben Alter.

Phil: Bro, heute Abend um Neun Uhr in der Harrisstreet. Oscar hat was Neues!

Mit einem Seufzen fahre ich mir durch die wirren Haare. Wenn Oscar etwas neues hat, dann bedeutet es, dass wir in irgendein Haus einbrechen sollen. Es macht mir nichts aus, der Adrenalinkick pusht mich jedes Mal aufs Neue und ich vergesse meine Probleme. Manchmal müssen wir auch Drogen oder andere illegalen Güter transportiert. Was Oscar nebenbei noch macht, will ich garnicht wissen. Dass es grausam ist, ist alles was ich weiß, wenn ich es nach den Schreien beurteile, die ich schon öfters aus seinem Versteck gehört habe. Es ist eine abgelegene Wohnung mit ausgebautem Keller. Unbefugte kommen da auf keinem Weg rein.

Ich: Bin auf dem Weg. Was steht heute an?
Phil: Wir sollen ein Auto knacken :)
Ich: Bringst du das Werkzeug mit?
Phil: Jo

Mit einem Kuss auf die Stirn meiner Schwester, verlasse ich das Zimmer und schleiche in den Flur. Außer dem Geräusch vom röhrenden Kühlschrank ist es in der Wohnung ruhig. Auch wenn es erst halb Neun ist, schläft Mom wahrscheinlich. Sie hat einen schlechtbezahlten Putzjob im Jugendzentrum unseres Viertels, der ihr zu schaffen macht.

"Wo willst du so spät schon wieder hin?", durchbricht meine Mutter die Stille. Shit. Mom hört sich wie die Mutter von Hannah Baker aus Tote Mädchen lügen nicht an, die in der Serie unter psychischen Belastungen leidet, da ihre Tochter selbstmordgefährdet ist und sich- achtung Spoiler- umbringt.

"Ich treffe mich mit Phil."

"So spät? Du musst Morgen arbeiten und brauchst Schlaf." Der gequälter Gesichtsausdruck lässt ihr Gesicht um einige Jahre älter aussehen. Wenn sie wüsste, was ich anstelle dessen mache...

"Ich bin in Zwei Stunden wieder da, Mom." Es sieht nicht gerade aus, als dass Mom mir glaubt, aber sie nickt trotzdem.

"Mach keinen Scheiß, Logan. Wir brauchen dich." Sie lächelt mich schwach an. "Ich habe dich lieb und will nicht dass du dich in Schwierigkeiten bringst. Meinetwegen."

Wann habe ich das letze Mal gesagt, dass ich sie lieb habe? Jedenfalls ist es lange her. "Mache ich nicht." Mit diesen Worten verschwinde ich in die Dunkelheit, auf dem Weg für Oscar die Hände schmutzig zu machen. Aussteigen gibt es nicht.

Out Of The BlueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt