Auch wenn ich nicht mehr konnte, verdrängte ich das Zittern in meinen Beinen. Wir wechselten kein Wort miteinander, obwohl es ein recht weiter Weg zu ihrer Wohnung war. Eine gute Stunde dauerte es sicherlich, in der ich geistig mehr und mehr herunterfuhr. Irgendwann bekam ich kaum noch mit, wohin ich ging. Die Berührung unserer Hände war das Einzige, was mich in Bewegung hielt.
„Hey, pass auf..."
Beinahe stolperte ich über meine eigenen Füße, als wir die Treppen zur Eingangstür hochgehen wollten. Erschöpft stützte ich mich an der Seitenwand ab, ehe ich weiter lief.
Im kahlen, ungepflegten Treppenhaus musste Scarlett mich stützen. Es tat mir unendlich Leid, so eine Bürde zu sein, doch sie half mir wortlos und entschlossen.
Schließlich öffnete sie die Tür zur Wohnung. Dicke Luft schlug mir entgegen, es roch nach altem Essen und Staub. Sie hat alles verkommen lassen, bemerkte ich im Stillen. Als würde der Carrier meine Gedanken lesen, presste Scarlett besorgt ihre Lippen aufeinander, ehe sie zögerlich sagte: „Tut mir leid. Irgendwie habe ich in letzter Zeit nichts mehr geschafft."
Ihrem Blick ausweichend, erwiderte ich: „Ist okay. Mach dir keinen Kopf."
Kurzes Schweigen. Dann schloss sie schluckend die Tür hinter uns ab, um mich wieder an der Hand zu nehmen. „Kommst du mit, ins Bad?"
Wortlos gab ich ihrem sanften Ziehen nach. Durch den grauen, engen Flur, an dessen Rändern sich der Schmutz sammelte.
Das kleine Bad weckte Erinnerungen von damals. Doch verglichen, wirkte es nun trostlos, dunkel und vernachlässigt. Die Badewanne war eingestaubt, in der Ecke, unter dem Waschbecken, lauter Haare. Ihre ganzen Sachen lagen verstreut auf den weißen Schränken herum, zwischen den Scherben der blauen Deko-Muscheln.
„Warte hier, ich hole dir was zum Anziehen."
Als würde sie es plötzlich bereuen, mich mit hierhergenommen zu haben, warf Scarlett mir einen letzten, verzweifelten Blick zu, bevor sie ging.
Still betrachtete ich mich im fleckigen, rissigen Spiegel. Meine rabenschwarzen Haare hingen nass und wirr in mein emotionsloses Gesicht, über den glanzlosen, azurblauen Augen. Plötzlich fühlte ich mich unbehaglich in den schmutzigen, klebrigen Klamotten. Also begann ich, mir den Pullover über den Kopf zu streifen. Unsicher, wohin ich ihn legen sollte, hängte ich ihn einfach über den Rand der Badewanne, als Scarlett zurückkehrte. Mit Blick zu mir, erstarrte sie jedoch. Scham huschte über ihre Wangen, während Angst in ihren Augen aufflackerte. „Hier. Ich habe noch ein paar saubere Klamotten und Handtücher."
Allerdings packte da auch mich die Verlegenheit. Als ich eine Hand danach ausstreckte, zog sich der Knoten in meinem Bauch schmerzhaft zusammen. „Danke."
Sie überreichte mir ein dunkelblaues Shirt, ein paar graue Socken und eine schwarze Jogginghose. Dann öffnete sie einen der Schränke. Tatsächlich befanden sich dort noch ordentlich gestapelte Handtücher. Ob sie die nicht mehr benutzt hat? Schweigend legte ich die restliche Kleidung ebenfalls auf den Rand der Wanne, um mich abzutrocknen und in die neuen Klamotten zu schlüpfen.
„Hast du Hunger?", fragte sie schließlich unbeholfen, mit gesenktem Kopf. Kopfschüttelnd verneinte ich. „Aber trotzdem danke. Eigentlich möchte ich einfach nur schlafen."
Nickend bedeutete sie mir, ihr zu folgen. Wohin? Die Tür, zu meinem alten Zimmer, war verschlossen. Die Tür zu dem Zimmer, in dem Catherin sich erhängte. Und ich würde sie auch niemals wieder öffnen wollen.
Stattdessen führte Scarlett mich in ihr Schlafzimmer. Trotz des Bodens voller Kleidung, schien auch dieser Raum weniger mitgenommen zu sein. Sie hat hier nicht mehr geschlafen, stellte ich fest. Das große, dunkelholzige Bett stand an der Wand zu meiner linken, gegenüber des ebenso dunklen, breiten Kleiderschrankes, welcher um die Ecke herum reichte, bis kurz vor dem Fenster. Marineblaue Vorhänge schirmten uns von der Außenwelt ab.
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Azure ☆ Straying Bird
Fantasy(Beendet) Das Uranus-System. Zuhause, der Carrier und Hybriden, welche sich als Team zusammenschließen, um gemeinsam immer stärkere Gegner zu bezwingen. Diese faszinierende Welt der Kämpfe koexistiert mit einer harschen Realität, voll Einsamkeit und...