47. Prinz Oleg

265 15 0
                                    

Es verging eine halbe Ewigkeit, bis wir im Reich der Rus ankamen.
Die Stadt, in der Ivar zur Zeit lebte hieß Kiew.
Die Stadt war groß und schön, aber es war alles anders, als Zuhause.

Während Ivar, Hvitserk und ich, gefolgt von den Kriegern durch die Menge gingen und mir einiges komisch vor kam, musste ich meinen Bruder einfach fragen, "Sind es...Christen, Ivar?", abwertend sah ich durch die Menge.
"Ja, Christen, sie glauben an den Christengott.", komischerweise hörte ich keine Abscheu in seiner Stimme.

"Kommt mit, ich möchte euch jemanden vorstellen.", Ivar ging voran, in ein großes, Gebäude.
Hvitserk und ich sahen uns kurz an und folgten ihm wortlos.

"Prinz Oleg, das sind meine Geschwister, Hvitserk und Tjara."

Wir standen in einer Art Halle, sie reichte bis weit über unsere Köpfe und wurde nur spärlich mit Licht durchflutet.
In der Halle stand ein Thron, der nur über eine Treppe zu erreichen war, dort oben saß der sogenannte Prinz Oleg.

Ich musterte den Mann genau, er sah sehr freundlich aus.
Schnell stand er von seinem Stuhl auf, kam die Treppe herunter und ging auf uns zu.

"Mein Bruder ist gerade von den toten wieder auferstanden.", sagte Ivar lachend.

Stumm verbeugte ich mich vor dem Prinzen, der nun genau vor mir stand.

"Zwei weitere Kinder von Ragnar Lothbrok, willkommen."

Ein kurzes Lächeln huschte über meine Lippen, als ich bemerkte, dass er unsere Sprache beherrschte.

Es fühlte sich nicht richtig an, hier unter den Christen, doch Ivar wusste was er tat, er wusste es immer.

"Mein Bruder sagte mir, dass ihr unsere alte Heimat angreifen wollt.", sprach Hvitserk, fast schon, als wäre er wieder der Alte.

Der Prinz lachte kurz, "Es war mal meine Heimat, ich habe einen Anspruch drauf. Ich nehme an, dass ihr euch mit Freuden mir und König Ivar anschließen werdet?", er sah meinen Bruder an.
Verwirrt verzog ich das Gesicht, was war mit mir?

"Nun, wo sollte ich sonst hin gehen?", fragte Hvitserk lachend.

"Aber ihr dürft meine Schwester nicht vergessen, Prinz Oleg.", warf Ivar ein, "Sie ist, ebenfalls eine Kriegerin."

Der Prinz musterte mich von oben bis unten, unsicher sah ich zu Ivar.

"Nun, wenn dem so ist, werdet ihr natürlich auch kämpfen dürfen. Ihr wollt kämpfen, nehme ich an?", er sah mir direkt in die Augen.

"Und wie ich das will.", sagte ich entschlossen.

Der Prinz lächelte jedem von uns zu und ging vor uns Dreien auf und ab, "Euer Bruder Ivar hat viel von euch beiden erzählt. Doch besonders viel hat er von euch erzählt, Tjara.", erneut blieb er vor mir stehen, "Durch Rache zur Kriegerin geworden, richtig?"

Ich schielte kurz zu Ivar. Ich hätte es nun nicht Rache genannt.
Ich bin zur Kriegerin geworden, weil Sigurd mir nie etwas zugetraut hatte, es war wohl eher Entschlossenheit oder etwas dergleichen.

"Rache würde ich es nicht nennen. Ich wollte mich beweisen.", ich sah erneut kurz zu Ivar, "Auch wenn unser Bruder Sigurd schon lange nicht mehr an unserer Seite kämpft, bin ich ihm sehr dankbar, dass er mich mit seiner Art zu einer starken Kriegerin gemacht hat."

Zustimmend nickte Prinz Oleg. Er ging weiter und blieb vor Hvitserk stehen, "Und ihr habt euch gegen euren älteren Bruder entschieden, Ihr seid vom Schiff gesprungen."
Hvitserk sah leicht lächelnd zu Boden und nickte schließlich.
Er stieg zurück die Stufen hinauf und setzte sich auf seinen Thron.
"König Ivar hat Recht. Es ist euer Schicksal. Ihr drei, ihr gehört zusammen. Auch wenn das Schicksal euch oft trennte, seid ihr am Ende wieder vereint."

Wir verneigten uns und folgten Ivar aus der Halle.
Er schien sich in dem großen Gebäude bestens auszukennen und schlug den Weg zu seinem Saal ein.
Er war groß und sehr schön. Er hatte ein großes Bett, eine Art Sitzecke mit gepolsterten Bänken und einen langen Tisch zum Speisen.

Ich sah mich neugierig um und ließ mich schließlich lächelnd auf das große Bett fallen.
Plötzlich spürte ich einen Schmerz an meinem Bein. Ivar stand vor mir und schlug mit seinem Gehstock auf mein Bein, "Verschwinde da, ihr werdet auf dem Boden schlafen müssen.", sagte er ruhig.
Enttäuscht stand ich auf und setzte mich zu Hvitserk, der es sich in der Sitzecke gemütlich gemacht hatte.
"Sieh dich nur an, du solltest dich waschen.", zischte ich ihm zu.

Ivar kam zu uns herüber und stimmte mir zu und deutete zu einer Tür, "Olegs Dienerin werden dich begleiten."

Genervt stand Hvitserk auf und folgte der Dienerin.
Ivar sah Hvitserk kurz hinterher und setzte sich dann zu mir.
Er sah mir lange Zeit in die Augen. Schließlich begann er zu lächeln, legte seinen Arm grob um meinen Hals und drückte mich an sich, "Du hast mir sehr gefehlt, kleine Schwester.", flüsterte er.
Ich lächelte ihn kurz an, bevor ich wieder eine ernste Miene aufsetzte, "Die ersten Wochen ohne dich waren sehr schlimm. Es fühlte sich an, als hätten die Götter mich verlassen, weil ich nicht mehr an deiner Seite war, Bruder. Es fühlte sich an, als wenn sie gegen mich waren."

"Rede nicht so von den Göttern.", er stieß mich grob an.

Schweigend saßen wir nebeneinander, bis ich mich endlich traute auszusprechen, was ich schon lange wollte, "Wie schaffst du es hier unter diesen Christen, in solch merkwürdigen Hallen zu leben, Ivar?"

Mein Bruder lachte schon, "Das wirst du schon noch herausfinden."

Seufzend aß ich von den Früchten, die uns gebracht wurden, "Manchmal wünschte ich mir, dass wir alle noch vereint wären, so wie es früher einmal war."

"Du kannst unser Schicksal nicht verändern. Es wird alles so kommen, wie es kommen soll, vertraue mir, Tjara.", Ivar nahm sich ebenfalls etwas von den Früchten.

"Du bist bereit, gegen unser Volk in den Kampf zu ziehen?", fragte er mich, als wäre es ganz normal sein eigenes Volk angreifen zu wollen.

Nachdenklich kaute ich meine Früchte und sah schließlich zu Ivar, "Es ist schließlich nicht das erste Mal, Bruder.", flüsterte ich ihm zu.

Er ist mein BruderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt