Kapitel 19

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Wenn es eine Sache gibt, die ich abgrundtief hasse, dann ist es verlieren. Ich verliere nie, und werde es auch jetzt nicht tun.

Ich spüre, wie mehrere Hundert Augenpaare gebannt auf mir liegen, während deren Last meine Aufregung steigert. Eines der Augenpaare gehört Scarlett. Mein Ego lässt nicht zu, dass sie zusieht, wie ich mich zum Vollidioten mache und verliere. Also stehe ich auf, balle meine Hand zur Faust und kämpfe weiter.

Neil ist ein paar Jahre älter, aber dafür viel erfahrener als ich. Er weiß genau was er tut und jeder Schlag von ihm sitzt perfekt.

In meiner Kindheit habe ich mich oft mit den Jungs aus meiner Gegend geprügelt,
weswegen ich mit 15 angefangen habe zu boxen. Mittlerweile gehe ich nur noch unregelmäßig ins Studio, weil Mom die Stunden einfach nicht mehr bezahlen kann. Trotzdem habe ich ein paar Trick drauf, die hoffentlich mein Ass im Ärmel sind.

Ich umrunde Neil und lasse ihn keine Sekunde aus den Augen. Wir mussten beide schon einige Schläge einstecken, die morgen sicherlich zu Blutergüssen werde und die ich vor meiner Familie verstecken muss. Im Augenwinkel sehe ich, wie Scarlett gespannt zuguckt und etwas vor sich hin flüstert.

Mit einem großen Schritt gehe ich auf meinen Gegner zu und durchbreche seine Verteidigung. Neil wirkt von meinem Angriff überrascht und stolpert ein Stück nach hinten. Diese wenigen Sekunden nutze ich, um näher an ihn heranzukommen. Dabei denke ich an all die Sachen, die mich wütend machen und dessen Wut ich bisher aufgestaut habe. Ich verletze nur ungerne andere Personen, aber mir bleibt im Moment nichts anderes übrig und ich darf nicht einen einzigen Moment zögern.

Ich denke an meinen leibliche Vater, der Hannah, Mom und mich im Stich gelassen hat, an Oscar, der mein komplettes Leben kontrolliert und in der Hand hat. An all die Leute, die früher gesagt haben, dass ich mit 20 Jahren im Knast hocken werde und dass aus mir nichts wird.

Diese Wut lasse ich genau jetzt aus mir heraus. Neil scheint ebenfalls überrumpelt und ich dringe zu ihm durch. So leid es mir auch tut, schlage ich ihm in den Magen und er fällt bewusstlos um.

Stille, in meinem Kopf ist es leer. Ich nehme das Gejubel um mich herum nicht wahr. Ich muss gerade an Hannah denken. Würde sie mich für ein Monster halten, wenn sie heute hier zugeguckt hätte? Der Adrenalinschub lässt von Sekunde zu Sekunde nach und gleichzeitig klärt sich meine Sicht.

Oscar grinst mich hinterhältig an, während die anderen Gruppenmitglieder laut johlen. Ein stämmiger Mann kommt in den Ring und reißt meinen Arm in die Höhe. Gleichzeitig ertönen Pfiffe und lautes Geschrei. Insgeheim bin ich zum Teil stolz auf mich, dass ich diesen Kampf gewonnen habe. Ich spüre wie meine Mundwinkel nach oben wandern und ich mich von der Menge feiern lasse.

Meine Augen wandern automatisch zu Scarlett. Sie steht neben Oscar und sieht zwischen all den testosterongesteuerten Männern total fehl am Platz aus. Sie gehört nicht hier her. Auf ihren Lippen liegt ein bitterer Zug und sie blickt mich entsetzt an. Von einer Sekunde auf die Andere ist meine Euphorie von vorher verflogen und ich kann nichts anderes machen, als ihre Reaktion zu analysieren. Was mich am meisten verletzt ist, dass sie mir nicht in die Augen gucken kann, sie schaut überall hin, aber nicht in meine Augen.

Ihr Gesicht ist verzehrt und sie wirkt wie ein verscheuchtes Reh. Ich hasse es, dass Scarlett mich so abschätzig, beinahe ungläubig anschaut. Ihre Augen sind weit aufgerissen und es bilden sich Falten auf ihrer Stirn. Bevor ich auch nur irgendwie reagieren kann, dreht sie sich um und verschwindet hinter dem Tresen.

Seufzend gehe ich zu Oscar. Die gesamte Gruppe steht am Rand des Raumes und diskutieren. Sobald Oscar mich kommen sieht, verstummt er und kommt mit einem Grinsen im Gesicht auf mich zu.

"Junge, du hast uns gerade richtig viel Kohle eingebracht", flüstert er und klopft mir lobend auf die Schulter, als wäre ich ein Hund. "Wenn du die nächsten Wochen noch eine Schippe drauflegst, dann bekommst du auch einen größeren Teil der Belohnung ab."

Vor einigen Tagen haben wir vereinbart, dass ich pro gewonnenen Kampf 300 Euro abbekomme. Es ist nicht viel aber immerhin etwas. So kann ich Mom unterstützen und uns über Wasser halten.

"Ich werde es versuchen."

"Willst du mit uns auf deinen Sieg anstoßen?", fragt Oscar. Es ist gruselig wie schnell er vom angsteinflößendem Kopf einer Gang zum Kumpel wechseln kann.

Ehrlich gesagt habe ich im Moment keine Lust auch nur eine Sekunde länger hier zu verbringen. Die können mich alle am Arsch lecken! An Scarlett will ich garnicht erst denken.

"Sorry, heute nicht, aber vielleicht nächstes Mal." Mit einem Nicken gehe ich zu den Umkleidekabinen, die extra für die Kämpfer vorgesehen sind. Ich schrecke vor meinem eigenen Spiegelbild zurück. Auf meiner linken Wange haben sich blaue Schatten gebildet und meine Oberlippe blutet leicht. Mein ganzer Körper schmerzt. Wie soll ich das noch 5 weitere Wochen aushalten? Neil hat mich an den Rippen erwischt, weshalb jede kleinste Bewegung weh tut.

"Guter Kampf, Bro." Phil steht mit verschränkten Armen in der Tür. "Willst du schon abhauen? Nach diesem Kampf musst du feiern."

"Sorry, aber ich habe keinen Bock auf Oscar." Ich spreche extra leise, damit uns niemand hören kann.

"Wo willst du dann hin?"

Ich zucke mit den Schultern. "Keine Ahnung, aber ich brauche was zum Essen."

"Bin dabei", erwidert Phil mit einem Lächeln im Gesicht und geht mit meiner Sporttasche in Richtung Ausgang.

Er ist mein bester Freund. Wir kennen uns vielleicht nicht gerade lange, aber er ist die einzige Person, mit der ich über jeden Scheiß reden kann. In der Schule habe ich Paul und seine Clique, aber er kennt meine Welt nicht im geringsten.

Also gehe ich mit schnellen Schritten Phil hinterher, aber nicht ohne noch einmal zu Scarlett zu blicken. Sie steht an einem Tische und bedient die Gäste. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass sie viele männliche Blicke auf sich zieht und ich weiß nicht ob mir das gefällt, schließlich weiß ich was für Arschlöcher Männer sein können.

Weil ich nicht länger über sie nachdenken will, verstaue ich alles was mit ihr zu tun hat in der hintersten Ecke meine Gehirns.

Alles, was ich jetzt brauche, ist ein saftiger Bürger und ein Milchshake!

Out Of The BlueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt