71. Die Zeit vergeht

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Am Abend war es soweit. Ich musste meinem Volk über die Niederlage gegen König Alfred und über den Tod meiner Brüder berichten.

Ich saß im Hinterzimmer, als sich die Halle immer schneller mit den Bewohnern des Dorfes füllte.

"Es ist so weit, Königin Tjara.", sagte Kjell, der die ganze Zeit an meiner Seite saß und nicht von mir wich.
Ich atmete tief ein und trat selbstsicher durch die Vorhänge und die große Halle ein.
Ich setzte mich auf meinen Thron, dicht gefolgt von Kjell, der sich hinter mich stellte.
Schweigend sah ich durch die aufgeregt durcheinanderredende Menge. Einige schienen mich bemerkt zu haben und verstummten, andere redeten wild weiter.

Als schließlich Ruhe einkehrte, erhob ich mich. Ich wusste noch nicht genau was ich meinem Volk sagen wollte, drum sah ich grübelnd in die Menge.

"Bewohner von Kattegat, wie ihr seht sind wir aus England zurückgekehrt. Wir haben die Schlacht und viele Krieger verloren.", ich legte eine Pause ein und stieg die Treppen zur Halle hinunter, "König Ivar und mein Bruder Hvitserk starben.", ich schluckte, blieb am Ende der Halle, an der Tür, stehen und drehte mich um. Alle Augen waren auf mich gerichtet, "Mein Bruder Ivar fiel in der Schlacht, durch die Hand eines Christen. Doch mein anderer Bruder, Hvitserk, starb durch meine."

Ein tuscheln und Entsetzen ging durch die Halle.
"König Alfred bat uns an zu Christen zu werden. Hvitserks Entschluss stand fest. Er wollte zu dem werden, was unseren Bruder und unseren Herrscher getötet hat."

Die Bewohner redeten wieder wie wild durcheinander, bis Kjell hervortrat, "Ruhe!", schrie er.

Ich war inzwischen wieder an meinem Thron angelangt und setzte mich, "Ich möchte, dass ihr mein Volk wisst, dass ich meinen Bruder nicht umgebracht habe, um an den Thron Kattegats zu kommen. Ich versprach meinem Bruder Ivar vor langer Zeit, dass ich jeden umbringen werde, der sich gegen ihn stellen würde."

Einige Bewohner sahen mich entsetzt an, andere voller Respekt und Ehrfurcht.

"Heil dir Königin Tjara.", hörte ich eine Stimme aus den Reihen rufen. Es dauerte nicht lange, bis die ganze Halle mit einstimmte.

"Und nun lasst uns feiern!", rief ich von meinem Thron herab und schon wurde Essen und Trinken an die großen Tische, die überall in der Halle verteilt waren gebracht.

Als würde ich dem gewöhnlichen Volk angehören, setzte ich mich zwischen Bewohner des Dorfes und aß und trank mit ihnen. Ich erzählte Geschichten von der Überfahrt nach England, Geschichten aus der Schlacht und natürlich die Geschichte meines Bruders Ivar, denn er sollte seinen Willen bekommen. Er würde in unserem Volk niemals in Vergessenheit geraten.

Als ich schon ziemlich betrunken war, erhob ich mich von meinem Tisch, "Ich will, dass wir den Willen meines Bruders niemals vergessen! Ich will, dass wir zurück nach England kehren. Wir werden König Alfred töten und sein Königreich an uns reißen! Wir werden für Ehre, Ruhm und unseren Allvater kämpfen!", schrie ich und das Volk stimmte mit ein, die Becher wurden erhoben.

Die restliche Nacht feierte mein Volk, sie sangen, tanzten und tranken, bis sich in den frühen Morgenstunden meine Halle leerte.

Glücklich, dass mein Volk mich als neue Herrscherin akzeptierte, sah ich zu Kjell, der total erschöpft und betrunken am großen Feuer der Halle saß und lächelnd mit dem Kopf schüttelte.
"Das Volk liebt euch, sie nennen euch Tjara die Willensstarke."

Lachend sah ich ihn an, "Die Willensstarke?"

Er nickte, "Ihr seid das letzte Kind von Ragnar Lothbrok. Ihr wisst was ihr wollt, ihr geht mit ungeheuerlichem Ehrgeiz an eine Sache heran."

Ich stand von meinem Thron auf, ging zu ihm herüber und schubste ihn freundschaftlich, bevor ich mich zu ihm setzte, "Du siehst müde aus, Kjell, leg dich schlafen."

Mein Vertrauter erhob sich und verschwand in das Hinterzimmer.
Seufzend sah ich in das Feuer, "Was mache ich nur hier, Bruder? Wollten wir nicht zusammen Walhalla beteten?", flüsterte ich.

Die Zeit verging schnell und schon brach die kalte und dunkle Zeit an, es wurde Herbst.
Ich hatte meine Zeit als Königin von Kattegat gut genutzt, hatte mich an meine Aufgaben gewöhnt und meisterte es ziemlich gut.
Fast jeden Abend wurde in der großen Halle ein Fest ausgetragen, zu denen viele Dorfbewohner kamen. Kinder rannten um die Tische, an denen ihre Eltern saßen, sie spielten miteinander und lachten.
Die Bewohner des Dorfes wurden zu meiner neuen Familie und neben meinem Vertrauten Kjell, schloss ich Freundschaft mit Signe, die Tochter eines ehemaligen dänischen Herrschers, die nach langer Flucht Schutz in Kattegat suchte.
Sie brachte ihren Bruder Hildur und ihren jungen Sohn Jess mit.
Sie wurden zu den wichtigsten Menschen meines Daseins, ich vertraute ihnen und sie waren mir dankbar, dass ich sie in Kattegat willkommen hieß.

"Tjara!", lachend kam Jess in die große Halle gelaufen.
Ich hockte mich hin und nahm ihn auf den Arm.

"Warst du mit deinem Onkel fischen?", fragte ich ihn lachend.
Stolz nickte der kleine, als Hildur ebenfalls in die Halle trat und auf mich zu kam, "Zwei haben wir sogar erwischt, nicht wahr, kleiner Mann?", fragte Hildur seinen Neffen und strich ihm über die Wange.

Er setzte sich an den Tisch, nahm einen Becher zur Hand und kippte sich Bier in diesen.
"Ich weiß immer noch nicht, wie ich dir danken soll, dass du meine Schwester und mich hier aufgenommen hast.", er starrte vor sich hin, während er sein Bier trank.

Mit Jess auf dem Arm musterte ich ihn. Er war kein besonders schöner Mann. Seine Nase war platt, sein Gesicht glich einer Birne, doch er war Kräftig gebaut.

Langsam lies ich Jess auf den Boden, der lachend und kreischend in Richtung Ausgang lief.
Ich setzte mich zu Hildur und sah ihn ernst an, "Du wirst mit mir in die Schlacht gegen England ziehen. Wir können jeden guten Krieger gebrauchen."

Glücklich lächelte er und nickte mir dankend zu, "Das ist alles, was du verlangst?"

Ich griff nach einem Becher und füllte mir trinken hinein, "Nein. Ich verlange, dass ich mit dir an meiner Seite die Schlacht und die Herrschaft über König Alfreds Reich gewinne. Skål.", leicht lächelnd erhob ich mein Becher und er tat es mir gleich.

Er ist mein BruderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt