Zögerlich brach ein neuer Morgen über dem Land Alba herein, das man in vielen Jahren einmal Schottland nennen würde. Vier Pferde sprengten über die taufeuchten Wiesen. Drei der Reiter ritten Seite an Seite, der vierte hatte sich leicht zurückfallen lassen. Nebel wogte über den umliegenden Wäldern und vermengte sich mit dem perlgrauen Himmel.
Rowena Ravenclaw blickte misstrauisch über die Schulter und begegnete dem Blick ihres unverhofften Neuzugangs. "Warum habt Ihr Euch uns angeschlossen? Was versprecht Ihr Euch davon?", fragte sie.
Salazar Slytherins Miene war undeutbar. "Das fragt Ihr? Aber Ihr selbst habt die Vorteile einer magischen Schule doch umfassend dargestellt?"
War da ein lauernder Unterton in der Stimme des Schlangenlords? Godric war sich nicht sicher.
Helga sprang ihrer Freundin zur Seite. "Warum habt Ihr uns beleidigt und Godric zu einem Duell gefordert, wenn Ihr Euch uns anschließend wolltet?"
Nun zog der Schlangenlord eine Augenbraue hoch. "Ich dachte das wäre offensichtlich?"
Die beiden Frauen blickten den Zauberer fordernd an. Godric schwieg. Noch gut konnte er sich an das zufriedene Funkeln in den Augen des Zauberers erinnern, als er ihm das Schwert an die Kehle gelegt hatte. Slytherin hatte absichtlich verloren, um ihre Position zu stärken. Aber warum sich der Schlangenlord zu diesem Schritt entschieden hatte, entzog sich seiner Erkenntnis. Aufmerksam lauschte er auf das, was der Lord zu sagen hatte.
Seufzend gab Lord Slytherin nach. "Der Rat hat eure Kompetenz angezweifelt. Also habe ich euch so lange provoziert, bis mich Sir Gryffindor zu einem Duell herausgefordert hat. Ich habe einen Ruf als fähiger Duellant, also würde es für euch sprechen, wenn Sir Gryffindor seine Fähigkeiten demonstriert, indem er mich im Kampf besiegt."
"Wartet!", rief Helga. "Ihr ... habt Euch besiegen lassen?"
Godric und der Schlangenlord tauschten einen Blick. Slytherin lächelte. "Ich weiß nicht, wie ein wirkliches Duell zwischen uns aussehen würde. Sir Gryffindor ist ein sehr fähiger Gegner. Es ist durchaus möglich, dass er mich besiegen würde. Aber in diesem Kampf legte ich es nicht darauf an, zu gewinnen. Ich wollte möglichst dramatisch verlieren." Er lächelte. "Als Ihr von Eurem Windross gesprungen seid, Herr Ritter, wusste ich einfach, dass dies ein beeindruckender Zeitpunkt war, die Sache zu beenden."
„Ihr habt meinen Angriff kommen sehen und Euch nicht dagegen gewehrt", stimmte Godric ihm zu. „Ich hatte eine Vermutung, was Eure Ziele anbelangt, doch es ist interessant, es aus Eurem Mund zu hören."
Helga gab ihm einen spielerischen Stoß in die Seite. „Du wusstest davon? Warum hast du nichts gesagt?"
Godric blickte dem Schlangenlord in die Augen. „Ich war mir nicht sicher."
"Ihr habt uns geholfen", sagte Rowena langsam. "Ohne Euch wäre unser Vorhaben in der gestrigen Nacht gescheitert. Und doch frage ich mich, ob unsere Vorstellungen einer Schule sich miteinander decken."
Helga nickte. "Es war unheimlich freundlich von Euch, uns zu helfen Lord Slytherin. Aber wir sind entschlossen, auch Halbblüter und Kinder von Nichtmagiern aufzunehmen."
Rowena nickte der Freundin zu. "Die Kinder von Nichtmagiern und Halbblütern sind diejenigen, die daran gehindert werden, ihr magisches Potenzial zu entfalten. Einige entdecken es zu spät und werden eine ständige Bedrohung für alle, die mit ihnen leben. Und hier spreche ich noch nicht von der ständigen Gefahr für Leib und Leben, derer sie inmitten von Nichtmagiern ausgesetzt sind."
Helgas Augen verengten sich. "Außerdem könnt Ihr nicht verlangen, mehr Mitspracherecht in unserer Gruppe zu besitzen, als der Rest von uns, Lord Slytherin. Wenn Ihr mit uns zusammenarbeiten wollt, dann werden wir das auf gleicher Ebene tun. Ganz egal, was Ihr von unserer Herkunft denkt."
Der grüngewandete Zauberer zog beide Augenbrauen hoch. "Und wo ist das Problem?"
Verwirrt blickte ihn Helga an. "Aber ihr sagtet doch auf der Versammlung-"
Der Schlangenlord schnitt ihr das Wort ab. "Ich sagte das, was Euch nach meinem Wissen am ehesten zu einem Duell provozieren würde. Immerhin seid Ihr bekannt dafür, Nichtmagier und deren magische Kinder zu schützen. Sir Gryffindor."
Die beiden Frauen schwiegen verblüfft. Nur Godric nickte langsam.
Helgas schöne, grüne Augen weiteten sich. "Ihr habt keine Vorbehalte gegen Nichtmagier?"
Der Lord der Schlangen neigte den Kopf vor ihr. "Ich bin der Überzeugung, Potenzial und Ressourcen zu nutzen, gleichgültig woher sie kommen, Lady Hufflepuff."
Rowena Ravenclaw schenkte ihm ein seltenes Lächeln. "Wenn dem so ist, freue ich mich auf die Zusammenarbeit, Lord Slytherin."
Er holte zu ihr auf, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. "Die Freude ist ganz meinerseits, verehrte Lady."
Godric gab sich Mühe, sich sein Misstrauen nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Es war offensichtlich, dass ihr Antrag auf die Gründung einer Schule ohne den undurchsichtigen Zauberer nicht angenommen worden wäre. Doch konnte er sich nicht vorstellen, dass Lord Slytherin altruistische Ziele verfolgte. Was bezweckter er mit seiner Hilfe? Godric hatte nicht vor, zuzulassen, dass ihr Traum einer Schule für junge Hexen und Zauberer von einem machtgierigen Zauberer für seine Zwecke missbraucht wurde.
Um niemanden zu wecken, schlich Neville leise aus dem Zimmer und machte sich auf dem Weg in die Große Halle. Merlin! Er hatte gar nicht gewusst, dass er so eine ausgeprägte Fantasie hatte. Aber er hatte die morgendliche Kälte gespürt und den Tau auf den Wiesen schimmern sehen, als wäre er tatsächlich dabei gewesen. Und die Gründer ... Neville konnte sich nicht erinnern, außerhalb seiner Schokofroschkarten ein Bildnis der berühmten Zauberer gesehen zu haben. Und doch hatte er mit einer Lebendigkeit von ihnen geträumt, die ihn nachdenklich werden ließ. In seiner Fantasie sahen die Gründer Hogwarts sogar ganz anders aus als die Bilder, die er aus seinen Schokofröschen gezogen hatte! Und noch immer sah er alles aus der Sicht von Gryffindor ... verlegen blickte Neville zu Boden. Von diesen Träumen sollte er wirklich keiner Menschenseele erzählen ...
„Ah, wenn das nicht unser Squib Longbottom ist."
Neville blickte auf und sah in Malfoys gehässiges Gesicht. Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Neville wusste nicht, was er dem blonden Slytherin getan hatte, aber seit ihrer ersten Begegnung überschüttete ihn der Junge mit Beleidigungen. Und er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Malfoy hatte Crabbe und Goyle bei sich. Und sie alle waren dreimal so gute Zauberer wie er.
„Und? Longbottom?", höhnte Malfoy. „Hast du mittlerweile schon einen Zauber zustande gebracht? Nein? Ich frage mich wirklich, wann sie dich endlich rausschmeißen. Sie würden uns allen einen Gefallen tun."
Neville schwieg. Hastig wollte er sich an den Slytherin vorbei drängen, aber Malfoy versperrte ihm den Weg.
„Nicht so hastig, Longbottom. Habe ich dich nicht in deiner Ehre gekränkt? Vielleicht möchtest du dich mit mir duellieren?" Er lachte gehässig. „Wenn du gewinnst, lasse ich dich für immer in Ruhe. Was meinst du?"
Durch Malfoys Worte wurde Neville an seine Träume erinnert. Er dachte daran, wie Salazar mit Godric gekämpft hatte. Er wünschte nur, dass das alles nicht seiner Fantasie entsprungen wäre. Und das er nur einen Funken der Magie der beiden Gründer in sich tragen würde. Zögernd zog er seinen Zauberstab. Doch noch ehe er auch nur einen Spruch von sich gegeben hatte, streckten ihn die Flüche der Slytherin nieder. Beinklammerflüche schossen aus verschiedenen Richtungen auf ihn zu und brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Hilflos fiel er zu Boden. Mühsam die Tränen unterdrückend, sah er, wie die Slytherin unter gehässigem Gelächter ihren Weg in die Große Halle fortsetzten. Ihn ließen sie einfach auf dem Boden liegen. Neville hoffte, dass ihn jemand finden würde, bevor die Frühstückszeit zu ende war. Oder wenigstens, bis der Unterricht begann. Und zugleich wollte er von niemanden gefunden werden. Er wollte nur hier liegen, im Boden versinken und nie mehr aufstehen.
Auf einmal war das Schloss von tödlicher Kälte erfüllt. Die Fackeln zuckten und drohten zu erlöschen. „Draco Malfoy", sagte eine gefährlich ruhige Stimme. Neville schauderte. So hatte bestimmt Du-weißt-schon-wer in seinen jungen Jahren geklungen. „So ein Verhalten ist einfach erbärmlich. Ich dachte, du hast alles und mehr durch deinen wunderbaren Vater? Oder ist das alles nur schöner Schein? Denn was sollte dich sonst dazu bringen, andere zu drangsalieren, damit du dich besser fühlst? Oder ist es sogar noch schlimmer? Hast du vielleicht sogar Spaß daran, andere grundlos herumzuschubsen? Dann frage ich mich wirklich, ob du zufrieden bist, wenn du morgens in den Spiegel blickst. Kannst du mit dem Menschen leben, den du siehst? Oder schaust du gar nicht hinein, sondern verschließt die Augen vor der Wirklichkeit?" Aus den Augenwinkeln sah Neville das Aufblitzen eines Fluchs.
Unter Mühen robbte Neville auf seiner Position am Boden etwas herum, sodass er besser sehen konnte, was um ihn herum geschah. Mit einem dumpfen Geräusch landete erst Malfoy, dann Crabbe und schließlich Goyle auf dem Boden, allesamt mit einem Beinklammerfluch außer Gefecht gesetzt. Neville beobachtete wie Harry die Slytherin im Gang an der Wand justierte, dort festhexte und schließlich einen Desillusionszauber über sie legte. Der schwarzhaarige Junge nickte zufrieden. „Ihr könnt euch darüber Gedanken machen, während ihr den Morgen in exakt der Position verbringt, die ihr Neville zugedacht habt."
Im nächsten Moment spürte Neville, wie sich sein eigener Fluch löste und er die Beine wieder bewegen konnte. Die Temperatur hatte sich normalisiert und die Fackeln brannten ruhig und gleichmäßig in ihren Halterungen. Harry streckte ihm die Hand hin und half ihm auf die Beine.
„Alles in Ordnung?", fragte sein Freund sanft.
Neville nickte verlegen. „Danke, Harry."
Wortlos und verschämt folgte er dem schwarzhaarigen Jungen in die Große Halle. Er musste zugeben, dass Harry kein schlechtes Vorbild für den Salazar Slytherin aus seinen Träumen war.
Eine aufgeregte Stimme riss Neville aus seinen Gedanken. Hermine war zu ihnen getreten. Die braunen Augen des Mädchens blitzten vor Wissensdurst. „Was hast du mit Malfoy angestellt, Harry? War das ein Desillusionierungszauber?"
Harry lächelte dem Mädchen zu. „Ja, das war es." Sein Lächeln vertiefte sich. „Schimpfst du mich jetzt aus, weil ich Malfoy und seine Freunde im Gang an die Wand geklebt habe?"
Hermine tat, als würde sie überlegen und schüttelte dann den Kopf. „Ich glaube nicht. Ein paar Stunden zum Nachdenken werden ihnen ganz gut tun."
Harry neigte den Kopf. „Ich danke dir, Hermine."
Hermines Wangen färbten sich rosa. Harry hatte einfach diese Wirkung auf Menschen. Gemeinsam liefen sie zu Tisch von Gryffindor und ließen sich daran nieder. Niemand sprach Harry darauf an, dass er am falschen Tisch saß. Aber sofort begannen die Schüler zu kichern und aufgeregte Blicke in seine Richtung zu werfen. Er war der Junge, der lebt. Vor allem Fred und George Weasley flüsterten miteinander, während sie Harry nicht aus den Augen ließen. Aber das konnte alles und nichts bedeuten. Glücklich lud Neville Eier und Speck auf seinen Teller und war mehr als dankbar, doch noch zu seinem Frühstück zu kommen. Hermine griff nach einem Brötchen und begann es zu schmieren, ohne Harry aus den Augen zu lassen. „Also ein Beinklammerfluch, dann hast du ihn an die Wand geklebt und ihn unsichtbar gemacht?" Hermine war sichtlich beeindruckt. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, sodass die braunen Locken flogen. „Ich kann gar nicht glauben, dass du mit uns in die erste Klasse gehst."
Das stimmte. Wo Hermine das sagte, war das wirklich beeindruckend für einen Erstklässler. Warum war Neville das bisher nicht aufgefallen? Naja, er hatte sich wohl in keiner guten Position zum Nachdenken befunden. Aber dennoch. Ein kleiner Teil von ihm weigerte sich, sich darüber zu wundern.
Weil sich manche Dinge einfach so gehörten.
XXX
Tracey Davis rückte ihre Brille zurecht und seufzte leise vor sich hin. Um sie her waren die Tische der Bibliothek mit Schülern besetzt. Nur sie saß ... allein. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich als Halbblut nach Slytherin einteilen zu lassen? Und doch hatte ihr der Sprechende Hut versichert, dass es alles gut werden würde. Dabei war nichts gut. Tracey war nicht der gesellige Typ. Sie brauchte nicht von morgens bis abends eine Gruppe von Freunden, mit denen sie rumhängen konnte. Aber hin und wieder jemanden zum Reden zu haben, wäre schon schön gewesen. Sie blies ihr kurzes, schwarzes Haar aus der Stirn und machte sich erneut an ihrem Aufsatz über Verwandlung zu schaffen. Warum war sie nicht nach Ravenclaw gekommen? Oder auf eine Muggelschule? An irgendeinen Ort, der ihr das Gefühl gab, dazuzugehören?
„Entschuldigung. Dürfen wir uns zu dir setzen?"
Überrascht blickte Tracey auf. Niemand setzte sich neben sie. Harry Potter und Millicent Bulstrode standen vor ihrem Tisch. Potter war es, der gesprochen hatte.
Beides Halbblüter wie sie selbst. Auch wenn Potter das berühmteste Halbblut war, das sie kannte. Und hing er nicht sonst immer mit den ganzen Reinblütern rum? Aber wenn man Harry Potter hieß, konnte man sich das wohl leisten.
Und dann war da Millicent. Millicent, die am lautesten schrie, wenn es darum ging, Muggelgeborenen auf den Wecker zu gehen. Als wenn dadurch irgendjemand ihre Herkunft vergessen würde. Vielleicht würde Pansy das breit gebaute Mädchen irgendwann unterhaltsam genug finden, um es als niederen Lakai in ihren Freundeskreis aufzunehmen. Darauf konnte Tracey verzichten. Sie würde sich nicht jemandem an den Hals schmeißen, der sie im Grunde verachtete, ganz egal, wie einsam sie sich auch fühlen mochte.
Vor allem zur Zeit waren Malfoy und Parkinson noch unerträglicher als sonst. Von Heute auf Morgen hatten fast alle Hauselfen der alten Familien ihren Dienst quittiert. „Wegen schlechter Behandlung", wie die Wesen selbst erklärten. Bisher hatte niemand gewusst, dass das überhaupt möglich war. Sie hatten keine Kleidung bekommen und das Amt für Neuzuteilungen war ratlos. Aber was sollte irgendjemand dagegen tun? Man konnte keinen Hauselfen fassen, der nicht gefangen werden wollte. Selbst Anti-Apparier-Zonen halfen nicht gegen diese Kreaturen. Die verschwundenen Hauselfen hatten ihren Dienst in Hogwarts aufgenommen. Albus Dumbledore schwor Stein und Bein, sie nicht angestellt zu haben. Aber vielleicht log er auch. Bei diesem Verteidiger der magischen Wesen wusste man nie, wo man dran war.
Sie lächelte in sich hinein. Es geschah Malfoy und Parkinson recht, dass sie jetzt händeringend nach einer Putzkraft Ausschau halten mussten. Wer konnte es schon sagen? Vielleicht mussten sie am Ende mit Muggeln Vorlieb nehmen? Ihr wäre nicht bekannt, dass sich eine Hexe oder ein Zauberer zu solcher Art von Arbeit in einer fremden Familie herabließ.
Nun, fast alle Reinblüter waren in Slytherin und ihre Laune war entsprechend übel. Gerade konnte Tracey getrost auf ihre Gesellschaft verzichten. Nicht, dass irgendjemand von denen sie hätte sehen wollen.
Potter blickte sie noch immer mit einem freundlichen Lächeln an. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie ihm noch keine Antwort gegeben hatte. Was hatte er gefragt? Genau, ob er und Bulstrode sich setzten durften. Merlin! Die beiden mussten sie für halb gescheit halten!
„Klar", sagte sie hastig und klaubte ihre Sachen zusammen, um für die beiden Platz zu schaffen.
Millicent ließ ich etwas unbeholfen auf einen Stuhl fallen und strich sich einige braune Strähnen hinter das Ohr, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Sie schien genauso wenig zu wissen, was hier ablief, wie sie selbst.
Potter war so souverän wie immer. Sie hatte keine Ahnung, wie er das machte. Vielleicht gehörte das einfach dazu, wenn man als der Junge der lebt geboren wurde.
„Habt ihr euren Aufsatz für Professor Binns schon fertig?", fragte er nun, die Augen so erwartungsvoll auf sie gerichtet, als würde ihn Traceys Antwort tatsächlich interessieren. Bei jedem anderen hätte sie gesagt, dass er abschreiben wollte. Bei Potter war sie sich da nicht so sicher. Der half im Gemeinschaftsraum den Fünftklässlern bei den Hausaufgaben! „Nicht wirklich", murmelte sie hastig. „Keine Ahnung, warum er so auf die Koboldaufstände besteht. Das ist doch Schnee von gestern."
Harry schmunzelte bei ihren Worten, doch seine Augen blieben ernst. „Es ist unsere Geschichte, Tracey. Sie zu verstehen, heißt zu begreifen, wie wir geworden sind, was wir heute sind."
„Wenn es um Zauberer gehen würde", mischte sich Millicent ein, "aber warum magische Wesen?"
„Weil ihre Geschichte auch unsere Geschichte ist."
Als beide Mädchen ihn verwirrt anschauten, fuhr Harry fort. „Einst lebten Hexen, Zauberer und magische Wesen gleichberechtigt Seite an Seite, wisst ihr? Die Kobolde gehörten zu den wenigen, die lange Zeit nicht resignierten, als die Zauberer nach der Vorherrschaft strebten und sich dagegen stellten. Deswegen kam es zu Kriegen und Aufständen. Deswegen hatte Voldemort es so leicht, die Riesen und Werwölfe auf seine Seite zu bringen. Eine Gesellschaft, die ihnen keinerlei Rechte zugesteht, kann ihnen einfach nichts bieten. Ich denke, Professor Binns geht es darum, das herauszustellen. Deswegen ist er so fokussiert auf das Thema. Nur leider ist seine Vortragsweise nicht gerade ... mitreißend. " Er trat an die Wand und legte eine Hand dagegen. „Hogwarts ist nicht nur durch die Magie der Gründer entstanden, wisst ihr? Viele der Schutzzauber stammten von Kobolden. Die Zentauren sagten den rechten Zeitpunkt für den Bau voraus. Die Meermenschen willigten ein, sich hier anzusiedeln und den Zugang zur Anderswelt zu schützen, der für die Hauselfen geöffnet wurde und der dieses Schloss mit Magie speist." Er blickte den beiden Mädchen in die Augen. „Je größer und vielfältiger die Ressourcen und die Zahl der Verbündeten, desto größere Wunder können geschaffen werden. Aber wenn wir uns dieser Vielfältigkeit verweigern, geht mehr verloren, als wir ahnen können."
„Woher willst du das wissen?", fragte Millicent anklagend.
Ein abwesender Ausdruck trat in Potters grüne Augen. „Glaubt mir, ich habe es gesehen ..."
Tracey rollte mit den Augen. „Binde jemand anderem einen Besen auf, Harry."
Der Angesprochene schwieg. Doch um seine Mundwinkel spielte ein undeutbares Lächeln.
„Das kann gar nicht sein, dass das so gewesen ist", begehrte Millicent auf. „Zauberer und magische Wesen ... die magische Welt hat doch schon mit Halbblütern ein Problem! Von Muggelgeborenen müssen wir gar nicht erst anfangen."
„Auch das war nicht immer so", erwiderte Harry mit einer Gewissheit, die Tracey verwirrte. „Erst als die Hexenverbrennungen vor etwa tausend Jahren begannen, und die Feindschaft zwischen Muggeln und Hexen und Zauberern wuchs, kamen solche Gedanken auf. Vorher war Magie ein Geschenk des Lebens. Es spielte keine Rolle, ob die Familie aus der man stammte, dieses Geschenk schon lange inne hatte, oder es frisch auftrat. Das Geschenk war immer dasselbe."
Beide Mädchen schwiegen beeindruckt. „Das heißt, wären wir früher geboren worden, wäre unsere Herkunft kein Problem gewesen?",, fragte Tracey. „Dann wären wir jetzt nicht weniger wert?"
Grüne Augen blickten nachdrücklich in die ihren. „Haltet euch nie für von geringerem Wert als die anderen. Dasselbe, was damals galt, gilt noch immer. Das Geschenk ist immer dasselbe. Die Entscheidung, was ihr daraus macht, bestimmt wer ihr seid. Nicht, mit welchem Blutstatus ihr geboren werdet."
„Wie kommst du eigentlich nach Slytherin?", wollte Millicent wissen.
In Harrys Augen trat ein entschlossener Ausdruck. „Slytherin ist weit von dem entfernt, was es sein sollte. Aber ich versichere euch, das wird sich ändern." Er erhob sich mit einer leichten Verbeugung. „Die Damen."
„Potter?" Tracey konnte nicht anders. Sie musste fragen.
Er drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
„Woher weißt du das alles? Im Gemeinschaftsraum? Und jetzt das hier ..." Nervös rückte sie ihre Brille zurecht. „Ich meine, du bist doch bei Muggeln aufgewachsen ... zumindest sagen das alle."
Ein Blick aus aufmerksamen, grünen Augen lag auf ihrem Gesicht. „Ja, ich bin bei Muggeln aufgewachsen, Tracy." Er schmunzelte. „Aber wer sagt, dass das die ganze Wahrheit ist?"
Tracey und Millicent blickten ihm nach, während er die Bibliothek leichten Schrittes verließ.
„Hat er uns gerade dazu aufgefordert, sein Geheimnis herauszufinden?", fragte Tracy ungläubig.
Unschlüssig hob Millicent die Schultern. „Vielleicht macht er sich nur wichtig?" Es klang nicht besonders überzeugt.
Tracey schüttelte nachdenklich den Kopf. „Er ist Harry Potter. Er hat keinen Grund, sich wichtig zu machen. Er ist wichtig!"
„Als er gesagt hat, er hätte es gesehen ...", überlegte Millicent laut, „ob er meinte, dass er sich Bilder angeschaut hat?"
Irgendwie bezweifelte Tracey das. Aber sie schwieg, weil sie keine bessere Idee hatte.
Innerlich freute sie sich, dass Millicent neben ihr sitzen blieb.
Und nicht nur an diesem Tag in der Bibliothek.
XXX
Am Ende dieser Woche rief Albus Dumbledore die Lehrer zu einer Besprechung zusammen. Er begann mit den üblichen Fragen: Gab es Materialien oder Vorräte, die noch zu beschaffen waren? Welchen Eindruck machten die neuen Schüler? Gab es irgendwelche Schwierigkeiten? Als diese Punkte erschöpfend diskutiert worden waren, gelangte Dumbledore zu einer Frage, die ihn gerade ganz besonders beschäftigte. Er blickte gewinnend in die Runde und verbarg seine Sorge hinter einem Funkeln seiner Augen. „Nun interessiert mich aber doch, wie sich unser junger Harry in seiner ersten Woche macht."
Professor Sprout strahlte ihn an. „Oh, er ist so ein lieber Junge! Er hilft jedem weiter, der in Kräuterkunde etwas unsicher ist. Er hatte eine Engelsgeduld und ein wahres Talent für Pflanzen. Aber er könnte sich mehr beteiligen. Stets tritt er hinter anderen zurück."
Flitwick pflichtete ihr bei. „An dem Jungen ist ein Lehrer verloren gegangen. Für jemanden in der ersten Klasse weiß er wirklich viel. Ich dachte erst, er würde in den hinteren Reihen ein Schwätzchen halten, dann ist mir aber aufgefallen, dass er den Stoff den Kindern um ihm herum noch einmal erklärte."
McGonagall presste die Lippen aufeinander. „Wir wissen alle, dass er der Junge der lebt ist. Das sollte unser Urteil aber nicht trüben, wenn es um seine schulischen Leistungen geht. Seine Zauberstabhaltung ist schlecht, ständig versprüht sein Zauberstab Funken, was für eine mangelnde Kontrolle spricht, und in meiner ersten Unterrichtstunde kam er zu spät." Entschlossen blickte sie erst ihre Kollegen, dann ihren Vorgesetzten an. „Auch wenn es schwer fällt, wir sollten nicht zu weich mit dem Jungen umgehen."
Flitwick blickte betreten. „Die Funken habe ich auch gesehen und ja, seine Haltung ist eher nachlässig, aber es war seine erste Woche, Minerva."
„Trotzdem sollten wir ihn nicht anders behandeln, als jedes andere Kind auch", sagte die Hauslehrerin von Gryffindor. Noch immer war ihr Mund eine harte Linie, doch in ihren Augen lag ein sanfter Ausdruck. „Lily und James hätten es so gewollt."
Dumbledore nickt ernst. „Gewiss Minerva. Ich bin ganz deiner Meinung." Dann wandte er sich Snape zu und blickte den Lehrer aufmerksam an. „Was ist deine Meinung, Severus?"
Der Angesprochene legte die Fingerspitzen aneinander. „Ich kann nicht verhehlen, dass der Junge ein gewisses Talent für die Braukunst besitzt", gab er langsam zu und suchte dabei den Blick des Schulleiters. „Allerdings ist er auch unverschämt, arrogant und er stört mit seinem Gerede den Unterricht." Langsam ließ er seinen Blick über die versammelten Lehrer gleiten. „Dabei ist sein Wissen beachtlich. Zu beachtlich für einen Jungen seines Alters."
„Was möchten Sie damit sagen, Severus?", hakte McGonagall nach.
Als Snape schwieg, ergriff Dumbledore das Wort und blickte aufmerksam von einem zum anderen. „Ist jemanden von euch etwas Ungewöhnliches an unserem Harry aufgefallen?"
Sprout und Flitwick schauten sich an, schüttelten dann jedoch beide den Kopf. Professor Sprout hob die Schultern. „Er besitzt eine hohe Auffassungsgabe. Aber er hat nichts erklärt, was über den Horizont eines Erstklässlers hinausgehen würde."
„Seine Sprache ist sehr elegant für sein Alter", ergänzte Flitwick. „Der Junge muss in seiner Kindheit viel gelesen haben. Aber er meldet sich wenig und lässt die anderen reden. Deswegen ist es nicht leicht, das zu beurteilen."
Minerva McGonagall blickte ihren Vorgesetzten an. „Gibt es Anlass zur Sorge, Albus?"
„Nicht mit Sicherheit", gab der Schulleiter seufzend zu. „Severus hat nur einige Vermutungen, denen ich nachgehen möchte. Ich denke, es wäre das beste, wenn Madame Pomfrey nach dem Jungen schauen würde. Seine Gesundheit zu überprüfen, wird sicherlich nicht schaden." Er blickte dem Hauslehrer von Slytherin an. „Meinst du, du kannst du das einrichten, Severus?"
Der Tränkemeister nickte knapp.
XXX
Als sich an diesem Abend unverhofft die Mauer zum Gemeinschaftsraum der Slytherin öffnete und Severus Snape herein rauschte, freute sich Salazar insgeheim auf ein weiteres Wortgefecht mit dem Tränkemeister. Der jetzige Vorstand seines Hauses war eine faszinierende Persönlichkeit, deren Beweggründe der Hogwartsgründer nur allzu gern besser verstehen lernen wollte. Es wunderte ihn wenig, als Severus Snapes dunkle Augen suchend durch den Raum striffen und schließlich auf ihm verharrten. Nun, er hatte dem Tränkemeister auch viel zu denken aufgegeben. Fragend hob er eine Augenbraue. „Was kann ich für Sie tun, Professor?"
„Sie werden mich zur Schulkrankenschwester begleiten", schnarrte Snape und wirbelte auf dem Absatz herum.
Für einen Moment spielte Salazar mit dem Gedanken, einfach sitzen zu bleiben und Snapes Reaktion abzuwarten. Doch er entschied sich dagegen, verabschiedete sich stattdessen entspannt von den versammelten Slytherin, um dem Tränkemeister zu folgen.
„Sie sorgen sich um meinen Gesundheitszustand?", fragte er den Tränkemeister und erntete als Antwort einen eisigen Blick.
„Ich werde Ihnen Ihr Geheimnis entreißen, Potter", zischte der Tränkemeister.
Salazars Augen blitzten. Er schätzte es, wenn seine Schüler sich ambitioniert einer Herausforderung stellten. Er neigte den Kopf in einer Geste der Anerkennung. „Das gebe ich allzu gerne zurück, Professor. Auch Sie verstehen es, meine Neugier zu wecken."
Schwarze Augen bohrten sich in die seinen „Ich versichere Ihnen, Mr. Potter, ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, was sie mit diesem obskuren Satz anzudeuten gedenken."
Salazar warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Gewiss, Professor."
Ohne ein weiteres Wort bugsierte Snape Salazar in den Krankenflügel.
Madame Pomfrey, die Krankenschwester, schien ihn bereits zu erwarten, denn sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Mr. Potter, nicht wahr? Setzten sich sich hier auf das Bett. Ich werde ein paar Diagnosezauber über Sie sprechen. Es tut nicht weh, keine Sorge."
Gehorsam ließ sich Salazar nieder und beobachtete neugierig, wie die Medi-Hexe komplizierte Muster mit ihrem Zauberstab in die Luft webte.
Snape verharrte an der Tür und ließ ihn nicht aus den Augen. Salazar erwiderte seinen Blick und lächelte, worauf hin sich der Ausdruck in Snapes Gesicht, falls möglich, noch weiter verdunkelte.
Schließlich trat Pomfrey zurück und lächelte beruhigend. „Es ist alles in Ordnung, Mr. Potter. Keine Krankheiten, keine auffallenden Nährstoffmängel. Alles was ich sehen kann, ist ein gewisser Schlafmangel. Ich weiß, die erste Zeit in Hogwarts ist aufregend, aber Sie sollten früher ins Bett gehen."
„Ja, mam", erwiderte Salazar brav und lächelte in sich hinein.
„Was ist mit seiner Magie?", fragte Snape.
„Dazu wollte ich gleich kommen", erwiderte Pomfrey und wieder vergingen einige Minuten, in denen ihr Zauberstab durch die Luft wirbelte. Diesmal jedoch weiteten sich ihre Augen erstaunt. „Ihr magisches Fassungsvermögen ist beeindruckend, Mr. Potter. So etwas würde ich bei einem Schüler in der Mitte seiner Laufbahn in Hogwarts erwarten, aber nicht in der ersten Klasse." Sie warf Snape einen verwirrten Blick zu. „Wie ist das möglich?"
„Das versuchen wir herauszufinden", entgegnete der Tränkemeister kalt und fixierte Salazar mit Blicken.
Die Medi-Hexe schüttelte ratlos den Kopf. „Und das ist nicht alles. Die Struktur der Magie ist nicht chaotisch, wie es bei einem Erstklässler sonst der Fall ist, sondern streng geordnet und durchkomponiert, so als wenn dem Verwender jede Unze davon bewusst wäre und zur Verfügung stände." Sie fuhr mit einer Hand durch ihr krauses Haar. „Das ist selbst bei erwachsenen Zauberern höchst selten."
Salazar warf der Medi-Hexe einen anerkennenden Blick zu. Das war eine gute Zusammenfassung seiner Fähigkeiten. Er hatte deutlich früher angefangen seine Magie zu trainieren und so war er seinen Mitschülern gegenüber im Vorteil. Davon abgesehen war sein magisches Fassungsvermögen auch in seinem letzten Leben schon ungewöhnlich groß gewesen. Das änderte jedoch nichts daran, dass es erneut mit seinem Körper wachsen musste und er gerade über einen Bruchteil der Macht aus einem letzten Leben verfügte. Aber er hatte gelernt , die Magie, die ihm zur Verfügung stand, effektiv zu nutzen und nicht mehr in einen Zauber zu legen, als unbedingt nötig war. Er legte eine Hand an sein Kinn und horchte gespannt darauf, mit welchen Theorien Pomfrey und Snape sein ungewöhnliches magisches Fassungsvermögen erklären würden.
„Sind Sie sicher, dass Sie die Magie des Jungen gesehen haben?", fragte Snape. „Eine magische Besessenheit ist auszuschließen?"
Pomfrey nickte entschlossen. „Das kann ich Ihnen versichern, Severus. An der Magie des Jungen sind keine Fremdeinflüsse spürbar. Es ist ganz seine eigene."
Salazar lächelte unschuldig. „Ich habe schon früh mit Übungen begonnen. Ich habe versucht, Magie in der Umgebung zu spüren. Vielleicht hat das geholfen?"
Die Schulkrankenschwester blies sich eine Strähne aus der Stirn. „Ich kann es nicht sagen. So etwas habe ich noch nie gesehen."
„Das heißt, es ist nichts feststellbar, außer ein ungewöhnliches magisches Muster?", fasste Snape schlecht gelaunt zusammen.
Pomfrey nickte entschlossen. „Da bin ich mir sicher, Severus." Sie rollte mit den Augen. „Würden Sie bitte damit aufhören, meine Ergebnisse in Frage zu stellen?"
Der Tränkemeister schnaubte.
Salazar erhob sich von dem Bett, auf dem er gelegen hatte. „Das heißt, ich kann zurück in den Gemeinschaftsraum?", fragte er.
Pomfrey nickte ihm zu. „Natürlich, mein Lieber."
Snape presste die Lippen zusammen, erwiderte allerdings nichts.
Salazar neigte vor beiden respektvoll den Kopf und verließ den Krankenflügel. Auf dem Weg zurück schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Er war wirklich gespannt, was Severus Snape aus diesen Erkenntnissen schlussfolgern würde.
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Harry Potter und die Rückkehr des Schlangenlords
FanfictionABGESCHLOSSEN In dem Moment, als der Todesfluch die Stirn von Harry Potter traf und eine Narbe in die Stirn des Kleinkindes ritzte, geschah noch etwas anderes. In jenem Moment, als die Grenze zwischen Leben und Tod verwischte und die Zeit keinen Nam...