Der verbotene Wald lag still in der Dämmerung, jener Zeit, in der der Schleier zwischen den Welten am dünnsten war. Ein schwarzer Umhang rauschte über trockenes Laub. Eine blasse Hand streckte die Finger aus und die Flammen eines Ritualkreises loderten auf. Dunkler Gesang erfüllte das Zwielicht und vertrieb selbst die gefährlicheren Geschöpfe des Waldes. Dann wallte dichter Nebel aus dem Kreis und der Zauberer verzog die Lippen zu einem triumphierenden Lächeln.
Eine einzelne Gestalt trat daraus hervor. Sie selbst war durchsichtig wie der Nebel ringsum und schwebte körperlos über dem Boden, ohne ihn zu berühren. Auch wenn diese Gestalt vielen Generationen von Hogwarts als der Blutige Baron bekannt war, hätten sie ihn nur schwerlich wiedererkannt. Die Ketten fehlten, genau wie das Blut. Und anstelle von Gram lag Frieden auf den perlweißen Zügen. Suchend blickte sich der Geist um, bis er den Beschwörer entdeckte. Dann riss er die Augen auf. „Savertin?!"
Der Zauberer verschränkte zufrieden die Arme. „Hallo Sanguil."
Der Geist im Ritualkreis blickte entsetzt. „Hast du gerade ernsthaft ein nekromantisches Ritual durchgeführt?"
Savertin wirkte wenig beeindruckt. „Bist du freiwillig hier, oder nicht? Ich habe dich nicht gezwungen, meinem Ruf zu folgen."
„Bist du von Sinnen!? Was, wenn Vater davon erfährt?"
Das gab Savertin zu denken. „Ich war sehr vorsichtig in der Vorbereitung. Ich glaube nicht, dass er etwas herausgefunden hat."
Sanguil hob beide Augenbrauen. „Glaubst du das wirklich?"
Savertin schwieg. „Wie auch immer. Ich bin nicht hier, um mich mit dir zu streiten."
Das entlockte Sanguil ein Lächeln. „Ach so? Ausnahmsweise einmal nicht?"
„Vielleicht ja doch", murmelte Savertin und blickte den Geist düster an. „Aber erst, nachdem ich mich entschuldigt habe."
Der jüngere der Brüder legte den Kopf schief. „Entschuldigen? Für was genau? Da fallen mir viele Dinge ein."
„Sanguil!", rief Savertin und ließ noch die letzten unter den verbliebenen Vögeln die Flucht ergreifen. Er massierte sich die Schläfen. „Du bringst mich noch ins Grab."
„Komisch, dabei hast du mich gerade daraus hervorgeholt."
Savertin biss die Zähne zusammen. „Und ich beginne gerade, es zu bereuen. Halt einmal den Mund, du Plage von einem kleinem Bruder. Glaube nicht, dass mir das hier leicht fällt."
Das brachte Sanguil tatsächlich zum Verstummen. Aufmerksam blickte er auf seinen Beschwörer herab.
„Ich habe viele Fehler gemacht, einer schlimmer als der andere. Und du ... du hast dich für mich geopfert."
„Du hattest noch die Chance auf ein Leben, Savertin", sagte der Blutige Baron ruhig. „Und für mich war es Zeit, diese Welt endlich zu verlassen. Es war kein Opfer. Es war eine Chance für uns beide."
Savertin ballte die Hände zu Fäusten. „Du hast mir nicht einmal die Chance gegeben, mich bei dir zu bedanken, du Idiot."
Der Geist zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, das erspart uns beiden peinliche Momente. Aber bitteschön, du musstet mich ja beschwören und es darauf anlegen."
Gepeinigt seufzte Savertin auf. „Ist das deine Art der Rache, Sanguil?"
Der Geist verengte die Augen. „Rache? Ich weiß nicht, was du meinst. Mein Bruder ist abgehauen, als ich gerade meinen Vater verloren hatte, um einen obskuren Rachefeldzug gegen Muggel durchzuführen. Und im nächsten Leben hatte dieser Bruder nichts besseres zu tun, als diesen Rachefeldzug fortzusetzen und gegen die Wiedergeburt eben jenes Vaters zu kämpfen. Mit Rache, Savertin, bin ich fertig."
Der einstige Dunkle Lord schwieg eine ganze Weile. „Das ist es, wofür ich mich entschuldigen wollte. Dafür, dass ich dich allein gelassen habe. Obwohl du mir schon damals gesagt hast, dass das, was ich tat, nie in Vaters Sinne gewesen wäre. Und dafür, dass ich es in diesem Leben fortsetzte."
Sanguils Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. „Kaum zu glauben, dass du der Musterschüler von uns beiden warst." Dann wurde seine Miene ernst. „Ich bin froh, dass du so denkst. Und ich wünsche dir alles Glück der Welt, Bruder."
Savertin holte tief Luft. „Ich werde ein Arzt werden. Unter den Muggeln. Vater hat bereits alles arrangiert. Marcus Flint, Terence Higgs und Miles Bletchly werden mit mir kommen. Ich bin ab sofort für den Abschluss ihrer Ausbildung verantwortlich. Bald schon werden wir Hogwarts verlassen."
Sanguil lachte. „Geschieht dir recht. Pass auf, hinterher lernst du sogar, wie Vater, eine sympathische Muggelfrau kennen?"
„Untersteh dich!", rief Savertin entsetzt. Dabei vergaß er für einen Moment, das Ritual aufrecht zu erhalten. Fluchend griff Savertin nach den Fäden der Magie, bekam sie aber nicht mehr zu fassen. Sofort verloren Sanguils Züge an Stofflichkeit.
„Leb wohl, großer Bruder", sagte der Geist warm. „Und versuche zumindest, Vater keinen Ärger mehr zu machen, ja?" Sanguils Stimme verblasste immer mehr, bis sie nicht mehr war als ein schwacher Windhauch.
Savertin nickte. Ein Knoten lag in seiner Kehle und hinderte ihn am sprechen. Mit brennenden Augen beobachtete der einstige Dunkle Lord, wie die Konturen seines Bruders immer mehr verschwanden. Dann stand Savertin Slytherin allein in der Dunkelheit. Aber in seinen Augen lag ein Frieden, der zuvor nicht dort gewesen war. Mit wehendem Umhang wendete er sich ab und schritt auf die erleuchteten Türme von Schloss Hogwarts zu.
Und während sich Savertin auf den Weg nach Schloss Hogwarts begab, wurde tief in den Kerkern die Tür zu Snapes Räumlichkeiten aufgerissen.
Severus Snape war mitten im Brauvorgang, um die stark in Mitleidenschaft gezogenen Vorräte an Stärkungstränken aufzufüllen. Dementsprechend unwillig sah er von seiner Arbeit hoch, um in das entschlossene Gesicht von Sirius Black zu blicken.
„Um es endlich einmal zu sagen: Das, was wir als Teenager gemacht haben, war nicht in Ordnung. Snape mochte Lily, du warst ein Slytherin und wir haben nicht darüber nachgedacht. Wir waren Idioten."
Snape war so überrascht, dass er zu viel Johanniskraut in den Kessel gleiten ließ. Sofort zischte die Flüssigkeit bedrohlich und stinkender Qualm erfüllte die Luft. Der Tränkemeister fluchte. Er brauchte Alraunensud aus seinen Vorräten, um den Trank zu stabilisieren. Aber wenn er jetzt aufhörte zu rühren, würde die Flüssigkeit überschäumen.
Eine Schranktür öffnete und schloss sich und einen Moment später streckte ihm Sirius das Gewünschte entgegen.
„Was?", fragte der Animagus. „Glaubst du etwa, ich habe meine guten Noten in Hogwarts allein durch mein charmantes Lächeln bekommen?"
„Ehrlich gesagt habe ich genau das angenommen."
Entrüstet blickte ihn Sirius an. Davon vollkommen unbeeindruckt, gab Severus drei Tropfen Alraunensud in den Kessel und das unheilverkündende Brodeln ebbte ab.
Für einen kurzen Moment huschte ein kaum merkliches Lächeln über die Züge des Tränkemeisters. Erwartungsvoll blickte er den Animagus an. „Was ist? Als nächstes benötige ich den Salzbeiextrakt."
Sirius dunkle Augen funkelten, während er sich ironisch verbeugte. „Zu Befehl, Herr Professor."
Und während einst verfeindete Seelen in den Gewölben von Hogwars ihren Frieden schlossen, fand ein aufgehender Mond Godric Gryffindor und Salazar Slytherin Seite an Seite auf den Zinnen von Hogwarts stehen. Die beiden Gründer beobachteten, wie sich das silberne Licht über die Ländereien ergoss und die Welt in sein ganz eigenes Geheimnis tauchte.
„Es ist immer wieder ein schöner Anblick", sagte Salazar versonnen.
„Und so wird es noch für viele Generationen sein", stimmte ihm sein Bruder zu. Dann runzelte er die Stirn. „Ist das dort unten nicht Savertin?"
Salazar nickte. „Er kehrt gerade von einem nekromantischen Ritual zurück, das er unbedingt vor mir geheim halten wollte."
Godric nickte wissend. „Ich kann gut verstehen, dass er sich von Sanguil verabschieden wollte."
„Natürlich wollte er das", stimmte ihm Salazar zu. Der Gründer Slytherins beobachtete, wie die Gestalt seines Sohnes auf das Schloss zuhielt. „Ich denke, dieses Mal werde ich ein Auge zudrücken. Der Schleier zwischen den Welten wird diese eine Ausnahme schon verkraften."
Godric lächelte. „Das denke ich auch."
Eine Weile schwiegen sie und lauschten dem Wind, der zwischen den Türmen rauschte, während die noch junge Nacht erste Sterne über den Himmel warf.
Dann nahm Godrics Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an. „Was meinst du wäre passiert, wenn wir uns nie erinnert hätten? Wenn wir Harry und Neville geblieben wären?"
„Wer weiß?", sagte Salazar und ließ seinen Blick über die Ländereien schweifen. „Ich bin mir sicher, alles wäre ganz anders gekommen."
Dann zuckten sie gleichzeitig zusammen, als ihnen die Schutzzauber einen missratenen Zaubertrank in den Kerkern meldeten.
„Ist Sirius gerade bei Severus?", wollte Godric wissen.
„Das ist er", sagte Salazar mit einem beunruhigten Unterton.
„Meinst du, wir sollten nach dem Rechten schauen?"
„Bei den beiden? Wer weiß, welches Unheil sie sonst anrichten."
Beide Gründer kehrten der Aussicht den Rücken und machten sich auf den Weg in die Kerker.
Während sie den gewundenen Stufen der Treppe herab folgten, ruhte Godrics Blick forschend auf dem Gesicht seines Bruders. „Bist du zufrieden? So wie die Dinge jetzt sind, meine ich?"
Nachdenklich verlor sich der Blick des Schlangenlords im Zwielicht. „Ein Anfang ist getan. Doch das politische System der magischen Welt verdient kaum diesen Namen. Und es wird viel Zeit und Geduld in Anspruch nehmen, die Gesetze über dunkle Magie und magische Wesen nicht nur auf Papier, sondern in die Herzen der Menschen zu schreiben."
Godric schmunzelte. „Wie hätte ich eine andere Antwort von dir erwarten können?"
Dann legte er Salazar eine Hand auf die Schulter. „Aber auch diese Aufgaben werden wir meistern. Gemeinsam."
„Da bin ich mir sicher." Ein warmes Lächeln erhellte die Züge des Schlangenlords. „Und weißt du ... obwohl noch so viel zu tun ist ... trotz all der Schwierigkeiten, die noch vor uns liegen, war ich selten so glücklich, wie in diesem Moment."
Und während sich eine Familie in den Kerkern zusammenfand, saßen zwei Gryffindor und ein Slytherin in dem neuen Gemeinschaftsraum und tauschten sich über das Erlebte aus. Und während sie flüsternd die Köpfe zusammensteckten, festigte sich eine Freundschaft, die in jener schicksalhaften Nacht entstanden war, als der dunkle Lord endgültig besiegt wurde.
Von dieser Nacht, freilich, hatten die wenigsten in Hogwarts etwas mitbekommen. Für Professor McGonagall, die gerade mit dem Lehrerstab in einer Besprechung saß, war es nur ein Rudel Werwölfe, das die Schule angegriffen hatte. Und sie nickte verstehend, als Dumbledore sie darüber aufklärte, dass die Essenz von Godric Gryffindor noch immer mit den Schutzzubern verknüpft war und ihnen im Kampf beigestanden hatte. Quirinius Quirrel und Ragnuk tauschten, während der Schulleiter sprach, einen Blick, wussten sie doch beide, das mehr an diesem Abend geschehen war, als jemals bekannt sein würde. Und während Remus Lupin sich erfolgreich auf eine Stelle als Auror bewarb, während Poppy Pomfrey die letzten Kratzer und Schürfwunden der Verletzten versorgte, wusste die magische Welt nicht, dass sich etwas Besonderes zugetragen hatte.
Wenn ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt, wie damals, als der Todesfluch die Stirn eines Kleinkindes ritzte, führt das manchmal zu einer großen Revolution. Neues Wissen wird erlangt und neue Erkenntnisse gewonnen. Auch in diesem Fall mag das wohl so gewesen sein. Denn welche Hexe, oder welcher Zauberer bei Verstand, wollte die Leistungen von Harry Potter in Abrede stellen? Ihm war es immerhin zu verdanken, dass der dunkle Lord verschwand und niemals zurückkehrte.
Doch das tatsächliche Ereignis, die eigentliche Wahrheit, blieb verborgen. Und auch, wenn wenige Eingeweihte davon erfuhren, so verschloss doch ein jeder von ihnen die neu gewonnene Erkenntnis stillschweigend in ihren Herzen.
Für die magische Gemeinschaft würde dieses Geheimnis stets eines bleiben.
Und das war auch besser so.
Denn wer hätte die Wahrheit schon geglaubt?
-Ende-Ich danke allen, die mich mit ihren Kommentaren unterstützt und diese Geschichte bereichert haben! Aber auch meinen stillen Lesern möchte ich danken. Erst wenn eine Geschichte gelesen wird, kann sie lebendig werden. Also vielen Dank, dass ihr meinen Charakteren in euren Köpfen Leben eingehaucht habt.
Ich verbleibe mit einer tiefen Verbeugung
Rowanna
DU LIEST GERADE
Harry Potter und die Rückkehr des Schlangenlords
FanfictionABGESCHLOSSEN In dem Moment, als der Todesfluch die Stirn von Harry Potter traf und eine Narbe in die Stirn des Kleinkindes ritzte, geschah noch etwas anderes. In jenem Moment, als die Grenze zwischen Leben und Tod verwischte und die Zeit keinen Nam...