Eine folgenreiche Entscheidung

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Es war einer dieser Morgen, an denen es einfach nicht ganz hell werden wollte. Düster und schwer lagen die Wolken über Schloss Hogwarts. Ein kalter Wind peitschte Regen vor sich her und brachte die Ahnung des kommenden Winters. Vor dem Hauptportal standen zwei Männer. Der eine, blondhaarig, mit sorgsam getrimmten Bart und haselnussfarbenen Augen, hatte die Ausstrahlung eines Ritters. Unter einem roten Mantel glänzte ein Kettenhemd im fahlen Licht und ein rubinbesetztes Schwert hing kampfbereit an seiner Seite. Mit verschränkten Armen taxierte er sein Gegenüber.
Der zweite Zauberer war in vielem sein genaues Gegenteil. Er trug eine grüne, elegante Robe und seine ganze Haltung zeugte von aristokratischer Eleganz. Schwarzes, langes Haar fiel offen auf die Schultern und umrahmte ein blasses, markantes Gesicht mit undurchdringlichen, hellgrünen Augen. So ritterlich und ehrenhaft der eine Mann wirkte, so düster und geheimnisvoll war der andere. Und dennoch standen sie in einer Nähe beieinander, die eine tiefe Vertrautheit vermuten ließ.
Ungehalten schüttelte sich Godric Gryffindor das Wasser aus dem hellen Haar. „Mir gefällt die Idee noch immer nicht", sagte er düster.
„Das sollte sie aber", sagte Salazar Slytherin und hob spielerisch eine Augenbraue „Immerhin war es deine."
„Da wusste ich noch nicht, dass du es sein würdest, der den Verräter mimt", sagte der Ritter stur.
Ruhig blickte der grün gewandete Zauberer seinem Gegenüber in die Augen. „Wer sollte es sonst tun?"
Sie beide schwiegen, während der Regen auf sie herab prasselte.
„Es wird schon schief gehen", sagte Salazar. „Wir fingieren einen Streit und ich verlasse mit einigen Getreuen die Schule. Unsere Feinde werden glauben, Hogwarts wäre geschwächt und sie werden versuchen, die vermeintliche Chance zu nutzen. Meine Slytherin und ich fallen ihnen in den Rücken und dann nehmen wir sie in die Zange. Wir hatten schon schlechtere Pläne."
Godric brummte etwas Unverständliches in seinen Bart.
Slytherin schmunzelte. „Weißt du noch, als du unbedingt einen Drachen kitzeln wolltest? Das war ein schlechter Plan."
Unweigerlich zuckten Godrics Mundwinkel. „Das war nicht eine meiner Glanzstunden."
„Und selbst das haben wir überlebt, oder nicht?"
Godric trat vor, legte beschützend eine Hand auf die Schulter des anderen. „Während ihr eure Position einnehmt, seid ihr vollkommen ungeschützt. Was, wenn man euch auflauert?"
„Seitdem wir diese Schule gegründet haben, sind wir Risiken ausgesetzt. So lange uns einerseits die Muggel auf den Scheiterhaufen zerren wollen und andererseits die traditionellen Zaubererfamilien aufschreien, weil wir Muggelgeborene unterrichten, werden wir nie bedenkenfrei das Haus verlassen können. Dies hier ist unsere Chance, Godric."
Einen langen Moment blickten sie einander in die Augen. Schließlich senkte der Ritter den Blick. „Ich weiß. Aber ich will dich nicht verlieren. Also pass auf dich auf, du verdammter Sturkopf."
„Ich komme zurück", sagte Salazar. „Ohne deine Gesellschäft wäre mir sowieso langweilig."
Godric nickte. Seine Miene war ernst. „Dann warte ich auf deine Rückkehr."
Auf Salazars Gesicht erschien ein perfides Lächeln. „Was ist? Wollen wir mit unserer kleinen Aufführung beginnen?"
Godric deutete eine Verbeugung an. „Immer nach dir, Salazar."
Die Züge des Schwarzmagiers vereisten augenblicklich. Energisch riss er den Torflügel auf und schritt mit wehendem Umhang in die große Halle des Schlosses. Verwirrt und verängstigt blickten die versammelten Schüler und Lehrer von ihrer Mahlzeit auf. „Kein Wort mehr, Godric! Ich werde es nicht länger ertragen, Schlammblüter zu unterrichten!"
„Nenne sie nicht so!", sagte der Ritter gefährlich leise.
„Entweder ihr nehmt sie von der Schule, oder ich werde sie einem nach dem anderen vom Antlitz dieser Welt tilgen!"
Beschützend trat Godric vor die erschreckten Schüler, zog langsam sein Schwert aus der Scheide. „Das wirst du nicht. Nicht, wenn ich es verhindern kann!"
Zwischen den Tischen entbrannte ein Duell. Die Lehrer taten ihr Bestes, die Schüler in Sicherheit zu bringen. Nur zwei weitere Frauen sahen der Auseinandersetzung mit einem wissenden Lächeln zu. Wie hätten die verschreckten Schüler, oder gar ihre Feinde wissen können, dass die Gründer Hogwarts und ganz besonders Salazar Slytherin und Godric Gryffindor unzertrennlich waren?


Neville hätte es wissen müssen. Natürlich war Salazar nicht einfach gegangen. Der Grund, warum Slytherin Hogwarts verlassen hatte, hatte mit Muggelgeborenen gar nichts zu tun. Salazar war gegangen, um einer Kriegsstrategie von Godric Gryffindor zu folgen.

Natürlich. Es hätte nicht zu Harry gepasst, gegen Muggelgeborene vorzugehen. Es widersprach allem, was er über den Freund wusste.

Und Harry und Salazar waren...eine Person. Er wusste, es stimmte und doch ließ ihn die Unmöglichkeit des Gedankens schaudern.

Nevilles Füße trommelten über das Gras der Ländereien von Hogwarts. Herbstlicher Nebel hing schwer über dem Seeufer. Die Unruhe, die Neville im Traum verspürt hatte, war nach dem Aufwachen geblieben. Fast von selbst hatte es ihn nach Draußen gezogen. Vor Kurzem wäre es ihm noch seltsam erschienen, so früh am Morgen schon an Sport zu denken. Das hatte sich, wie so vieles, geändert. Nun genoss er die morgendliche Kühle und die Bewegung verschaffte ihm Ruhe und Klarheit. Vielleicht sollte er jeden Morgen so beginnen? Der Gedanke hatte etwas Vertrautes.
Er spürte, dass er beobachtet wurde. Er blickte auf und sah Harry vom Portal auf ihn zu hetzen. Grüne Augen musterten kampfbereit die Umgebung und schienen den herbstlichen Nebel durchdringen zu wollen. Neville zog seinerseits seinen Zauberstab. „Harry?", fragte er angespannt.
Die Miene des Bruders war eine emotionslose Maske. Nur die Augen funkelten voller Sorge. "Wer verfolgt dich?", raunte er leise, ohne den Blick von der Umgebung zu lösen.
„V-Verfolgen?" Hatte er einen Verfolger nicht bemerkt? Neville musste zugeben, er hatte sich nicht sonderlich auf seine Umgebung konzentriert.
„Ich habe niemanden gesehen", antwortete er leise, nun seinerseits argwöhnisch die Ländereien musternd.
Harry stockte. „Du hast niemanden...aber warum bist du dann gerannt?" Dann weiteten sich seine Augen in plötzlicher Erkenntnis. „Warte...du trainierst?"
„Äh...ja?", fragte Neville verwirrt.
Harry blinzelte. „Oh." Dann lachte er erleichtert. „Ich dachte schon..."
Langsam atmete Neville aus. „Dass ich es schon wieder geschafft habe, in Schwierigkeiten zu geraten?"
Verlegen fuhr sich Harry durch das Haar. „In letzter Zeit ist so viel passiert..."
„Schon gut", lachte Neville. „Das konntest du nicht wissen. Es ist ja nicht so, als hätte ich mir bisher viel aus Sport gemacht."
Grüne Augen blickten ihn aufmerksam an. „Das hat sich geändert?"
Neville nickte zögernd. Sein Kopf war so voller Gedanken, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. Er schritt zum Ufer des großen Sees. Über das wogende Wasser schälte sich Schloss Hogwarts aus dem Nebel. Es war ein erhabener Anblick. Als er sich umwandte, war Harry an seine Seite getreten, den Blick, wie er noch vor Kurzem, auf die Schule gerichtet.
Er gab seinem Instinkt nach und berührte seinen Bruder an der Schulter. „Salazar", flüsterte er.
Harry versteifte sich. Aus geweiteten Augen blickte er ihn an. Und dann sagte er etwas, das keinen Zweifel daran ließ, dass Nevilles Instinkt richtig gewesen war.
„Du...erinnerst dich?"
Neville schüttelte den Kopf. Seine Wangen brannten. Er fühlte sich verwirrt und verunsichert. Aber eines hatte Harry gerade bestätigt. „Ich drehe nicht einfach durch, oder?", fragte er leise. „Du bist wirklich Salazar Slytherin."
„Ja, das bin ich", sagte Harry schlicht. Seine Stimme klang unendlich sanft, als hätte er Sorge, Neville zu verscheuchen. Aber Neville würde nicht gehen. „Ich weiß nicht, was das alles soll", sagte der Blondhaarige leise. „Es ergibt keinen Sinn."
„Lass dir Zeit. Es gibt keinen Grund, die Dinge unnötig zu beschleunigen. Du kannst warten, bis es Sinn ergibt", antworte Harry mit einem halben Lächeln.
„Nein", sagte Neville entschlossen. „Die Situation nimmt dich mit. Du leidest darunter."
Verblüfft schaute ihn Salazar an. „Genau wie du", sagte er schließlich leise.
„Ich bin nicht er", sagte Neville. Das stimmte einfach. Er wusste wie hilflos er war, wie ungeschickt und vergesslich. An ihm war nichts heldenhaftes.
„Ich weiß", sagte Salazar leise. Das Eingeständnis schien ihm schwer zu fallen. „Du bist vor allem und hauptsächlich Neville. Das hätte mir klar sein müssen. Bitte entschuldige, dass ich dir diese Last aufgebürdet habe."
Entschieden schüttelte Neville den Kopf. „Das war es nicht! Du hast eine Tendenz, Dinge allein durchzuziehen! Ich bin froh, dass du versuchst, es mit mir zusammen zu machen..."
Seine Stimme erstarb. Er wusste, die Worte waren wahr. Doch bis eben hatte er nicht gewusst, dass es stimmte.
Salazar blickte ihn einfach an. „Das muss schwer für dich sein", raunte er. „Dich nur teilweise zu erinnern."
Neville gab einen Laut zwischen Lachen und Weinen von sich. „Wie war es bei dir?", fragte er. „Wie kommt es, dass Harry Potter die Erinnerungen von Salazar Slytherin besitzt?"
„Meine Erinnerungen erwachten in dem Moment, als mich Voldemorts Todesfluch traf", sagte Harry nachdenklich. „Ich kann dir nicht erklären, wie oder warum es geschah. Meines Wissens bin ich tatsächlich der einzige Fall, der einen Todesfluch überlebte. Aber in dem Moment, als es geschah, erinnerte ich mich. Es war, als wäre ein Schleier fortgerissen worden, der mich von den Erinnerungen meine früheren Lebens trennte."
Er blickte Neville an. „Das Problem ist, dass ein Teil meiner Seele auch die deine ist. Ich denke, das führt dazu, dass du dich teilweise erinnerst."
Neville blickte zu Boden. „Ich weiß nicht, ob ich jemals der Mensch sein kann, an den du dich erinnerst."
„Neville", sagte Salazar beruhigend. „Du allein bestimmst, wer du in diesem Leben sein möchtest. Es kann sein, dass die Erinnerungen niemals ganz zurück kommen. Dass es nichts sein wird als einige verwirrende Träume, die du mit der Zeit vergessen wirst. Das ist in Ordnung. Ich kann nicht von dir verlangen, etwas zu sein, was du nicht sein möchtest."
„Aber du vermisst ihn", sagte Neville. Es war keine Frage. Es war eine Feststellung.
Salazar nickte unmerklich. „Aber das ändert nichts, Neville. Ich werde damit zurechtkommen."
Neville schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass Harry litt. Er wollte Salazar seinen Freund zurückgeben und spürte doch, dass er es nicht konnte. Er war Neville Longbottom. Weder Godric Gryffindor, noch irgend ein anderer Held. Selbst dann, wenn er es irgendwann einmal gewesen sein sollte.
„Ich möchte, dass du etwas weißt", sagte Neville.
Grüne Augen blickten ihn fragend an.
„Ich weiß, dass ich ihn nicht ersetzen kann. Ich werde nie er sein. Aber, wenn du mich brauchst, wenn ich irgendetwas tun kann..." Er lächelte gequält. „Wahrscheinlich werde ich alles nur noch schlimmer machen und über meine eigenen Füße stolpern...aber ich möchte für dich da sein, Harry. Zumindest das weiß ich."
Harry schloss ihn in eine freundschaftliche Umarmung. „Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet."
Neville lächelte. Er fühlte sich verwirrt, verunsichert und furchtbar ungenügend. Aber er würde tun, was er konnte. Nichts anderes war er seinem Freund schuldig.
Harry lächelte ihm zu. „ Du hast recht damit, dass ich Godric vermisse. Aber du vergisst eine wichtige Sache. Neville Longbottom mag ich auch."
Neville spürte, wie seine Wangen zu brennen begannen. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander, lauschten dem Wind und dem Rauschen des Wassers. Die Stille war nicht unangenehm. Neville fühlte, wie sich seine verkrampften Muskeln lockerten und er sich endlich etwas entspannen konnte. So wahnwitzig das alles klang, er war froh, endlich mit Harry gesprochen zu haben.

Nach einer Weile fanden grüne Augen die Seinen. „Verstehe mich nicht falsch. Ich möchte dich in keine Richtung drängen. Es ist gut, egal, wie du dich entscheidest. Ich frage mich nur...möchtest du vielleicht deine alten Räumlichkeiten sehen?"
Neville blinzelte. Natürlich...es war nur logisch, dass Godric Gryffindor hier Räume gehabt hatte. Immerhin hatte er hier gelebt. Aber davon geträumt hatte er nie. Es gab so unendlich viel, dass er nicht wusste. Doch als Harry ihn fragend anblickte, konnte er nicht anders, als zu nicken. Er wusste, all das würde ihn noch mehr verwirren. Aber er konnte auch nicht damit leben, es nicht zu wissen.
Sie ließen die in Nebel getauchten Ländereien hinter sich. Die heimelige Wärme des Schlosses tat gut nach der Kälte, die Draußen herrschte. Durch zahlreiche Gänge, Treppen und Korridore ging es immer tiefer hinab. „Ich habe sie bei meinen nächtlichen Erkundigungen entdeckt", sagte Harry. „Ich fürchte, sie sind nicht mehr in der Nähe des Turms von Gryffindor, wie es einstmals der Fall war. Wir legten die Räume so an, dass ihre Position veränderlich ist, weißt du?"
Das wusste Neville nicht, aber er nickte trotzdem als Zeichen, dass er verstanden hatte. „Warum hat man die Position verlegt?"
Harry hob bedauernd die Schultern. „Ich kann es dir nicht genau sagen. Irgendwann scheinen Bewegung und vor allem Kampf mit Waffen aus der Mode gekommen zu sein. Zu deinen Räumlichkeiten gehörte auch das Waffenzimmer. Es wurde alles zusammen in die Kerker verlegt."
„Das hat Godric Gryffindor unterrichtet?", fragte Neville. „Kampfmagie und Schwertkampf?"
„Nein, nicht nur", antwortete Harry. „Auch wenn es das war, wofür er berühmt war. „Kampfstrategie unterrichtete er ebenfalls. Und Ritualkunde teilten wir zwischen uns auf."
Er lächelte. „Und manchmal Etikette. An diesem Fach hatten wir alle wenig Freude. Am Anfang jedes Jahres zogen wir Strohhalme, um zu ermitteln, wer es im kommenden Jahr unterrichten musste."
Als die Gänge immer verworrener wurden, warf Neville dem Freund einen fragenden Blick zu. „Was hast du hier unten eigentlich gesucht?"
Der Slytherin seufzte. „Ich erneuere die Schutzzauber von Hogwarts. Zumindest jene, bei denen es mir möglich ist. Sie sind in die Mauern eingelassen. Schon allein dafür, muss ich mir jeden Winkel der Außenmauern ansehen."
„Du hast Schwierigkeiten", stellte Neville fest.
Harry nickte. Mit einem Mal wirkte er müde. „Damals waren wir zu viert. Und wir alle besaßen andere Stärken und Fähigkeiten. Ich alleine kann nicht das leisten ,was wir zu viert aufgebaut haben. Zurzeit habe ich genug damit zu tun, die neuen Zauber zu lösen, sodass unsere alten Schutzzauber nicht mehr mit ihnen interagieren. Aber ich gebe mir Mühe."
Jähes Bedauern durchflutete Neville. „Ich würde dir gerne helfen."
Harry erwiderte seinen Blick. „Ich weiß." In seiner Stimme lag kein Vorwurf. Doch da war es wieder, das Gefühl ungenügend zu sein. Hastig wandte Neville den Blick ab.
„Was würdest du an Hogwarts ändern, wenn du die Möglichkeit hättest?" Harrys Frage überraschte ihn. Ungläubig blickte er auf. „Was ich...?"
Harry nickte lächelnd.
Nachdenklich legte Neville die Stirn in Falten. „Ich...waren die Feindschaften zwischen den Häusern schon immer so ausgeprägt?"
„Nein", antwortete Harry sanft. „Das war nicht immer so."
Neville nickte langsam. „So etwas dachte ich mir. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich das gerne ändern." Seine Stirn zog sich in Falten, während er weiter nachdachte. „Binns ist kein guter Lehrer. Alle schlafen bei ihm ein und niemand lernt etwas. Und von den älteren Schülern habe ich gehört, dass Professor Trelawny, die Lehrerin in Wahrsagen, nicht besser sein soll."
Harry nickte nachdenklich. „Was ist mit Snape?"
Neville unterdrückte ein Schaudern. „Er ist fies und ganz bestimmt kein guter Lehrer. Aber zu versuchen, ihn auszuwechseln...irgendwie wäre es wie aufgeben..."
Harry lächelte. „Also Binns und Trelawny? Mal sehen, was sich da machen lässt. Die Weihnachtsferien würden sich für einen Wechsel hervorragend anbieten..."
Aufgeschreckt blickte Neville den Freund an. „Was? Aber ich..."
Beruhigend legte Harry ihm eine Hand auf die Schulter. „Du hast doch Recht, was die beiden angeht. Es ist nichts dabei, die Tatsachen beim Namen zu nennen."
Langsam atmete Neville aus. „Wahrscheinlich nicht", murmelte er. „Ich bin einfach nicht gewohnt, dass meine Meinung so ernst genommen wird."
Harrys Unwille war auf seinem Gesicht nur allzu deutlich zu erkennen. „Es wird Zeit, dass sich das ändert", murmelte er.
Neville lächelte warm, während er den Kopf schüttelte. „Du hast genug zu tun, ohne dich auch darum zu sorgen." Er warf dem Freund von der Seite einen Blick zu. „Weißt du schon, was du gegen V-Voldemort unternehmen willst?"
Harry zögerte. Und Neville bereute augenblicklich, die Frage gestellt zu haben. Mit einem Mal war da eine Mauer zwischen ihnen, die zuvor nicht dagewesen war. „Du willst mir nicht davon erzählen", stellte er fest.
„Ich...will dich nicht zum zweiten Mal deiner Kindheit berauben, indem ich dich in einen Krieg zerre."
Kindheit...das war der Moment, in dem es Neville zum ersten Mal in aller Deutlichkeit bewusst wurde. Harry war nicht so alt wie er. Zumindest nicht geistig. Sein Freund hatte schon ein Leben hinter sich.
Er zögerte, bevor er die Frage stellte. „Wie alt warst du, als du...?"
„Als ich gestorben bin?", fragte Harry mit einem sanften Lächeln. „Möchtest du das wirklich wissen, Neville?"
Der Angesprochene nickte zögerlich und Harry seufzte. „Das war kurz vor meinem sechzigsten Geburtstag."
Eine Weile herrschte Stille. Wortlos gingen die beiden Jungen nebeneinander. Sechzig...das war kein Alter für einen Zauberer. Mächtige Zauberer wurden mit Leichtigkeit doppelt so alt. Aber aus Nevilles Sicht schien es unvorstellbar weit entfernt. Er senkte den Kopf.
„Du bist mit den anderen Slytherin gar nicht wirklich befreundet, oder?", fragte er irgendwann leise. „Du siehst sie als deine Schüler."
Harry fuhr sich durch das Haar. „Ehrlich gesagt ist es eine Mischung aus beidem. Ich denke, das kommt davon, wenn sich die Perspektive ändert."
Als Neville ihn fragend ansah, lächelte er. „Es ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen, ein zweites Mal aufzuwachsen. Und es hilft definitiv, mit seinen Klassenkameraden die Schulbank zu drücken." Sein Blick wurde nachdenklich. „In der magischen Welt ist viel passiert. Es gib einiges, dass ich aufzuholen und zu lernen habe."
Neville fasste einen Entschluss. „Was unternimmst du gegen ihn?", fragte er mit ruhiger Nachdrücklichkeit.
Der Gründer Slytherins maß ihn unentschlossen mit Blicken.
„Ich war auf dem Turm dabei, als du von einem Todesfluch angegriffen wurdest", sagte Neville ruhig. „Und ich habe den Basilisken in der großen Halle gesehen. Ich bin schon mitten drin in diesem Krieg."
Etwas in der Miene des Freundes wurde weich. „Ich mache ihm Anhänger streitig. In meinem Haus und schon bald darüber hinaus." Er blickte dem blonden Gryffindor in die Augen. „Ich werde ihnen die Wahrheit zeigen. Über mein letztes Leben und über die dunkle Magie, die sie entweder verehren, oder fürchten. Bald werden sie begreifen müssen, dass sie nicht mehr ist als ein Werkzeug."
Harry begann an den Fingern abzuzählen. „Die Ziele, die Voldemort vorgibt, erreichen zu wollen, und die ihm seine Anhänger sichern, sind die Legalisierung der dunklen Magie und die Bekämpfung der kulturellen Bedrohung durch Muggel und Muggelgeborene. Ich habe vor, ihm in beiden zuvor zu kommen. Auf friedliche Art und Weise."
Neville konnte nicht glauben, was er da hörte. Hätte irgendjemand außer Harry diese Worte gesprochen, hätte er sich auf den Sprecher gestürzt. So blickte er den Freund nur abwartend an.
Doch Harry musste seinen Unglauben gefühlt haben. Ein trauriger Ausdruck trat in seine Augen, den er mit einem Lächeln zu übertünchen versuchte. Doch Neville konnte er nicht täuschen. „Dunkle Magie...gegen Muggelgeborene vorgehen...Es muss ziemlich bösartig für dich klingen, wenn ich das so sage."
„Schon", gab Neville zu. „Aber ich weiß, dass du es nicht so meinst. Es würde nicht zu dir passen."
Diesmal erreichte Harrys Lächeln seine Augen. „Voldemort will die Ziele, die er allen verspricht, gar nicht erreichen. Ihm geht es nur um die eigene Macht. Das wird, wenn man die Geschehnisse des letzten Krieges liest, nur allzu deutlich." Er atmete langsam aus. „Die Angst vor der sogenannten dunklen Magie ist unbegründet. Sie gilt heutzutage als so gefährlich, weil die Hälfte vergessen wurde. Und was den Einfluss der Muggel und Muggelgeborenen betrifft, so habe ich einfach vor, die Bedeutung der magischen Kultur neu aufzuzeigen und wenn möglich, anzuregen, sie in all ihren Facetten wieder zu legalisieren. Viele magische Feiertage gehen auf mittlerweile verbotene Rituale zurück und verschwinden durch das Tabu immer mehr in der Bedeutungslosigkeit. Die alten Familien fürchten durch die neuen Einflüsse um ihre Bedeutung und Existenz, denn auch sie sind Teil dieser alten Welt. Ist diese Sorge eingedämmt, werden Muggel und Muggelgeborene von ihnen womöglich gar nicht mehr als Bedrohung empfunden." Er lächelte leicht. „Ich bin mir zumindest sicher, dass niemand einem selbsternannten dunklen Lord in den Krieg folgen wird, wenn er seine Existenz nicht länger bedroht sieht."
„Du hast dir viele Gedanken dazu gemacht, oder?", fragte Neville anerkennend.
Harry nickte. „Seit meinem ersten Kontakt mit der magischen Welt."
Neville schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Selbst Gran schimpft davon, dass wir immer mehr unserer Kultur einbüßen und die Feste der Muggel übernehmen. Wahrscheinlich verstehe ich nur die Hälfte von dem, was du sagst, aber ich denke, du bist auf einem guten Weg."
Harry lächelte ihm dankbar zu. Und auf einmal hatte Neville das Gefühl, dass der Abstand der Jahre und Erfahrung zwischen ihnen irgendwie nicht zählte. Zumindest nicht da, wo es wichtig war.
Durch ein Portal betraten sie einen großen Saal mit hoher Decke. Die Wände waren mit weißem Putz und glänzendem Holz verkleidet. Daran aufgehängt waren farbige Banner und Waffen.
Harry nickte ihm zu. „Das Waffenzimmer."
Neville betrachtete den Raum und er sagte ihm...nichts. Da war keine Vertrautheit, kein Funken Erinnerung. Er schritt an den Waffen entlang, doch auch dort gab es nichts Bekanntes. Es kam ihm vor, als betrete er den Raum zum ersten Mal.
Sie erreichten eine Tür aus dunklem Holz, in die eine Ansicht von Hogwarts geschnitzt war.
Harry nickte in Richtung der Klinke. „Nach dir."
Neville wappnete sich für den Anblick und öffnete die Tür. Der Raum dahinter war...einladend. Warme Holztöne bedeckten Boden und Teile der Wände. Gewebte Teppiche in gedämpften Farben gaben dem Zimmer etwas Wohnliches. Große Fenster, die wohl einst hinaus auf die Ländereien geblickt hatten, zeigten jetzt die blauen Tiefen des Sees von Hogwarts. Doch das Auffälligste waren die Pflanzen. Auf den Fensterbänken, auf dem Tisch und in Ranken um die Fenster gewunden, erfüllten sie den Raum mit Leben und Blütenduft.
Ungläubig trat Neville näher. „Sie...sie sind gar nicht vertrocknet. Nach tausend Jahren sollte nicht mehr als Staub von ihnen übrig sein."
In Harrys Stimme lag ein Lächeln. „Jemand muss einen Stasis-Zauber darüber gesprochen haben."
Neville nickte. Seine Kehle fühlte sich trocken an, als er seine Hände durch die Pflanzen gleiten ließ. „Ich wusste gar nicht, dass Godric Gryffindor Pflanzen mochte."
„Er hatte nie Gelegenheit, die Kunst der Kräuterkunde zu erlernen. Aber er hat mir und Helga immer gerne zugesehen."
Einen zögerliches Lächeln schlich sich auf Nevilles Gesicht. Mit einem Mal fühlte er sich dem Gründer nicht mehr ganz so fremd. Sein Blick glitt zu einem Schwert, das an der Wand befestigt war. „Ist das...?"
„Ja, das ist das Schwert von Gryffindor."
Neville trat näher, strich ungläubig über die glänzende Klinge. Die eingelassenen Rubine schimmerten im sanften Licht und der Löwe auf der Parierstange hatte sich majestätisch, bereit zum Sprung, auf die Hinterbeine erhoben. Darüber funkelte in eleganten Lettern der Name des Eigentümers: Godric Gryffindor.
Lange Zeit stand Neville einfach nur davor und betrachtete es. Dann schritt er weiter und öffnete die Tür zu einem angrenzen Raum. Das Bett, die Größe der Kleidertruhe, ließen nur einen Schluss zu. Godric Gryffindor hatte alleine gelebt. Es hatte keine Frau und keine Kinder gegeben.
Unvermittelt spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Godric war ein Kämpfer, der stets in der ersten Reihe stand, wenn es darum ging, die Seinen zu verteidigen. Er wagte es nicht, eine Frau und Kinder in sein Leben zu lassen, aus Angst, er müsste sie eines Tages allein zurücklassen." Harrys Stimme war sanft. „Als wir Hogwarts gründeten, hatte er bereits eine Tochter und seine junge Frau bei einem Angriff verloren. Ich denke, er hat nie ganz aufgehört zu trauern."
Neville versuchte das zu erfassen, was ihm der Freund gerade gesagt hatte. Es hatte eine Frau und eine Tochter gegeben. Und er konnte sich weder an ihre Gesichter noch an ihre Namen erinnern. Warum erinnerte er sich nicht? Aus brennenden Augen blickte er sich in dem kleinen Raum um.
„Noch vor der Gründung von Hogwarts wurde Godric im Kampf schwer verwundet", sagte Harry leise. „Helga hätte es vielleicht geschafft, ihn zu retten, doch auch sie wurde während des Angriffs verletzt. Um dich zu retten, tauschten wir ein Stück unserer Seele. Daher unsere Verbindung. Und ich denke, das ist auch der Grund, warum sich deine Erinnerungen auf mich und auf die Gründung Hogwarts konzentrieren. Die meisten Menschen erfahren niemals, dass sie wiedergeborenen wurden. Den wenigstens gelingt es überhaupt, ihre Vergangenheit zu erahnen."
„Bis auf dich", murmelte Neville mit einem kleinen Lächeln.
Harrys Augen blitzten. „Leider gibt es keine Möglichkeit, sicher mit dem Todesfluch zu experimentieren. Ich wüsste zu gerne, ob sich das Phänomen meiner ganzheitlichen Erinnerung ausweiten ließe..."
Erschreckt sog Neville die Luft ein. „Salazar!"
Hellgrüne Augen blickten ihn an.
Im selben Moment wurde es auch Neville bewusst. „Das habe ich öfter getan, oder?"
Auf Harrys Gesicht erschien ein belustigtes Lächeln. „Vereinzelt könnte das vorgekommen sein."
Und wenn sich Neville an kaum etwas erinnern mochte, er wusste mit Sicherheit, dass das eine Untertreibung gewesen war.
Beide Jungen lachten befreit auf.
Dann lächelte ihm Harry zu. Der Blick seiner hellgrünen Augen war voll Wärme „Egal ob mit Erinnerungen, oder ohne. Ich bin froh, dass du hier bist."
Neville legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er erwiderte nichts.
Aber das war auch nicht nötig. Er wusste, dass Harry auch so verstand.

Harry Potter und die Rückkehr des SchlangenlordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt