5. Der, der ich bin

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"Sie hat Mitleid mit dir.", Sigurd legte es wieder einmal drauf an, "Mehr nicht. Wir alle haben Mitleid mit dir. Selbst die ach so tolle Tjara."

Ich vermied Ivars Blick, denn es stimmte, ich hatte irgendwie Mitleid.

"Aber manchmal wünschen wir uns, dass sie dich den Wölfen überlassen hätte.", Sigurd klang gleichgültig.

"Sigurd!", unsere Mutter sah ihn wütend an.

"Das reicht Sigurd!", drohend sah ich zu ihm, denn ich hasste es, wenn er so über Ivar redete.

Ivar stand auf. Er zog sich an den Stühlen entlang in Richtung Sigurd, der wie Ubbe ebenfalls aufstand.
"Willst du zu mir? Dann komm, Knochenloser."

Sigurd riss den Stuhl weg, an dem Ivar sich festhielt.

Nun stand auch ich auf und ging zu Ubbe hinüber, um das Schauspiel besser sehen zu können.
Die Sklavinnen verließen schnell den Raum.

Sigurd zog erneut den Stuhl weg und Ivar viel zu Boden.
Nun stand auch unsere Mutter auf und eilte zu Ivar.

Sigurd verließ schnell die Halle und Ivar kroch ihm schreiend vor Wut hinterher.

Ich sah kurz zu Ubbe, der wohl auch nicht zu wissen schien, ob er etwas sagen sollte.
So wütend habe ich Ivar schon lange nicht mehr gesehen.
Er setzte sich mit dem Rücken zu uns auf den Boden.

"Bring mir mein Bier.", schrie er wutgeladen.
Schnell schnappte ich mir sein Bier und brachte es zu ihm herüber. Vielleicht beruhigte es ihn ein wenig.
Unsere Mutter kniete neben ihm und strich ihm behutsam über das Haar.

Ich verschwand aus der Halle und setzte mich vor die Tür. Ich lehnte meinen Kopf gegen einen Pfosten und beobachtete die Menschen.

Einige Zeit später kamen Hvitserk und Ubbe heraus. Hvitserk hockte sich kurz neben mich. "Kommst du mit uns oder bleibst du?"

Ich schüttelte mit dem Kopf, "Geht nur, ich bleibe."

Ubbe legte mir kurz eine Hand auf den Kopf und folgte seinem jüngeren Bruder.

Wie aus dem nichts tauchte anschließend mein Vater vor mir auf und sah mich an. Er legte mir wieder eine Hand auf die Wange und zwang sich ein Lächeln auf.
Ich sah ihn unsicher an, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Er setzte sich neben mich, "Es tut mir leid, Tjara."

Ich sah ihn überrascht an, "Was tut dir leid?"

"Mein Verschwinden. Ein Vater sollte seine Kinder nicht zurücklassen. Ich hätte da sein müssen. Für dich und deine Brüder."

"Ivar sagte, dass du deine Gründe gehabt haben wirst. Er wird Recht haben. Ich habe keinen Groll auf dich. Ich erinnere mich ja kaum noch daran wie es war, als du noch da warst."

Wir schwiegen uns eine Zeit lang an und sahen in die Ferne, bis Ivar unsere Stille unterbrach.
Er kam angekrochen und setzte sich neben mich. Lächelnd musterte er unseren Vater.

"Also, Vater.", begann er, "Tjara und ich werden dich begleiten."

Entsetzt sah ich ihn an, "Ivar!"

Mein Bruder tat so, als wäre er verwirrt, "Ich dachte das wäre abgesprochen? Du und ich mit unserem Vater auf See, Tjara.", wieder einmal hatte Ivar großen Einfluss auf mich und brachte mich mit seinen Worten zum Schweigen.

Ragnar sah kurz auf Ivars verkrüppelte Beine und strich sich über den Kopf, "Du, Ivar, willst mich nach England begleiten?", er wischte sich mit der Hand über den Mund, während er nachdenklich durch die Gegend sah.
"Nun gut, ich werde dich mitnehmen. Ich werde euch beide mitnehmen."

Ich schluckte. Liebend gerne würde ich mit meinem großen Bruder und meinem Vater in See stechen, doch ich hatte keine Erfahrungen im Kampf und meine Brüder erlaubten mir nicht mitzusegeln.

"Ich muss dein Angebot leider ausschlagen, Vater.", ich versuchte selbstsicher zu wirken, doch ich spürte Ivars Blick auf mir und sah zu Boden.

"Du kannst es nicht ausschlagen. Wir werden über das Meer segeln und eine andere Welt kennenlernen. Du wolltest doch Die Welt kennenlernen oder Tjara?", nun klang er vorwurfsvoll. Ich versuchte ihm in die Augen zu sehen, doch sein Blick ließ mich kurz erstarren und wieder zu Boden sehen.
Ivar konnte alleine schon mit diesem Gesichtsausdruck seine Mitmenschen beeinflussen.
"Na, na, Ivar.", begann unser Vater. "Du wirst sie gewiss nicht zwingen wollen."

Ich sprang von meinem Sitzplatz herunter, drehte mich noch einmal zu meinem Vater um und sah ihn entschuldigend an.

Ich verließ das Dorf und setzte mich an den Fluss, der durch den angrenzenden Wald floss.
Die Stille des Waldes ließ mich wieder klare Gedanken fassen. Das Plätschern des Flusses ließ mich entspannen und das Vogelgezwitscher stimmte mich glücklich.
Doch schnell war ich wieder in Gedanken bei meinem Vater und meinen Brüdern.
Wenn ich Vater nicht mit nach England begleite, wird Ivar mir das wohl niemals verzeihen. Aber andererseits hat Ubbe Recht, Mutter würde es nicht erlauben und er selbst wollte mich auch nicht gehen lassen.

Es war inzwischen Abend geworden und ich schlenderte außerhalb des Dorfes am Strand entlang. Langsam ging ich auf einen Felsen zu, lehnte mich gegen ihn und sah auf das Meer hinaus.

"Tjara Lothbrok, erinnerst du dich noch?", hinter mir erklang eine erfreute Stimme.
Ich drehte mich um und erblickte Nels.
Stumm nickte ich und musterte ihn. Ob es Zufall war, dass er mir immer an den ruhigsten Orten begegnete?
"Ich habe gehört dein Vater möchte wieder einmal nach England segeln und sucht Männer, die mit ihm kommen. Ich überlege mich ihm anzuschließen."

"Was hält dich davon ab? Kannst du nicht kämpfen?", ich grinste kurz.
Er kam näher und setzte sich neben mich in den Sand.
"Das ist nicht das Problem. Dein Bruder Ivar ist es. Er hat mir und meiner Familie vor vielen Jahren sehr viel Leid zugefügt."
Ich verstand nicht und hakte nach, bis er mir erzählte, dass Ivar seinen älteren Bruder umgebracht hat. Sie waren zu der Zeit zwar noch Kinder, aber er fürchtete sich seitdem vor meinem Bruder und wusste nicht, was passieren würde, wenn Ivar erfahren würde, wer er ist.
"Er ist einfach ein Monster.", beendete Nels seinen Satz.
Mein Entsetzen schlug schlagartig auf Wut um.
"Mein Bruder ist kein Monster. Er ist ein Krüppel, er ist von den Göttern auserwählt worden um großartiges zu erreichen. Er ist etwas Besonderes.", ich setzte mich Nels gegenüber in den Sand und sah ihn auffordernd an.
"Ich wollte dich keines Falls verärgern.", er sah mich mit einem flehenden Blick an.

Es war bereits schon späte Nacht und ich kehrte mit dem Bauernjungen zurück ins Dorf.
Er begleitete mich, wie bei unserer ersten Begegnung bis vor die Tür und verschwand dann in die Nacht.

Leise öffnete ich die Türen der Halle, um niemanden aufzuwecken. Die Feuerstelle spendete dem Raum noch etwas Licht.
Ich schlich durch die große Halle.
Was für ein Ärger es geben würde, wenn jemand bemerken würde, dass ich mich so spät noch außerhalb des Dorfes herumgetrieben habe.

"Ach, hast du den Weg Heim auch mal gefunden, Schwester?"

Er ist mein BruderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt