Hermines Kopf dröhnte, als sie zu sich kam. Sie lag auf dem Boden eines nur spärlich erhellten Korridors. Der Stein war kalt und ließ sie frösteln. Wie war sie hierher gekommen? Richtig, sie war auf dem Rückweg von der Krankenstation in die Kerker gewesen. Dann hatte sie aus den Augenwinkeln einen Lichtblitz wahrgenommen. Sie schnappte nach Luft. Jemand hatte einen Stupor auf sie gewirkt! Um sie her waren leise Stimmen zu hören.
"Ob er wirklich kommt?"
"Er war nicht im Gemeinschaftsraum. Er muss zurückkehren. Und es gibt nur diesen Weg in die Kerker.
Ein schadenfrohes Lachen ertönte. "Potter wird sich noch umsehen."
Eine andere, tiefe Stimme antworte. "Potter? Der wird sich nach heute Nacht nie wieder nach irgendetwas umsehen."
Hermine schauderte. Was war damit gemeint? Hatten diese Slytherin tatsächlich vor, Harry zu töten? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Nur...war es zu ernst, um als übler Scherz durchzugehen. Ohne sich zu rühren, lugten sie unter halb geschlossenen Wimpern hervor. Sie konnte die Gestalten von drei älteren Jungen ausmachen. Ohne Schwierigkeiten erkannte sie Marcus Flint, den Captain des Quidditch-Teams von Slytherin. Seine großgewachsene, muskulöse Gestalt und die leicht nach vorne geneigte Haltung waren unverkennbar. Miles Blechtley, auf eine brutale Art gutaussehend, lehnte beinah lässig an der Wand, während Terence Higgs unsicher mit Hermines Zauberstab in seiner Hosentasche spielte. Sie alle lungerten in einem Gang und schienen auf Jemanden -auf Harry- zu warten. Was sollte sie tun? Laut schreien? Versuchen, sich frei zu kämpfen? Was wollten diese Jungen von ihr? Glaubten sie wirklich, dass ihre Anwesenheit eine Auswirkung auf das Geschehen haben würde? Wenn sie Recht hatte und Harry wirklich der war, den sie in ihm vermutete, dann würde er nur lachen, wenn sie versuchten, ihn mit einer Muggelgeborenen zu erpressen. Allerdings hatte sich Harry ihr gegenüber stets freundlich gezeigt. Und er hatte sie mehr als einmal vor Malfoy und seinen Kumpanen beschützt. Hermine wusste gar nichts mehr. Sie sehnte sich in die Geborgenheit des Gemeinschaftsraums, weit fort von diesem Problem. Aber das stand nicht zur Debatte. Sie presste die Lippen zusammen. Sie würde die Situation beobachten und auf ihren Moment warten...und solange...würde sie eben das betäubte Opfer spielen.
Es dauerte nicht lange, bis Schritte zu hören waren. Sie strengte die Ohren an. Da kam mehr als eine Person. Im letzten Moment unterdrückte sie ein erschrockenes Aufkeuchen. Wenn dort wirklich Harry war, dann war das an seiner Seite...Neville! Sie hatte so sehr gehofft, dass sie ihm aus allem heraushalten, dass sie ihn beschützen konnte. Aber wie es aussah, hatte sie nun dazu beigetragen, ihn in Schwierigkeiten zu bringen.
Dann ertönte Flints selbstzufriedene Stimme und bestätigte sie in ihren schlimmsten Vermutungen. „Ah, Potter, da bist du ja endlich. Und wie ich sehe, hast du deinen Squib-Freund mitgebracht."
Fest und voller Autorität hallte Harrys Stimme durch den Korridor, ohne dass er sie erhoben hatte. Unterschwellige Wut...und Sorge war darin zu hören. „Das hier ist zwischen uns, Marcus. Hermine hat nichts damit zu tun."
„Ach nein?", ätzte Flint. „Ist es nicht im Sinne jedes wahren Slytherin, alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen?
Wut glomm in Harrys Augen. "Um solchen Ansichten vorzubeugen, wurden zu Zeit der Gründer Ethik und Moral unterrichtet."
Hermine merkte auf. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Moral...davon weißt du nichts, Potter", spie Flint aus. „Was sagen dir Werte wie Treue oder Tradition? Du hast das Haus von seinen Wurzeln entfernt, ohne zu wissen, was du tust."
„Von seinen Wurzeln entfernt?", nun lag kaltes Amüsement in Harrys Stimme. „Glaube mir, dafür bin ich nicht verantwortlich."
„Schweig!" Der Fünftklässler trat Hermine so fest in die Seite, dass sie alle Beherrschung aufbringen musste, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Etwas Berechnendes trat in seine Stimme. „Mit diesem Schlammblut hier an meiner Seite wirst du mir zuhören, wenn ich Forderungen stelle, nicht wahr?" Er streckte die Hand aus. „Zauberstab her."
Hermine schloss die Augen. Nie im Leben würde Harry seinen Zauberstab für sie aushändigen.
Es tat ihr leid, dass Neville das hier sehen musste. Wie sehr würde er von Harry nach dieser Nacht enttäuscht sein. Für einen Moment erhaschte sie einen Blick auf die beiden Jungen. Sie sah, wie die beiden einen stummen Blick tauschten.
Dann drehte sich Neville um und rannte. Hermine konnte es nicht fassen. Sicher, Neville war ängstlich, aber das hätte sie nicht von ihm gedacht. Letztendlich hatte sie ihn als jemand eingeschätzt, der sich trotz allem für andere einsetzte. Sie konnte nur hoffen, dass er Hilfe holte.
Flint lachte gehässig. „So viel zu deinen sogenannten Freunden. Es scheint so, als wärest du doch nicht so beliebt, wie es immer scheint." Hermine spürte, wie sie ein Zauberstab in die Seite stach. „Aber du wolltest mir gerade deinen Zauberstab aushändigen, nicht wahr?"
Harrys Augen leuchteten mordlüstern, doch er warf seinen Stab in Flints Richtung. Hermine blinzelte ungläubig. Er händigte wirklich seinen Zauberstab aus? Wegen ihr?
"Was nun, Marcus?", fragte Harry kalt. "Willst du uns beide töten? Oder wie denkst du, aus dieser Sache wieder herauszukommen?"
"Das Schlammblut hat mich nicht gesehen", sagte Flint gehässig. "Sie war viel zu beschäftigt damit, durch die Gänge zu hasten. Und was dich betrifft...", seine Stimme nahmen einen hungrigen Ausdruck an. "Er wünscht schon so lange deinen Tod."
"Voldemort?", fragte Harry verächtlich. "Und du führst eilfertig seine Ziele aus? Ohne dich auch nur zu fragen, was er mit diesem Mord bezweckt?"
"Du verstehst gar nichts", entgegnete Flint. Zu Hermines Überraschung lag Bitterkeit in seiner Stimme. "Schon mein Großvater hat unter dem dunklen Lord gedient. Ich kann all das nicht wegwerfen. Du weißt nicht, wie es ist, der Erbe eines Hauses zu sein. Du weißt nicht, welche Verpflichtungen damit einhergehen. Ich kann das Erbe meiner Familie nicht mit Füßen treten."
"Wenn Fehler der Vergangenheit offensichtlich werden, ist es dann nicht wichtig, sich davon zu distanzieren?"
Sind sie denn das? Offensichtlich?", spie Flint aus. "Alles was ich sehe, ist ein Erstklässler der auf Erwachsen tut und gegen den dunklen Lord hetzt."
"Ja, ich gehe gegen die Lügen eines Mannes vor, der eine Magie des reinen Blutes propagiert und selbst ein Halbblut ist! Die These an sich ist schon falsch und braucht nicht noch einen Lügner, der eure Überzeugungen gegen euch verwendet, um dadurch an Macht zu gewinnen!"
Hermine schauderte. So direkt hatte sie noch nie jemanden gegen Du-Weißt-Schon-Wen reden gehört. Dass diese Worte von allen Menschen ausgerechnet von dem kamen, den sie verdächtige, Salazar Slytherin zu sein, gab ihr zu Denken. Doch die Bitterkeit und Traurigkeit, die sie, während er sprach, für einen Augenblick auf seinen Zügen zu erblicken meinte, konnte sie sich nicht erklären.
Flint wurde sichtlich bleich. Dann ballte er die Hände zu Fäusten. "Mitkommen!" bellte er.
Hermine spürte, wie sie ein Zauber in die Luft erhob. Sie tat ihr Bestes, weiterhin bewusstlos zu erscheinen. Flint ging voraus, sein Zauberstab beleuchtete den Weg.
Dann hörte sie eine Stimme in ihren Gedanken. Sie klang fast wie die von Neville...nur älter und selbstsicherer. "Keine Sorge. Ich bin bei dir."
"Neville?", dachte Hermine und fragte sich unweigerlich, ob der Freund sie verstehen konnte.
"Ich stehe neben dir. Ein Desillusionierungszauber hält mich vor den anderen verborgen."
Hermine blinzelte. "Aber du kannst gar keinen Des..."
Sie stockte. Das war gerade wirklich nicht wichtig.
"Hör zu", sagte die Stimme, die wie Neville klang und doch wieder nicht. "Wir warten auf die nächste Abzweigung. Dann löse ich den Schwebezauber und du rennst. Harry und ich folgen dir so schnell wie wir können."
"Ich lasse euch nicht allein!", protestierte Hermine sofort.
Neville wirkte, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. "Dann bleibe hinter mir, in Ordnung?"
Hermine wusste wirklich nicht, welche Gefahr es geben sollte, bei der sie nicht besser vor Neville stand und nicht umgekehrt, aber das sprach sie nicht aus, noch nicht einmal in diesem seltsamen gedanklichen Austausch. Denn die Stimme in ihrem Kopf war mehr als nur Neville. Denn Neville konnte weder einen Schwebezauber brechen, noch beherrschte er einen Desillusionierungszauber. Ihre Gedanken, die sie am Morgen gehegt hatte, kehrten mit aller Macht zu ihr zurück.
"Du...bist gar nicht Neville, oder? Du... bist Godric Gryffindor."
"Der eine Name ist so richtig wie der andere."
Seine Antwort überraschte sie. Doch dabei musste sie es fürs Erste bewenden lassen. Denn Flint hatte sein Ziel offensichtlich erreicht.
Der ältere Junge hielt vor einer Treppenflucht, die tiefer hinab in die Kerker führte. Über ein schmales Geländer konnte man auf das untere Stockwerk herabblicken.
"Was für ein tragischer Unfall", ätzte Flint und zog Hermine näher zu sich heran. "Niemand wird je erfahren, was wirklich geschah."
Harry wurde von Higgs und Blechtley gepackt und zum Rand des Geländers gezerrt. "Wenn der dunkle Lord in neuer Größe wieder aufersteht, wirst du nicht mehr dort sein, um ihm erneut im Weg zu sein."
"Sei vorsichtig, Flint", entgegnete Harry ruhig. "Du lässt es so klingen, als wäre ich tatsächlich eine Bedrohung für ihn."
Der Junge presste die Lippen zusammen.
"Bringt es zu Ende!", rief er in Richtung von Higgs und Blechtley.
Lächelnd sah Harry Flint in die Augen. "Du vergisst eines, Flint. Ich bin der Junge, der lebt."
Dann ließ er sich aus eigener Kraft über die Kante gleiten. Hermine schrie auf.
Neben sich hörte sie Neville leise fluchen.
Sie spürte, wie sich ihr Schwebezauber löste und kam etwas unsanft auf dem Boden auf. Hastig riss sie ihren Zauberstab aus Terence Hosentasche und zog sich in Richtung Treppe zurück. Sie traute sich nicht, in das Stockwerk darunter zu blicken. Die Angst, Harry dort unten mit verrenkten Gliedern liegen zu sehen, war zu groß.
Doch noch während sie auf die Treppe zu hechtete, tauchte Harry wieder in ihrem Blickfeld auf. Er schwebte, von nichts als Luft gehalten, über dem Abgrund.
Und auf seinen Lippen spielte ein raubtierhaftes Lächeln.
Flint taumelte einen Schritt zurück, während Higgs und Blechtley in Panik aufschrien. "Ich...habe deinen Zauberstab", sagte er schwach. "Du kannst nicht..."
"Du willst wissen, was einen wahren Slytherin ausmacht?", fragte Harry. "Er ist seinem Gegner immer einen Schritt voraus." Seine Augen leuchteten unheimlich durch das Zwielicht. Schwerelos kam er hinter dem Geländer auf und schritt den drei älteren Slytherin langsam entgegen. Wortlos richtete er die Hand auf Flints geschlossene Faust. Sein Zauberstab entwand sich dem Griff des älteren Jungen und schwebte zurück zu seinem Eigentümer. Die Fackeln in den Halterungen flackerten, obwohl kein Wind wehte. Hermine schauderte, obwohl sich Harrys Zorn nicht gegen sie richtete.
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Harry Potter und die Rückkehr des Schlangenlords
FanfictionABGESCHLOSSEN In dem Moment, als der Todesfluch die Stirn von Harry Potter traf und eine Narbe in die Stirn des Kleinkindes ritzte, geschah noch etwas anderes. In jenem Moment, als die Grenze zwischen Leben und Tod verwischte und die Zeit keinen Nam...