Ein geheimnisvoller Junge

2.3K 155 15
                                    

Potter erschien pünktlich zum Nachsitzen. Doch anders, als andere Schüler, blickte er Snape weder verängstigt noch hasserfüllt an. Ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen, als er den Kopf neigte, um Snape zu grüßen. „Einen guten Abend, Professor."
„Ah, ich sehe, Sie haben sich herabgelassen zu erscheinen, Mr. Potter." Er deutete auf einige Kessel, deren Boden mit Dreck verkrustet war, „Schrubben Sie die Kessel. Allerdings ohne die Verwendung von Magie. Oder sind Sie sich zu fein für solch niedere Arbeiten?"
Noch immer lag auf Potters Lippen dieses Lächeln. „Ich muss gestehen, dass ich es nicht gewohnt bin", erwiderte er amüsiert. „Aber es wird schon gehen." Damit griff er nach Eimer, Handschuhen und Lappen und machte sich an die Arbeit.
Snape betrachtete den noch immer seltsam erheitert wirkenden Jungen.
Harry Potter, der in Slytherin gelandet war und der mit jedem Wort und jeder Bewegung ausdrückte, dass er nirgend wo sonst hingehörte.
Ein Junge, der ein einzigartiges Talent in der Braukunst besaß, wenn es sich denn überhaupt um einen Jungen handelte.
Denn Harry hatte nur zu deutlich gemacht, dass er, zumindest teilweise, die Erinnerung eines früheren Lebens besaß.
Snape verbannte sämtliche Emotionen aus seinem Gesicht und blickte sein Gegenüber an „Was haben sie nachts in den Gängen getrieben, Mr. Potter?"
Der Junge lachte leise und angenehm. „Ich habe nach Geheimgängen gesucht." In gespielter Nachdenklichkeit neigte den Kopf. „Irre ich mich, oder sagte ich das nicht bereits?"
„Belügen Sie mich nicht", zischte Snape.
„Ist es eine Lüge, wenn beide Gesprächspartner wissen, dass es sich um eine handelt?", fragte der Junge amüsiert. Grüne Augen begegneten forschend seinem Blick. „Was haben Sie aus der Erinnerung geschlussfolgert, die ich Ihnen gezeigt habe?"
Die Offenheit der Frage überraschte Snape. Ihn überkam das ungute Gefühl, dass er die Kontrolle über dieses Gespräch aus der Hand gab. Das hieß, wenn er sie je besessen hatte. „Aus irgendeinem Grund besitzen Sie Erinnerungen aus einer Zeit vor dem Geheimhaltungsabkommen", erwiderte er ausdruckslos. Er hob den Kopf und beobachtete seinerseits den Jungen. „Sie erinnern sich an ihr gesamtes letztes Leben?"
„Das tue ich", antwortete Potter, während er fortfuhr, den Kessel zu schrubben. Er schmunzelte. "Allerdings brauchte ich eine Weile, um in sie hineinzuwachsen. Der Geist eine kleines Kindes ist nicht geschaffen für die Erinnerungen eines ganzen Lebens. Es hat zehn Jahre gebraucht, bis ich mich daran gewöhnte."
„Das erklärt einiges", sagte der Professor mehr zu sich selbst.
Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach. Nur das schabende Geräusch der Bürste war zu hören. Schließlich war es der Junge, der eine Frage stellte.
„Was ist mit Ihnen, Professor?"
„Was möchten Sie andeuten?", fragte Snape. Sein Ton war nicht so eisig wie sonst. Warum sich auch bemühen? Die Stimmlage, die jeden anderen Schüler in Angst und Schrecken versetzte, perlte an dem Jungen ohnehin ab wie ein Tropfen Wasser.
Hellgrüne Augen schienen in seine Seele zu blicken. "Sie sind ein Okklumentiker", stellte der Harry fest. "Sie halten sorgfältig jedes Gefühl vor der Außenwelt verborgen. Man sieht es an ihren Augen. Aber sie zeigen Gefühle. Ihnen ist wichtig, dass alle Welt merkt, wie sehr Sie mich hassen. Sie geben sich Mühe, unfair zu sein und Slytherin zu bevorzugen. Schon die Art wie Sie sich geben und kleiden. Vollkommen schwarz, mit wehendem Mantel und fettigem Haar?" Leicht schüttelte er den Kopf. "Ich habe noch kein einziges wahres Gefühl in Ihrem Gesicht gesehen, Professor Snape. Stattdessen sehe ich, dass Sie bis zur Perfektion eine Rolle spielen." Er lächelte leicht. "Auch wenn Sie bei der Umsetzung vielleicht etwas übertreiben."
Snape war sprachlos. Die kalte Scharfsichtigkeit des Jungen, der nicht wie einer wirkte, ließ ihn in Schweiß ausbrechen. "Was erdreisten Sie sich?!", brachte er viel zu spät hervor.
Harry ignorierte ihn. Stattdessen schoss sein Arm vor und schob Snapes Ärmel nach oben. Das dunkle Mal lag unverkennbar auf seinem Unterarm. "Möchten Sie es wirklich leugnen?", fragte sein Gegenüber sanft.
Er suchte Snapes Blick. "Als Sie mich im Ligusterweg getroffen haben, waren Sie dort, um nach mir zu sehen, nicht wahr? Aber als ich Sie bemerkte, mussten sie handeln. Es musste wirken, als würden Sie mich hassen. Oder einfach gerne kleine Kinder ärgern. Deswegen verdanke ich Ihnen meine Schlange." Er lächelte leicht. "Ich habe sie Smaragd genannt, wissen Sie. Sie erfreut sich bester Gesundheit."
"Worauf wollen Sie hinaus?"; fragte Snape heiser.
Harry, wenn er es denn war, stützte sich auf den Kessel und lehnte sich näher zu ihm heran. "Sie arbeiten nicht für Voldemort. Aber es ist Ihnen sehr wichtig, es so erscheinen zu lassen, als ob. So wichtig, dass Sie ihr ganzes Leben danach ausrichten, wie die fleischgewordene Angst eines Schülers zu wirken." Seine Miene wurde weicher. "Sie sind keine Bedrohung für Hogwarts. Keine wirkliche Gefahr würde sich solche Mühe geben, wie eine Gefahr zu wirken." Der Junge blickte ihn an, in den grünen Augen spiegelte sich gleichermaßen Besorgnis und Anerkennung. „Es erscheint mir, als hätten Sie ihr gesamtes Leben danach ausgerichtet, ein Doppelagent zu sein."
Snape zog seinen Zauberstab mit rasender Geschwindigkeit. Der Junge war unbewaffnet. Er war im Vorteil. Nie hätte er damit gerechnet, dass Harry wortlos die Hand ausstreckte und sich sein Zauberstab aus der Umklammerung seiner Hand löste. Es war kein Wort gefallen. Und doch pflückte Potter Snapes Zauberstab beiläufig aus der Luft, als wäre es keine große Sache.

Ein Junge hatte wortlos Magie benutzt.

Er hatte dabei seinen Stab nicht in Händen gehalten.

Dieser Junge war kein Erstklässler. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so hatte er ihn gefunden.

Für einen Moment starrte Snape auf seine leere Hand. "Wer sind Sie?", flüsterte er rau.
Hellgrüne Augen blitzten zu alt für ihre Jahre. "Mein Name ist Harry Potter."
Er musste das Misstrauen und die Sorge in Snapes Blick gesehen haben, denn etwas in seiner Miene wurde weich. Er hielt Snapes Zauberstab an sein Herz. „Hiermit schwöre ich bei meiner Magie dass ich Harry James Potter bin. Ich schwöre außerdem dass ich nicht hier bin, um Hogwarts oder seinen Bewohnern Schaden zuzufügen. Auch ihr Geheimnis werde ich bewahren und nur nach ihrer ausdrücklichen Erlaubnis mit anderen teilen. "
Für einen Moment war Severus Snape fassungslos. Er hatte mit vielem gerechnet. Mit einer Erpressung hätte er umgehen können. Bedrohungen waren sein tägliches Geschäft. Aber niemals hätte er damit gerechnet, dass der Junge das Wissen, das er über ihn gesammelt hatte, schlicht für sich behalten würde. Für einen Moment suchte er vergeblich nach Worten. „Warum tun Sie das?", raunte er schließlich.
Der Junge, der keiner war, schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Ich wollte Sie wissen lassen, warum ich Ihnen vertraue."
Vertrauen...Sein Leben lang hatte Severus gleichermaßen um die Anerkennung von Voldemorts Anhängern, sowie die des Ordens kämpfen müssen. Niemals hätte er damit gerechnet, es von einem fast Fremden geschenkt zu bekommen. Mit einem Mal fühlte er sich seltsam verletzlich. „Warum haben Sie mir die Erinnerung gezeigt?", fragte Severus eindringlich. „Warum wollten Sie, dass ich es erfahre?"
Etwas in Harrys Blick wurde weich. „Sie sorgen sich um die Sicherheit der Schule. Glauben sie mir, ich weiß, wie sich das anfühlt. Genauso wie es ist, anderen zu misstrauen. Ich hatte das Gefühl, dass Sie es wissen sollten." Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wenige meiner Erinnerungen zeigen so deutlich, dass ich nicht vorhabe, irgend jemandem zu schaden."
„Was haben Sie dann vor?", fragte Snape. „Warum sind Sie hier?"
„Um zu lernen", antwortete Harry mit einem leisen Lächeln. „Und um Hogwarts wieder zu dem Ort zu machen, der er einstmals war." Er warf Severus seinen Zauberstab zu. „Ich bin keine Bedrohung für Sie, Professor." Dann drehte sich der Junge um und verließ die Kerker. Nur am Rande nahm Snape war, dass die Kessel blank geschrubbt waren.

Er starrte dem Jungen nach. Noch immer pochte sein Herz in seiner Brust. Gerade eben hatte sich Snape in der Hand des Jungen befunden. Er war unbewaffnet gewesen, der Willkür seines Gegenübers komplett ausgeliefert. Und was hatte Harry getan? Nichts. Er hatte ihm seinen Zauberstab einfach zurückgeben, hatte ihn nur lange genug behalten, um vor weiteren Angriffen von Snapes Seite sicher zu sein. Mehr noch, er hatte versucht, ihm seine Sorge zu nehmen, er hatte dafür sogar einen magischen Schwur geleistet. Der dunkle Lord hätte niemals so gehandelt. Er hätte Snape gequält, weil er den Zauberstab auf ihn gerichtet hatte, oder einfach, weil er es konnte.

Und dieser Junge?

Er hatte sich umgedreht und war gegangen. Und damit hatte sich ihre Lage umgekehrt. Nun war es Snape, der Albus rufen, der die Auroren gegen den Jungen hetzen konnte. Aber warum hatte Harry so gehandelt? Warum hatte er Severus so viel Macht über ihn gegeben? Er hätte es nicht tun müssen, hätte ihm nie von einem früheren Leben erzählen müssen. Aber er hatte Snape darauf aufmerksam gemacht, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Er hatte ihn mehrmals dazu aufgefordert, sein Geheimnis herauszufinden.
Warum sollte Potter das tun? In der ausgesprochenen Herausforderung lag keine Bosheit. Snape hatte nicht das Gefühl, dass der Junge, der keiner war, ihm seine Überlegenheit demonstrieren wollte, ihn scheitern sehen wollte.

Im Gegenteil. Snape war sich sicher, dass er wollte, dass er es herausfand. Aber warum?

Was hatte er davon?

Dadurch, dass er Snape Macht über ihn gegeben hatte, an ihn die Möglichkeit übertragen hatte, das Spiel zu beenden, hatte er der Sache ihre Bedrohlichkeit genommen. Snape konnte ihn ausliefern. Er musste nur so lange mitspielen, wie ihm das Spiel gefiel. Zumal der Junge einen unterbrechbaren Schwur geleistet hatte, dass er weder Hogwarts noch dessen Bewohnern schaden wollte.
Harry hatte ihn und seine Sorgen ernst genommen. Und er hatte ihm ein Geheimnis anvertraut, dass nicht nur Severus Zweifel zerstreute, sondern ihn gegenüber dem Jungen in eine stärkere Lage versetzte. Er hatte gesagt dass er ihm vertraute...
Severus würde mitspielen. Der Fremde hatte ihn bei seiner Ehre gepackt und seine Neugier geweckt. Jetzt, wo die potenzielle Gefahr, die von dem unbekannten Geheimnis ausging, eliminiert war, gab es keinen Grund mehr, zu zögern. Nun hatte er die Freiheit, sich ganz seiner Neugier zu überlassen. Die Erkenntnis kam plötzlich und unerwartet: Genau darum musste es Harry gehen! Mit größtmöglicher Effizienz hatte der Junge alle Bedenken aus dem Weg geräumt. Was blieb, war ein Geheimnis, das es zu entschlüsseln galt.

Harry Potter und die Rückkehr des SchlangenlordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt