Ein gefrorener Fluss

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Die Zeit im Ligusterweg verstrich ohne nennenswerte Ereignisse. Die Dursleys achteten darauf, dass alles einer vollkommen geregelten Ordnung folgte. Salazar bemühte sich nach wie vor um ein gutes Verhältnis zu seinen Verwandten. Wenn schon nicht mehr, so machte es das Leben für sie alle einfacher. Im Geheimen trainierte er seine Magie. Auch wenn er noch meilenweit von seiner einstigen Kraft und Fertigkeit entfernt war, so lag die Zeit, in der er unter Mühen ein Licht entflammt hatte, doch weit hinter ihm zurück.

Und noch etwas anderes war geschehen. Die Erinnerungen, die er einstmals nur schwerlich zu greifen vermochte, waren wieder ein Teil von ihm geworden. Sein kindlicher Verstand hatte sich an die Erinnerungen seines früheren Lebens gewöhnt, war in sie hineingewachsen und hatte die letzten Grenzen zwischen seinem alten und neuem Leben geschlossen.
Harry Potter und Salazar Slytherin waren schon immer verschiedene Namen für dieselbe Seele gewesen. Aber nun stand ihm sämtliche Erfahrung seines bisherigen Lebens zur Verfügung.

Salazar war zehn Jahre alt, als er beschloss, dass es Zeit war, die Dursleys an Magie in ihrem Leben zu gewöhnen. Und so sehr seine Verwandten Zauberer auch hassen mochten, es gab einen Weg, sie ihre Vorurteile vergessen zu lassen.

Und dieser Weg führte über Dudley.

Die beiden Jungen hatten in Dudleys Zimmer über ihren Hausaufgaben gesessen. Lange Zeit war nichts zu hören gewesen, außer dem Kratzen von Stift auf Papier. In den letzten Jahren war Dudley, wenn er sich unbeobachtet fühlte, zu einer angenehmen Gesellschaft geworden. Kaum noch etwas erinnerte an den Vierjährigen, der Harry mit einer Schlange hatte ängstigen wollen. Salazar bemerkte immer mehr, dass er die Zeit mit seinem Cousin genoss.
Schließlich schob Dudley mit einem erleichterten Seufzen sein Schreibheft von sich. „Endlich! Fertig!" Er streckte sich und gähnte ausgiebig. Dann blickte er zu Salazar hinüber. „Schaust du drüber?"
Lächelnd nahm Salazar Dudleys Heft entgegen und blickte über die unordentliche Schrift des Jungen. Dudley drückte sich noch immer ein wenig ungeschickt aus, aber er hatte den Sinn der Textaufgabe richtig erfasst und wiedergegeben.
Salazar nickte ihm zu. „Das hast du sehr gut gemacht, Dudley."
Dudley hatte sich daran gewöhnt, dass ihm Salazars Anerkennung nicht grundlos zufiel und sein Lob immer etwas bedeutete. Stolz packte der Junge sein Heft in seine Tasche.
„Das heißt, jetzt können wir spielen? Vielleicht gewinnen wir gegen die Armee der tausend Dämonen im Multiplayer-Modus!"
Salazar schmunzelte. Playstation-Spiele gehörten zu den Dingen, die er sich in seinem früheren Leben nie hätte erträumen können. „Gleich, Dudley. Vorher würde ich gerne etwas mit dir besprechen."
Aufmerksam blickten ihn Dudleys wässrigblaue Augen an.
Ohne viel Mühe beschwor Salazar ein Licht herauf und ließ es über dem Tisch schweben.
„Wow!", entfuhr es Dudley. „Wie machst du das?"
„Das ist Magie", erwiderte Salazar mit einem sanften Lächeln.
„Ist ja irre!", rief Dudley aus, während er begann, das Licht von allen Seiten auf verborgene Schnüre abzutasten. Verwirrt fuhr er mit der Hand hindurch. „Es ist gar nicht heiß."
„Magie ist an sich nicht warm", erklärte Salazar. „Es sei denn, der Zauberer möchte es."
Er schickte einen Impuls durch das Licht, sodass es unter Dudleys Händen eine angenehme Wärme annehmen würde. Dudley tastete erst nach dem Licht und blickte dann zu ihm.
„Du-du bist ein Zauberer?", fragte Dudley atemlos. Mit seinen zehn Jahren schien er für die Vorstellung noch mehr als offen zu sein. Salazar war dankbar dafür.
Der Gründer Slytherins nickte. „Das bin ich."
Mit großen Augen starrte Dudley auf das Licht. „Kannst du mir das beibringen?"
„Ich fürchte nicht. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die es lernen können, weißt du?"
Dudley schürzte die Lippen. „Das sagst du aber nicht, weil du mich nicht dabei haben willst, oder?"
„Ganz bestimmt nicht", versicherte Salazar und Dudley entspannte sich.
„Meinst du, du kannst mir bei einer Sache helfen?", fragte er seinen Cousin.
Neugierig lehnte sich Dudley vor. „Was soll ich machen?"
„Deine Eltern mögen keine Magie. Und ich würde sie gerne davon überzeugen, dass sie sich irren."
Dudley starrte ihn aus großen Augen an. „Wie willst du das denn machen?"
Salazar lächelte. „Ich bin mir sicher, sie wären geneigt, ihre Meinung zu überdenken, wenn ich dir mittels Magie das Leben retten würde ..."
Dann begann er Dudley zu erzählen, was er sich ausgedacht hatte.
Am Ende funkelten die Augen seines Cousins begeistert. „Cool. Das ist wie in einem Agentenfilm."
„Das heißt, ich kann auf dich zählen?"
Dudley grinste. „Klar. Das wird der Hammer! Aber Harry? Im Ausgleich möchte ich ganz, ganz viele Zauber sehen!"
Salazar nickte grinsend. „Versprochen, Dudley."

So kam es, dass Dudley nach einem Footballmatch vor dem Fernseher die ungewöhnliche Motivation entwickelte, selbst ein paar Bälle zu werfen. Da Piers mit seinen Eltern „zufällig" über die Weihnachtsferien in Urlaub gefahren war, mussten nun Harry und Vernon herhalten, um seinen Wunsch zu erfüllen. Auf Salazars Anregung machte Petunia das Ganze zu einem Familienausflug, indem sie sich ebenfalls anschloss und warmen Kakao und Naschereien für alle einpackte.
Eingewickelt in dicke Mäntel machten sie sich auf den Weg zu einem Park, der ganz in der Nähe an einem Fluss gelegen war. Die Wiese war mit glänzendem Frost überzogen, doch immerhin lag kein Schnee. Das gefrorene Wasser des Flusses glänzte in der fahlen Wintersonne. Dudley und Onkel Vernon stellten sich auf und ein Ball wechselte den Besitzer. Salazar setzte sich neben Petunia und hörte mit halbem Ohr zu, wie Vernon abwechselnd von seiner eigenen Schulzeit prahlte und seinen Sohn für sein Talent lobte. Tatsächlich war Dudley aufgrund seiner Körpermasse nicht gut darin, einige fehlgeleitete Bälle zu fangen, aber seine Würfe waren weit und kräftig. Nach und nach kam Vernon richtig in Fahrt und schleuderte seine Bälle immer weiter. Dudley hechtete mit rotem Gesicht hinterher und es war abzusehen, dass er schon bald seine Freude an der Sache verlieren würde. Salazar war das ganz recht, denn auf seiner Bank neben Petunia begann er langsam zu frieren. Er bat sie um einen Schluck Kakao und schlang seine Jacke enger um sich. Dann überprüfte er die Zauber, die er nur zu Sicherheit auf Dudley gelegt hatte. Egal was passierte, niemals würde er das Leben seines Cousins wirklich gefährden.
Erneut warf Vernon den Ball und Dudley lief los. Vernon hatte zu weit ausgeholt. Unweigerlich flog der Ball in Richtung des Flusses.

Dudleys und Salazars Blicke trafen sich für einen Moment.

Salazar nickte unmerklich.

Und Dudley begann zu rennen. Salazar beobachtete, wie der Ball ganz knapp über Dudleys ausgestreckte Hand davon segelte. Dann schlitterte sein Cousin auf das Eis, das viel zu schwach ausgebildet war, um das Gewicht des Jungen zu tragen. Ein beunruhigendes Knacken war zu hören, gefolgt von einem spitzen Schrei.
Salazar sprang auf. Petunia gab ein entsetztes Wimmern von sich. Vernon sprintete in Richtung des Flusses, aus dem sich Dudley mit vor Panik geweiteten Augen kämpfte. Sein Onkel streckte die Hand nach dem Jungen aus, doch Dudley wurde immer wieder in die Mitte des Flusses getrieben. Salazar zögerte nicht länger. Er griff nach der Struktur des Jungen und schlang seine Magie darum. Dann zog er. Vernon und Petunia kreischten auf, als sich Dudley schwerelos aus dem Fluss erhob und auf sie zu segelte. Sacht setzte Salazar seinen tropfenden Cousin neben seinem Onkel und seiner Tante ins Gras. Dann fuhr er mit seiner Magie in das Wasser, dass Dudley bedeckte und erzeugte die Erinnerung von Wärme und Wasserdampf. Eine Dunstwolke stieg auf. Und zurück blieb ein verdächtig zufrieden wirkender und vollkommen trockener Dudley. Schluchzend schlang Petunia die Arme um ihren Sohn, während sich Vernon wortlos zu Salazar drehte. Sein Gesicht war ein Splitterbild von Emotionen. Da war Sorge, Angst, Überraschung ... und Dankbarkeit. Dann verengten sich seine kleine Augen und ein entschlossener Ausdruck trat hinein. "Gehen wir nach Hause."
Salazar sammelte Handschuhe, Bälle und Schläger ein und folgte seinen Verwandten zurück in den Ligusterweg.
Auf dem Rückweg grinste ihm Dudley aufgeregt zu. "Es war total krass Unterwasser atmen zu können", flüsterte sein Cousin. "Und mir war gar nicht richtig kalt."
Verschwörerisch legte Salazar einen Finger an die Lippen.

Die nächsten Minuten war Petunia damit beschäftigt, Dudley in Decken einzuwickeln und ihn mit heißem Tee und noch mehr Kakao zu versorgen. Dann standen sie alle in Dudleys Zimmer und ein unsicheres Schweigen breitete sich aus.
"Du gehörst also doch zu diesen Leuten", stellte Petunia fest. Die Hände, die ihre Teetasse umklammert hielten, zitterten.
Harry nickte. "Muss ich jetzt zurück in den Schrank?", flüsterte er unsicher.
Niemand antwortete.
Schweigen senkte sich auf sie herab. Dudleys Uhr tickte in der Stille.
"Harry hat das gemacht?", fragte Vernon schwach. "Harry hat Dudley aus dem Wasser fliegen lassen?"
"Ja, mein Schatz", sagte Petunia erschöpft.
Dudley unterdrückte nur mit Mühe ein Grinsen. "Dann ... dann hat Harry mich gerettet?"
Salazar lächelte ihm zu. "Ich hoffe es geht dir gut, Dudley."
Sein Cousin strampelte sich bereits aus einer von Petunias Decken hervor. "Mir ist zu warm", murrte er.
Hastig steckte Petunia die Decke wieder um ihn fest. "Nein, mein Spatz. Du bist von oben bis unten ausgekühlt. Bleib schön unter der Decke, wo es warm ist, ja?"
"A-aber Harry hat das ganze Wasser sofort verdampfen lassen! Mir ist gar nicht kalt!"
Hilflos blickten sich Vernon und Petunia an.
"Bursche!", rief Vernon schließlich. Doch in dem Wort war keine Wut. Nur Hilflosigkeit und Erschöpfung. "Geh in dein Zimmer."
"Ja, Onkel Vernon", sagte Harry gehorsam. Er verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er war gespannt, wie sich das Leben im Ligusterweg nun entwickeln würde.

Smaragd, die in seinem Zimmer überwinterte, schlängelte auf ihn zu.
"Ah, Salazar. Seid ihr fertig damit, wie Hunde einem Ball hinterher zu jagen?"
"Es hat sich viel mehr ereignet als das, meine Teure." Er hob die Schlange auf seinen Schoß und streichelte über die Schuppen. "Unser Plan ist aufgegangen. Dudley ist im Eis eingebrochen und ich habe ihn mit Magie gerettet. Ich bin gespannt, wie meine Verwandten darauf reagieren werden."
Smaragd legte sich um seine Schulter und legte den Kopf an seine Wange. "Ich habe die benachbarten Gärten erkundet. Und die Umgebung um den Spielplatz. Dein Onkel und deine Tante sind die engstirnigsten Menschen, die ich kenne. Warum machst du dir überhaupt Gedanken um ihre Meinung?"
Salazars Lächeln verlor an Kraft. "Früher ging es mir nur um ihre Liebe und Aufmerksamkeit. Aber jetzt ... ich denke es ist nie zu spät, um zu versuchen, einen Menschen zu verändern."
Eine geschlitzte Zunge berührte für einen Moment seine Nase. "Du kannst meine Liebe und Aufmerksamkeit haben."
Schmunzelnd fuhr sich Salazar über die Nase. "Ich danke dir, meine Teure."

Wie sich herausstellte, änderte sich nichts im Ligusterweg. Vernon und Petunia hatten offenbar beschlossen, die Sache zu vergessen. So sehr sie Magie auch hassten, sie würden Harry nicht dafür bestrafen, dass er Dudley gerettet hatte.
Dudley selbst war allerdings ein anderer Fall. Mit einer Neugier und Begeisterung, die Vernon und Petunia gar nicht behagte, begann er jeden über Zauberei auszufragen.
Salazar hielt sich vor Vernon und Petunia geschlossen. Aber wenn sie allein im Haus oder Garten spielten, lies er Gegenstände schweben, entzündete Kerzen oder führte kleinere Verwandlungen durch. Er würde nicht zulassen, dass sein Cousin denselben Hass gegen Magie entwickelte, wie dessen Eltern. Zwischen ihm und seinem Cousin wuchs durch das geteilte Geheimnis eine Art von Kameradschaft. Selbst in der Schule hielt Dudley nun keinen Abstand mehr von ihm und hielt ihn sogar cool genug, um ihn seinen Freunden vorzustellen. Harry wusste nicht, was er von dieser zweifelhaften Ehre halten sollte. Aber nun, auch Dudleys Freunde waren Kinder. Und der Teil von ihm, der immer ein Lehrer bleiben würde, schmiedete ehrgeizige Pläne.
Wenig später hatten Dudleys Freunde aufgehört, auf dem Schulhof andere zu ärgern und ihre Schulnoten verbesserten sich drastisch. Miss Collins traute ihren Augen nicht. Und sie würde wohl nie erfahren, was die Bande zu so einer drastischen Änderung ihres Verhaltens gebracht hatte.

Der Sommer kam und damit näherte sich auch Salazars elfter Geburtstag. Und so kam der Tag, an dem der wiedergeborene Zauberer die Post hereinholte und darunter einen Brief mit einem wohlvertrautem Siegel fand.

XXX

Es war unüblich, dass Albus Dumbledore zu einer Familie von Nichtmagiern reiste um ein dort aufgewachsenes Kind in die magische Gesellschaft einzuführen. Wenn er sich recht erinnerte, war es das letzte Mal vor zehn Jahren geschehen, als er für Minerva McGonagall einspringen musste, die sich eine Sommergrippe zugezogen hatte.
Heute allerdings hatte niemand eine Grippe. Zum erneuten Mal glitten blaue Augen über das sorgsam beschriebene Blatt Papier, das ihn am gestrigen Abend erreicht hatte.

Liebe Frau Professor McGonagall,

ich freue mich riesig, dass ich auf Ihre magische Schule gehen darf.

Leider brauche ich dafür ganz viele Sachen, von denen niemand in meiner Familie weiß, wie und wo ich sie bekommen kann. Meinen Sie, Sie können mir vielleicht helfen?

Mit herzlichen Grüßen
Harry James Potter

P.s.: Eulen als Postboten sind der totale Hammer!

Schmunzelnd las Albus Dumbledore den Brief ein weiteres Mal. Aus dem Schreiben klang so viel Begeisterung und kindliche Unschuld, dass es ihm das Herz erwärmte. Alles in allem bildete das Schreiben einen vollkommenen Kontrast zu dem Eindruck, den Severus Snape gewonnen hatte, als er dem Jungen bei einem Spaziergang in den Sommerferien begegnet war. Nur zu gut erinnerte er sich, wie ihn der Tränkemeister noch während der Ferien aufgesucht hatte. "Der Junge ist ein Parselmund, Albus. Er hat sich gefreut, als ich sein Stofftier in eine Schlange verwandelt habe. Und Sie hätten hören sollen, wie er gesprochen hat ... er wirkte eindeutig zu intelligent für sein Alter."
Auch wenn Dumbledore dem Hauslehrer von Slytherin daraufhin gefragt hatte, ob er denn tatsächlich auch in den Ferien Angst und Schrecken unter Kindern verbreiten müsse, hatte er die Sorge des Tränkemeister nicht vergessen. Vor allem war es allerdings das, was Severus nicht gesagt hatte, was ihn stutzig werden ließ. Der Tränkemeister ließ sich seine Gefühle so gut wie nie anmerken, dennoch hatte Dumbledore im Laufe der Zeit ein Gespür für den jüngeren Mann entwickelt. Und er war sich sicher, dass der Professor durch etwas, dass er an Harry bemerkt hatte, zutiefst beunruhigt war. Auch wenn Mrs. Figg in all den Jahren nichts Ungewöhnliches aufgefallen war, es würde nicht schaden, selbst einen Blick auf den Jungen zu werfen.
So kam es also, dass sich der Schulleiter von Hogwarts einen tiefblauen Reiseumhang überwarf und sich zum ersten Mal seit langen auf einen Stadtbummel in der Winkelgasse vorbereitete. Seine blauen Augen funkelten, als er eine Prise Flohpulver in den Kamin warf. "Ich freue mich auf die Bekanntschaft, Harry James Potter", flüsterte er.

Harry Potter und die Rückkehr des SchlangenlordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt