17. Danke, großer Bruder

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"Tu das nicht, Ivar.", Sigurd versuchte Ivar das erste Mal Vernunft einzureden, statt sich über ihn lustig zu machen, "Wir sind alle Ragnars Kinder. Wir müssen zusammenhalten."

Ich sah kurz zu Hvitserk, denn die Worte des Sehers gingen mir wieder einmal durch den Kopf.

"Mir ist gleich, was du sagst, Sigurd. Ich würde dir nicht einmal in die Kehle pissen, wenn deine Lungen brennen würden."

Ich lachte kurz auf, ebenso das Volk.
Ubbe schlug auf den Tisch und sah Ivar an.
Schnell sah ich zu Sigurd. Dieser Streit schien interessant zu werden, weil sowohl Ivar, als auch Sigurd sich vor unserer Streitmacht beweisen wollten.

Sigurd wendete sich leicht dem Volk zu, "Das mag wohl daran liegen, weil du kein richtiger Mann bist. Oder Krüppel?"

Ich riss die Augen auf. Ich wusste sofort, was Sigurd meinte. Doch woher wusste er dies? Ivar sah mich an. Sein Gesichtsausdruck war irgendetwas zwischen Wut, Enttäuschung und Bloßstellung.
Ich schüttelte nur mit dem Kopf, um ihm damit zu sagen, dass ich niemanden etwas von seinem Geheimnis erzählt hätte.
Ivar wendete den Blick ab und starrte vor sich hin.
Ich spürte, wie es ihn ihm brodelte.

Während Ivar anscheinend versuchte nicht auszurasten klärte Björn, wer hierbleiben würde und mit den Siedlern das Land beackern würde.
Sigurd sah immer wieder unsicher zu Ivar, was man ihm wohl nicht verübeln konnte, denn jeder von uns wusste, dass er so etwas nicht einfach auf sich beruhen lassen würde.

"Das Einzige, was uns noch zusammengehalten hat, war der Tod unseres Vaters.", sagte Björn spöttisch und sah uns alle an.

"Nur du bist es, der die Streitmacht nicht zusammenhalten will. Und nur du willst fortsegeln und sonnige Orte finden.", schrie Ivar Björn an, "Die anderen können mir folgen."
Ich hätte mich gerne eingemischt und meine Meinung dazu gesagt, doch ich blieb schweigsam wie Hvitserk, der sich alles nur interessiert anhörte.

Sigurd schlug auf den Tisch und sprang auf, "Ich werde dir nicht folgen, Ivar! Du bist verrückt. Du denkst wie ein kleines Kind."

Nun sprang ich ebenfalls auf. Dass unsere Streitmacht uns anstarrte störte mich nicht, ich kannte es ja schon im Mittelpunkt zu stehen.

"Ivar denkt wie ein kleines Kind? Wer hat uns den Sieg gebracht? Wer wusste ganz genau, was die Sachsen tun werden? Das warst ganz bestimmt nicht du, mein lieber Sigurd.", ich schüttelte spöttisch den Kopf.

Über Ivars Gesicht huschte ein Lächeln, welches sich schnell wieder in Wut wandelte. Er nickte kurz.
"Du hast nur deine Laute im Kopf, Sigurd."

"Ich bin genauso Ragnars Sohn, wie du."

"Da bin ich mir nicht so gewiss, soweit ich weiß hat Ragnar nie an einer Laute Herumgezupft.", Ivar grinste gemein, "Und gewiss hat er anderen Leuten nicht seinen Arsch angeboten."
Ein Lachen ging durch die Reihen.
Ich setzte mich wieder. Ich konnte nichts ausrichten, denn nicht einmal Björn oder Ubbe mischten sich ein.
Ich sah kurz zu Ubbe, der neben mir saß und düster zu Ivar sah.

"Du bringst mich zum Lachen, so wie du es tust, wenn du wie ein kleines Kind herumkriechst."

Nun schlug Ivar laut auf den Tisch und begann zu brüllen, "Halt dein Maul."

"Das reicht jetzt.", endlich mischte sich Björn ein, ich atmete aus doch Ivar brüllte nun auch ihn an, "Das hat nichts mit dir zu tun."

"Was ist Ivar, hältst du das nicht aus?", Sigurd sah ihn provokant an.

Ich legte Ivar meine Hand auf den Arm, "Ivar, hör nicht auf ihn, du bist besser als er, das weißt du.", flüsterte ich leise.

Ivar sah mich nur kurz an und wendete sich wieder Sigurd zu.

"Halt jetzt deinen Mund, Sigurd!", schrie ich ihn an.
Er lachte kurz, "Halt dich da raus, kleine Schwester."

"Du hast schon schwer damit zu kämpfen, dass deine Mutter tot ist, sie war die Einzige, die dich je geliebt hat, Ivar.", als Sigurd den Satz aussprach sah er mich an.

"Ivar.", flüsterte Ubbe als Ivar nach seiner Axt griff, "IVAR!", wiederholte Ubbe sich schreiend, als Ivar ausholte.

Ich riss die Augen auf, das würde er niemals tun - oder?

Mein Bruder schleuderte die Axt nach Sigurd. Nach seinem eigenen Bruder, meinem Bruder, unserem Bruder.

Die Axt traf Sigurd in den Bauch und blieb dort stecken.
Sigurd sah Ivar entsetzt an, er hätte wohl niemals gedacht, dass Ivar dazu in der Lage wäre.
Er zog die Axt aus seinen Knochen heraus und sah Ubbe an.
Ubbe erhob sich langsam, auch Hvitserk regte sich.
Ich saß starr wie noch nie und starrte Sigurd an.
Er kam nun mit erhobener Axt wankend auf Ivar zu.
Wie aus dem nichts stand ich auf. Es fühlte sich an, als würde ich gelenkt werden. Ich stellte mich neben Ivar und hob meinen Arm, um Sigurd die Axt abzunehmen.
Bevor Sigurd richtig ausholen konnte sank er zu Boden und landete direkt vor mir.
Ubbe und Hvitserk kamen an geeilt und knieten sich neben Sigurd, "Sigurd, nein.", zischte Ubbe, der Sigurds Kopf hielt.

Ich stand nur regungslos da und starrte an den Ort, wo Sigurd eben noch saß.

Alle starrten Ivar an. Ich drehte langsam meinen Kopf zu ihm und tat es den anderen gleich.
Sein Gesicht sagte mir, dass dies niemals seine Absicht war.
Er hatte wieder einmal aus Zorn gehandelt und nicht mehr nachgedacht.

An diesem Abend flog die Axt, wie es der Seher vorhergesagt hatte, unser Bruder war tot.

Ich konnte Ivar nicht mehr in die Augen sehen.
Wenn er dies bei einem von uns macht, wird er vor keinem anderen zurückschrecken.

Ich redete kein Wort mehr mit Ivar, bis wir am nächsten Morgen unseren Bruder den Göttern übergaben.

Er lag dort, auf Fell, wie einst meine Mutter. In einem kleinen Boot, mit reichlich Geschenken. Ich legte seine Axt neben ihn, vielleicht würde er sie brauchen.
Ich stellte mich zurück neben Floki, der seinen Arm um mich legte.

Als alle Menschen langsam verschwunden waren, standen noch Björn, Hvitserk und Ubbe mit mir dort.
Ivar saß weiter Abseits.
"Verschwinde.", sagte Ubbe, ohne Ivar anzusehen. Ich hörte es rumpeln und Ivar kroch davon.

Selbst als Ubbe, Björn und Hvitserk verschwanden, blieb ich noch dort.
Ich setzte mich in den Rasen, "Bruder, du warst der Grund, warum ich mit dem Kämpfen begonnen habe. Ich wollte immer besser werden als du und dir eines Tages zeigen, was ich alles gelernt habe. Du hättest dich gewiss über mich lustig gemacht, doch du wärst stolz auf mich gewesen, das weiß ich, großer Bruder."

Er ist mein BruderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt