Eine Rückkehr nach Hause

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Viele, viele Male hatte Salazar eine neue, erste Klasse in Empfang genommen. Er kannte das ängstliche und aufgeregte Wispern, die aufgeregten Augen und die blassen Gesichter, hin und her gerissen zwischen Freude und Selbstzweifel. Niemals hätte er sich träumen lassen, einmal selbst dazu zu gehören. Sich in die Häuser einsortieren zu lassen, die er und seine engsten Freunde gemeinsam erschaffen hatten, war ein seltsames und unwirkliches Gefühl.
"Bestimmt komme ich nach Hufflepuff", murmelte Neville. "Gran sagt, da kommen alle hin, die nicht so begabt sind."
"Glaube nicht, dass menschliche Stärken wie Treue, Loyalität und Freundschaft weniger wert sind als die Gabe der Magie", widersprach Salazar entschieden. "Wäre Helga Hufflepuff nicht gewesen, Hogwarts wäre niemals gegründet worden. Sie war es, die die Gründer zusammenhielt, die den Streit zwischen ihnen schlichtete und die sie stets dazu anstachelte, weiter zu machen und nicht aufzugeben. Ihrer Freundlichkeit und Wärme ist es zu verdanken, dass Hogwarts nicht nur eine Schule, sondern auch ein Zuhause ist. Und sie wusste, dass reines Talent nicht entscheidend ist, wenn jemand nur bereit ist, ständig an sich zu arbeiten."
Hermine schaute ihn mit offenem Mund an. "Woher hast du das?", fragte sie aufgeregt. "Ich habe die 'Geschichte von Hogwarts' dreimal gelesen! Und trotzdem habe ich keine Stelle gefunden, an der die Persönlichkeiten der Gründer so beschrieben werden."
"Ich glaube, es heißt, 'Die Gründer von Hogwarts und ihre Zeit'", log Salazar ohne zu zögern. Dann lächelte er verlegen. "Ich hoffe, ich habe es eingepackt. Wenn ich es finde, dann leihe ich es dir gerne." Hermine musste nicht wissen, dass ein solches Buch erst noch geschrieben werden musste.
Eine streng blickende Frau, gewandet in einen smaragdgrünen Umhang, unterbrach ihr Gespräch. Nach einer kurzen Ansprache wurden sie in die Große Halle geführt. Hier hatte sich nichts verändert. Noch immer standen die vier Tische der Häuser dort, wo sie stehen sollten, die Halle blitzte im Licht hunderter von Kerzen und die Decke, die die vier Freunde gemeinsam verzaubert hatten, zeigte den abendlichen Sternenhimmel. Für einen Moment erwartete er beinahe, dass Godric auf ihn zuschreiten würde, um ihn zur Begrüßung in eine brüderliche Umarmung zu schließen. Helga würde ihm strahlend zulächeln, ihn bei den Händen fassen und ihn fragen, ob es ihm gut ginge und Rowena würde ihn in ein wissenschaftliches Gespräch über ihr neuestes Forschungsobjekt ziehen.

Aber die Gründer waren nicht hier. Tausend Jahre trennten Salazar von seinen Freunden und anstelle der vier thronartigen Stühle, stand nur noch einer am Lehrertisch. Für einen Moment kam er sich sehr einsam vor.
Die grün gewandete Hexe, die sich als Professor McGonagall vorgestellt hatte, positionierte einen Stuhl in der Mitte der Halle und setzte einen Hut darauf, der Salazar nur allzu bekannt war. Mittlerweile war er kaum noch mehr als ein alter Lumpen, aber dennoch freute es den wiedergeborenen Zauberer, dass der Hut all die Zeiten überdauert hatte. Professor McGonagall begann die Schüler nach und nach in alphabetischer Reihenfolge aufzurufen.
Abott, Hannah, ein freundlich aussehendes Mädchen mit rundem Gesicht, wurde nach Hufflepuff gesteckt. Bones, Susan, eine rothaarige, selbstbewusst wirkende junge Frau, folgte ihr in dasselbe Haus. Crabbe, Vincent, kam nach Slytherin und erweckte damit in Salazar eine dunkle Vorahnung, die durch Goyle, Gregory, bestätigt wurde. Kurze Zeit später wurde Hermine aufgerufen. Der Hut brauchte eine ganze Weile für seine Entscheidung und sortierte sie schließlich nach Gryffindor. Eine glückliche und sichtlich erleichterte Hermine winkte ihm zu, bevor sie sich an den Tisch der Löwen gesellte. Salazar stöhnte, als Malfoy, Draco ebenfalls nach Slytherin gesteckt wurde. Warum bekam er die ganzen schwierigen Fälle ab? In früherer Zeit hatte er Godric dafür ausgelacht, dass er mit den ganzen Heißspornen umgehen musste. Salazar hatte die Eigenschaften seines Hauses so gewählt, dass er die Kinder darin nicht nur unterrichten konnte, sondern sie ihn dabei auch noch nicht langweilen würden. Einfallsreichtum, List und große Ambitionen waren ein Garant für interessante Persönlichkeiten und ehrgeizige Schüler. Von Gedankenlosigkeit und mangelndem Taktgefühl hatte niemand etwas gesagt! Er war so ärgerlich, dass er beinah seinen eigenen Aufruf verpasst hätte. Professor McGonagall räusperte sich vernehmlich und er schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. Mit einem Mal war Stille über die Große Halle gesunken und Salazar wurde wieder einmal daran erinnert, dass sein Name in diesem Leben nicht weniger bedeutend war als in seinem letzten. Nur, dass er dieses Mal nichts dafür getan hatte.
Er setzte sich auf den Stuhl und McGonagall ließ den Hut auf seinen Kopf sinken. Die Krempe rutschte über seine Augen und die Welt verschwand in Dunkelheit.

"Warum, bei den Wesen der Anderswelt, hast du Malfoy nach Slytherin gesteckt?", wütete er sogleich los.
"Der Junge ist zweifelsfrei einfallsreich, wenn es darum geht, andere zu schikanieren. Und er möchte den Ruhm der Familie Malfoy mehren. Das ist auf jeden Fall ambitioniert. Da er zwar nicht dumm ist, sich aber standhaft weigert, selbstständig zu denken, ist Ravenclaw keine Wahl. Besonders loyal und arbeitsam oder mutig ist er auch nicht, und deswegen bleibt wohl oder übel nur Slytherin für ihn übrig." Der Hut gab einen grummelnden Laut von sich. "Ich kann ihn ja schlecht wieder nach Hause schicken."
"Das ist allerdings sehr schade", stimmte Salazar ihm zu.
Plötzlich hielt der Hut inne. "Moment ... ich verrate niemandem, was ich in dem Kopf eines anderen gesehen habe ..."
"Ist das so? Warum dann bei mir diese Ausnahme?", fragte der wiedergeborene Zauberer unschuldig.
"Das ist eine gute Frage", murmelte der Hut. "Eine sehr gute ..." Er räusperte sich vernehmlich. "Aber jetzt zu dir, Harry Potter.
Mit einem Grinsen baute Salazar seine Okklumentikschilde auf.
"Ich sehe Loyalität in dir. Freundschaft ist dir sehr wichtig. Und du bist bereit, hart für deine Ziele zu arbeiten."
"Das kann nur bedeuten ... HUFFLE-"
Salazar gab einen anderen Teil seines Verstandes frei und der Hut hielt überrascht inne. "Moment! Das war gerade noch nicht da. Du bist belesen und vielseitig interessiert. Du verlässt dich auf deinen Verstand und bist bereit, stets Neues zu lernen. Du bist ganz eindeutig ein RAVEN-"
Und wieder verbarg Salazar andere Segmente in seinem Geist und hob andere hervor. "Was bei Merlin ist das ... ich sehe die Bereitschaft gegen Ungerechtigkeit vorzugehen und für andere in den Kampf zu ziehen ... und da ist der Wunsch zu beschützen ..." Unsicher hielt der Hut inne. "Was soll das?!", heulte er auf. "Warum bist du plötzlich ein Gryffindor? Gerade warst du noch ein Ravenclaw! Wie kannst du all das auf einmal sein?!"
Salazar zeigte Erbarmen und ließ den Hut unverhüllt in seinen Geist schauen. Er spürte wie der Hut zusammen zuckte. "Ambitionen, List, Einfallsreichtum, Reichtum an Ressourcen ...i ch habe noch nie jemanden getroffen, der die Ideale Slytherins so sehr verkörpert, wie du. Nicht, nachdem ich auf den Köpfen der Gründer selbst saß." Er stockte.
"Lord Slytherin?", fragte er leise.
"Ich bin wieder Zuhause, Merlinus." Natürlich hatten Godric und Helga nicht gezögert, den Hut nach dem berühmtesten aller Zauberer zu benennen. Salazar musste bei der Erinnerung schmunzeln.
Ein Zittern ging durch den alten Lumpen. "Ich ... ich hätte niemals geglaubt, einen von euch noch einmal wieder zu sehen", flüsterte er heiser. "Es ist wie ein Traum."
Salazar spürte, wie Tränen von der Hutkrempe auf seinen Umhang rollten. "Es ist schon gut, mein Freund."
"Nichts ist gut" widersprach der Hut und schniefte heftig. "Slytherin wurde seit Voldemort zu einem Haus des Bösen erklärt. Ihr selbst wurdet zu einem dunklen Zauberer denunziert, obwohl Ihr Euch für Hogwarts geopfert habt ... und ich ... ich singe jedes Jahr von Freundschaft zwischen den Gründern und niemand glaubt mir!"
"Wir kriegen das schon hin. Slytherins Ruf wird sich schon bald verbessern."
Ein Schaudern ging durch den Hut. "Ich bin davon überzeugt. Jetzt, wo Ihr wieder da seid, wird alles gut."
Sacht strich Salazar über die Krempe des alten Hutes, den alle vier Gründer mit ihrer Magie erfüllt hatten. "Ich danke dir für dein Vertrauen. Ich habe dich vermisst, mein Freund."
"Ich Euch auch!", schniefte der Hut unter Freudentränen "Ihr wisst nicht wie sehr. Trotzdem! Wie konntet Ihr mich so hereinlegen?", Salazar spürte einen freundschaftlichen Klaps von der Krempe des Hutes.
Der Gründer Slytherins lächelte. "Irgendjemand muss dich auf deine alten Tage ja fordern."
"Oh, macht Euch um mich keine Sorgen! All die Erstklässler halten mich hervorragend auf Trab! Und den Rest des Jahres sitze ich in Dumbledores Büro und lausche politischen Diskussionen!"
Salazar grinste wölfisch. "Das scheint dir gerade nicht geholfen zu haben."
"Ihr seid Salazar Slytherin. Ihr zählt nicht", gab der Hut etwas steif zurück. "Was mich noch viel mehr verwundert", meinte der Hut und zog sich voll Neugier um ihn zusammen. "Woher habt Ihr all diese Eigenschaften? Ich hätte Euch ohne weiteres auch in ein anderes Haus stecken können, wenn Ihr mir den Rest nicht gezeigt hättet!"
Wehmütig strich Salazar über die Krempe. "Glaubst du wirklich, wir vier hätten so lange miteinander leben können, ohne voneinander zu lernen?"
Sie beide schwiegen eine Weile und hingen alten Erinnerungen nach. Irgendwann wurde es unruhig in der Großen Halle und erstes Geflüster wurde laut.
"Ich denke, es ist Zeit", sagte Salazar. "Kannst du mich in mein Haus einsortieren?"
"Natürlich, mein Lord. Willkommen zurück in ... SLYTHERIN!"

Auf die Ansage folgte bleiernes Schweigen. Salazar konnte die Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren, fast körperlich spüren, als er sich zum Tisch der Schlangen aufmachte. Dumbledore klatschte entschlossen gegen die Stille an und nach und nach schlossen sich ihm die anderen Lehrer an. Nur ein Mann in Schwarz hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte Salazar an, als wäre er seine persönliche Strafe. Salazar hob die Augenbrauen. Er kannte den Mann. Er war es gewesen, der sein Stofftier in eine echte Schlange verwandelt hatte. Wenn er zum Lehrerstab gehörte, war es kein Wunder, dass Dumbledore ihn persönlich abgeholt hatte. An diesem Abend hatte Salazar dem Mann ganz bewusst dafür Alpträume bescheren wollen, dass er einen solchen Zauber auf ein scheinbar ahnungslosen Kind anwendete. Dass ein solcher Mann ein Lehrer in seiner Schule sein sollte, gefiel ihm nicht sonderlich. Und er wusste nicht, was er von dem Verhältnis dieses Mannes zu Dumbledore halten sollte. War der Schulleiter am Ende in die Sache verwickelt? Er beschloss, die beiden im Auge zu behalten.
Er trat an den Tisch der Slytherin und ließ sich auf einen freien Platz fallen. Auch hier umfing ihn unsicheres Schweigen. "Bist du nicht am falschen Tisch, Potter?", spie ihm ein großer, bulliger Junge mit schiefen Zähnen entgegen.
Wenn das hier der Tisch des Hauses Slytherin ist, bin ich hier richtig", antwortete Salazar unbeeindruckt. "Mit wem habe ich die ... Ehre?"
"Marcus Flint. Ich bin der Kapitän des Quidditch-Teams von Slytherin."
Salazar hob eine Augenbraue. "Hättest du nicht gerade versucht, mich zu beleidigen, wäre ich womöglich beeindruckt."
Flint gab ein Knurren von sich, antwortete aber nicht.
"Potter ist hier wirklich falsch", äußerte sich eine arrogante Stimme und Salazar bat den Himmel um Geduld, während er seinen Blick auf Draco Malfoy richtete. "Schon im Zug hat er Granger und Longbottom beschützt", fuhr der Junge fort. Seine Augen verengten sich. "Blutsverräter haben hier keinen Platz, Potter."
"Aber Leute, die jeden beleidigen, der nicht bei drei auf den Bäumen ist schon?", fragte Salazar interessiert. "Wie viele waren es heute, Malfoy? Longbottom, Granger und mich? Oder waren noch mehr dabei, die ich nur nicht mitbekommen habe?" Milde besorgt runzelte er die Stirn. "Bei der Quote kann sich niemand öffentlich mit dir zeigen, der um sein Ansehen besorgt ist. Hast du vor, das Ansehen deiner Familie zu mehren, in dem du immerzu Beleidigungen verteilst?"
Der Malfoy-Erbe stampfte mit dem Fuß auf. "Ich verweise Menschen auf ihren rechtmäßigen Platz!"
"Wie erfreulich, dass du weißt, wohin jeder Mensch gehört", sagte Salazar ironisch. "Das wird so manchen armen Tropf aus seiner Sinnkrise befreien."
Er hörte ein Kichern und schaute zur Seite. Daphne Greengrass, das Mädchen aus dem Zug, hielt sich eine Hand vor den Mund und ihre blauen Augen funkelten belustigt.
"Das ist nicht lustig", heulte Draco, hielt aber widerwillig inne, als Professor McGonagall dem Tisch einen strengen Blick zuwarf. Es waren noch nicht alle Schüler einem Haus zugeteilt. Schließlich schloss die Hauslehrerin von Gryffindor mit dem Namen, Zabini, Blaise, einem dunkelhäutigen Jungen, der Slytherin zugeteilt wurde und nicht gleich auf den ersten Blick eine Enttäuschung war. Zumindest hatte er die Höflichkeit zu lächeln, sich vorzustellen und ein paar Hände zu schütteln.
Schließlich erhob sich Dumbledore und eröffnete das Festessen.
Salazar freute sich, dass einige von Helgas Rezepten offenbar die Zeit überdauert hatten. Als er in ein Stück Hähnchenkeule mit Waldbeersoße biss, konnte er sich förmlich vorstellen, wie die vermisste Freundin mit einem stolzen Lächeln ihre neusten Kreationen mit den Hauselfen diskutierte.
Was ihn zu der nächsten Frage führte: Wo waren die Hauselfen?
Die Art, wie das Essen auftauchte, ließ keinen Zweifel daran, wer für die Zubereitung der Speisen verantwortlich war. Hauselfen aßen nicht. Sie ernährten sich ausschließlich von Magie. Aber das hatte sie früher nicht daran gehindert, bei den Mahlzeiten hinzu zu stoßen und sich mit Schülern und Lehrern zu unterhalten. Ganz besonders hatte es sie begeistert, wenn neue Schüler ins Schloss gekommen waren, die sie kennen lernen und unter ihre Fittiche nehmen konnten. Was war geschehen? Nach den Erfahrungen in Gringotts konnte Salazar nicht anders, als sich zu sorgen.
Dann hörte er eine Stimme von der Seite und für einen Moment kamen die Geister der Vergangenheit zur Ruhe. "Es scheint als wären viele Idioten in unserem Haus gelandet", sagte Daphne mit gesenkter Stimme, während sie ihren Fisch sezierte wie eine Königin.
Zabini beobachtete sie dabei mit unverhohlener Bewunderung und schnappte sich kurzentschlossen ebenfalls ein Stück Fisch.
"Ich habe noch nicht alle Hoffnung aufgegeben", gestand Salazar. "Vielleicht merkt Malfoy bald, dass in Hogwarts alle gleich behandelt werden?"
"Nur eine Information nebenbei", bemerkte Daphne sarkastisch. "Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, aber Professor Snape, der Hauslehrer von Slytherin, ist Malfoys Pate."
Salazar warf einen Blick an den Lehrertisch. "Der Mann vollkommen in Schwarz?"
Sie aß einen Bissen Fisch. "Jep."
Salazar widerstand den Drang, seinen Kopf gegen die Tischplatte zu hämmern.
"Stimmt es, dass er Slytherin immer bevorzugt?", fragte ein unscheinbarer, blasser Junge mit krausem Haar. Als alle ihn anstarrten, lief er rot an und fuhr verlegen mit der Hand durch seine hellbraunen Locken. "T-Theodore Nott. H-Hallo."
Daphne neigte den Kopf. "Hallo Theodore. Um auf deine Frage einzugehen, ja, das tut er und zwar ständig." Sie rollte mit den Augen. "Nach allem was man hört, sind wir in seinem Unterricht kleine Götter." Sie warf einen Blick in Richtung Malfoy. "Er wird bestimmt der neue Merlin."
Zabini säbelte an seinem Fisch herum. "Ich könnte gerade einen Merlin gebrauchen. Wo ist denn all das Fleisch hin? Das Ding besteht ja nur aus Gräten!"
Daphne warf ihm einen belustigten Blick zu. "Zeig mal her."
Salazar beobachtete die beiden eingehend. Blaise Zabini hatte sich durch seine Aktionen ganz bewusst in die Nähe der einflussreichen Reinblüterin gebracht. Und Daphne wusste, dass er es absichtlich getan hatte. Zumindest zwei seiner Slytherin waren nicht aus bloßer Verzweiflung in seinem Haus gelandet.
Ein kalter Windhauch ging durch die Große Halle. Im nächsten Moment schwebten perlweiße Gestalten heran. Ihre durchscheinenden, altertümlichen Gewänder waren wie Nebel und ohne Widerstand drangen sie durch Tische und Stühle. Niemand, mit Ausnahme der Erstklässler, schien beunruhigt. Scheinbar gehörten die Geister zum Inventar. Salazar betrachtete die Neuankömmlinge genauer und das Herz blieb ihm stehen. Er kannte zwei der Gestalten. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren sie lebendig gewesen. Er hatte geglaubt, dass sie ihr Leben noch vor sich hatten. Sie jetzt, so jung, als durchscheinende Gestalten zu sehen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Verzweifelt blickte er zu der stillen, in sich gekehrten Dame, die kalt und unnahbar über den Tisch von Ravenclaw schwebte. So wenig hatte sie gemein mit dem fröhlichen, wissbegierigen Mädchen, das er kannte. Und dann war da Sanguil. Das Haar war so lang und ungebändigt, wie es sein eigenes in seinem früheren Leben gewesen war. Er trug den Reiseumhang, den sie sich bei einem gemeinsamen Ausritt besorgt hatten. Nun war der Umhang voller Blut und Ketten rasselten an den viel zu bleichen Händen. Die Stimme seines Sohnes hatte nichts von dem temperamentvollen Mann, den er zu dessen Lebzeiten gekannt hatte. Seine Bewegungen waren gemessen und strahlten eiserne Selbstkontrolle aus. Der Geist schwebte zwischen die Erstklässler und neigte den Kopf. Für einen Moment begegneten sich Salazars und seine Augen, doch kein Erkennen lag in seinem Blick. "Ich grüße euch, Erstklässler", sagte der Geist, sein Sohn, mit ruhiger, dunkler Stimme. "Man nennt mich den Blutigen Baron und ich bin der Hausgeist von Slytherin. Wenn ihr eine Frage habt, stehe ich euch gerne zur Verfügung."
"Habt Dank, Herr Baron", erwiderte Blaise fasziniert, während Theodore Nott vor Schreck seinen Kürbissaft verschüttete. Salazar brachte kein Wort heraus. Innerlich zitternd blickte er in das durchscheinende Gesicht seines Sohnes. Sanguil hatte kein glückliches Leben geführt. Er hatte einen gewaltsamen Tod gefunden. Und es konnte nicht lange nach Salazars eigenem Ableben gewesen sein. Er hatte seinen Sohn nicht schützen können.
Sanguil, der Blutige Baron, blickte ihn an, deutete seine Reaktion aber vollkommen falsch. "Harry Potter, nicht wahr?", fragte er leicht amüsiert. "Wo Sie bereits dem Dunklen Lord ins Antlitz geblickt haben, werden Sie sich wohl an meinen Anblick gewöhnen."
Salazar würde sich nie daran gewöhnen. Immer würde es ihn innerlich zerreißen, seinen viel zu früh verstorbenen Sohn gefangen zwischen Leben und Tod zu sehen. Doch er saß inmitten von Erstklässlern und neugierige Blicke waren auf ihn gerichtet. "Es war nur der Schreck", brachte er hervor und starrte auf seinen Teller. "Ich wollte nicht unhöflich sein."
Daphnes Augen funkelten. "Der große Harry Potter hat also Angst vor Geistern?", fragte sie neckend.
Salazar zwang sich zu einem Lächeln. „Findest du es nicht weise, dich vor etwas zu fürchten, dass du nicht töten kannst?"
Die Freude an dem Festessen war ihm vergangen.

XXX

Severus Snape starrte auf den Jungen, der den sprechenden Hut zum Weinen gebracht hatte. Nie, aber noch nie hatte er erlebt, dass so etwas jemals passiert er. Er warf Dumbledore einen fragenden Blick zu, doch der alte Zauberer schüttele nur stumm den Kopf. Langsam ließ Snape die Luft aus seinen Lungen entweichen. Wenn selbst Albus dergleichen noch nie erlebt hatte, dann musste das wirklich etwas bedeuten. Er beobachtete, wie der Junge auf den Tisch der Slytherin zuschritt und sich seelenruhig auf einen freien Platz setzte. Da war keine Spur von der üblichen Nervosität eines Erstklässlers. Wenn überhaupt, dann wirkte Potter gedankenverloren, so als hinge er alten Erinnerungen nach. Dabei strahlte er Ruhe aus und fast so etwas wie ... Autorität. Dann setzte er sich und Snape konnte förmlich spüren, wie sich die Konstellation an dem Tisch der Schlangen veränderte. Bisher hatte Slytherin aus dunklen und neutralen Familien bestanden. Während sich die neutralen Familien zurückhielten, waren es erfahrungsgemäß die dunklen, deren Einfluss innerhalb des Hauses am stärksten zu spüren war. Nun aber, mit einem Potter unter ihnen, lagen die Augen der neutralen Familien auf dem Jungen. Sogar einige als eher dunkel geltende Familien schienen sich zurückzuhalten und die Fronten zu begutachten, die sich zwischen Malfoy und Potter bildeten. Dann sagten Malfoy und Flint etwas zu dem Potter-Jungen. Snape konnte die Worte nicht hören, doch ihre Mienen waren gehässig und feindselig. Was immer der Junge entgegnete, er sagte es vollkommen ruhig. Und seine Worte wirkten. Snape konnte es an den Gesichtsausdrücken der Slytherin erkennen. Erneut veränderte sich die Dynamik am Tisch. Schon in diesem ersten Moment hatte Potter viele Verbündete gewonnen. Und so seltsam es auch war, Snape hatte den Eindruck, dass sich der Junge dessen bewusst war. Er begann ein unverfängliches Gespräch mit Daphne Greengrass, Blaise Zabini und zu seiner Überraschung auch Theodore Nott. Die kultiviert-höfliche Art, die der Junge dabei an den Tag legte, ließ ihn deutlich älter erscheinen als seine Jahre. Er wirkte ganz wie ein reinblütiger Zauberer, der auf professionelle Weise nach Verbündeten suchte. Und eben dieses professionelle Verhalten erfüllte Severus Snape mit Sorge. Wie naiv er doch gewesen war. Vor einigen Jahren hatte er noch geglaubt, es mit einem Ebenbild von James Potter zu tun zu bekommen. Und es stimmte. Äußerlich war der Junge seinem Erzfeind wie aus dem Gesicht geschnitten. Und dennoch war Potter viel mehr als das. Vor seinem inneren Auge tauchte ungewollt ein Bild aus seinen Erinnerungen auf. Das Bild eines kleinen Jungen, der wie nebenbei eine Schlange streichelte, während hellgrüne Augen, lodernd in einem eisigen Feuer auf ihn gerichtet waren. Selbst der Gedanke daran ließ ihn frösteln. Erneut tauschte er einen Blick mit Dumbledore. Auch der Schulleiter bedachte den Jungen mit einem Stirnrunzeln.
Wer auch immer Harry Potter war. Er war ganz gewiss kein gewöhnlicher, kleiner Junge.
Und es blieb die Frage: Warum bei Merlin und Salazar hatte der sprechende Hut geweint?

Harry Potter und die Rückkehr des SchlangenlordsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt